Gegen die Diktatur der Märkte
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ine andere Welt ist möglich

von Jörg Huffschmid

05/03
 
 
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Die Grundthese, die hier erläutert werden soll, ist die, daß die Herausbildung der modernen Finanzmärkte, ihre Funktionsweise und ihre Bedeutung das Ergebnis einer Strategie sind, mit der die Kapitalbesitzer versuchen, das wesentliche Problem moderner kapitalistischer Systeme zu überwinden. Dieses Problem besteht in der ständigen Produktion eines Kapitalüberschusses, der wegen unzureichender Binnennachfrage nicht mehr rentabel investiert werden kann. Zur Bearbeitung dieses Problems gibt es verschiedene Strategien, die Herausbildung von Finanzmärkten in ihrer heutigen Form ist eine davon, und sie ist eine Strategie, die eng mit einer umfassenden gesellschaftlichen Gegenreform verbunden ist, als deren Ausdruck sich die Diktatur der Märkte präsentiert. Der politische Charakter der Finanzmärkte als ökonomisches Druckmittel zur Durchsetzung dieser Gegenreform verlangt nach einer politischen Gegenbewegung und Alternative. Letztere läuft einerseits darauf hinaus, die Finanzmärkte zu beschränken, zu entschleunigen und zu stabilisieren; andererseits geht sie über den Rahmen der Finanzmärkte hinaus, indem sie diese in eine umfassende alternative Wirtschaftspolitik für Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit einbindet, in der das Problem des Kapitalüberschusses nicht entsteht. In einer solchen Strategie werden die Finanzmärkte auf die Funktionen der Investitionsfinanzierung und langfristigen Vermögensbildung zurückgeführt.

I. Finanzmärkte und Gegenreform

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Die erste These ist eine Erinnerung.

Der moderne Marktfundamentalismus ist selbst noch relativ jung. Er hat sich in den siebziger Jahren herausgebildet und ist in den 80er und 90er Jahren zu Kraft und Blüte gekommen. Er stellt selbst eine Gegenbewegung gegen eine 25 Jahre lang vorherrschende Reformkonstellation dar, die sich nach dem 2. Weltkrieg, und geprägt durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des Weltkrkrieges in allen entwickelten kapitalistischen Ländern herausgebildet hatte.

Zwei wesentliche wirtschaftspolitische Bestandteile der Reformkonstellation:

a. Wirtschaftspolitik für Vollbeschäftigung und

b. Regulierung der Finanzmärkte in dreifacher Hinsicht:

· Strikte Beschränkungen und Aufsicht im Rahmen eines Landes

· Hegemonial-kooperatives Weltwährungssystem (Bretton-Woods-Vereinbarungen)

· Zulässigkeit von Kapitalverkehrsbeschränkungen (Art. VI IWF-Statuten)

Unter den Bedingungen dieser Reformkonstellation - die kein Geschenk war, sondern immer noch hart erkämpft werden mußte - gab es einen erheblichen wirtschaftlichen Fortschritt, der im Nachhinein oft als Kennzeichen des „goldenen Zeitalters" bezeichnet wurde.

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Erschöpfung der Nachkriegsdynamik in den 70er Jahren.

Dabei handelt es sich um ein systemisches Problem entwickelter Länder, die sich durch einen entwickelten Kapitalstock, hohe Gewinne und hohe Einkommen auszeichnen. In solchen Ländern nimmt wegen der hohen Gewinne und des höheren Einkommensniveaus der Teil des Volkseinkommens zu, der von den Empfängern nicht sofort wieder für Konsumausgaben ausgegeben, sondern gespart wird. Damit das Niveau der wirtschaftlichen Tätigkeit zumindest auf gleicher Höhe bleibt, also die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht sinkt, müßte dieses gestiegene Sparen also investiert werden. Die Unternehmen werden jedoch - abgesehen von der sog. Autonomen Investition zur Rationalisierung o.ä. - nur investieren, also ihren Produktionsstock erweitern, wenn sie damit rechnen können, die zusätzliche Produktion, die sie damit herstellen können, auch verkaufen zu können, und zwar zu gewinnbringenden Preisen. Das ist aber bei unzureichender Entwicklung des Konsums nicht der Fall, also nehmen die Investitionen ab, das Wachstum verlangsamt sich, die Arbeitslosigkeit steigt. Das Problem verschärft sich offensichtlich, wenn sich im Laufe der Entwicklung die Einkommensverteilung zugunsten der höheren Einkommensschichten verschiebt, die einen geringeren Teil ihres Einkommens verbrauchen.

Dieses ist das Grundproblem aller entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Es ist nicht neu, und es gibt verschiedene Strategien auf der Unternehmensseite, es zu lösen: Rationalisierung, Unternehmenskonzentration (um auf dem enger gewordenen Markt die eigene Position auszubauen), vor allem Internationalisierung.

Es gibt auch die Möglichkeit, das Problem durch politische Intervention zu lösen, indem der Staat seinerseits durch öffentliche Ausgaben dafür sorgt, daß die gesamtwirtschafliche Nachfragelücke geschlossen wird. Dies war in der Reformzeit vielfach der Fall: Das Problem war einerseits ökonomisch durch hohe Binnennachfrage aufgrund der Nachkriegsnachholbedarf und andererseits durch eine staatliche Politik entschärft, die auf die Stärkung der Binnennachfrage ausgerichtet war.

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Die historische Alternative und ihre Lösung.

Als die autonomen ökonomischen Antriebskräfte nun nachließen stellte sich die Alternative, die ich rückblickend als historische Alternative bezeichnen würde. Es ging darum, entweder die Reform weiterzuführen und die politisch Intervention auszuweiten oder die Reform zurückzunehmen oder abzubrechen. Weiterführung erfordert Konzeption und Kräfte: Konzeption für eine weitergehende Investitionslenkung, gesellschaftliche Rahmenplanung, entschiedenere Rahmensetzung und Ausbau sowie Demokratisierung der internationalen Zusammenarbeit. Diese Konzeption war bei politisch relevanten Kräften nicht da. Daher gab es auch keine politische Mobilisierung.

Stattdessen erfolgte Umkehrung der Prioritäten: Wirtschaft für den Weltmarkt. Nicht Kontrolle der internationalen Konkurrenz, um die Spielräume für nationale und kooperative Wirtschaftspolitik auszuweiten und auszunutzen, sondern umgekehrt: Volle internationale Konkurrenz, Aufgabe der festen Wechselkurse und Übergang zur Währungskonkurrenz, und die Anpassung der nationalen Wirtschaft an die Erfordernisse des Weltmarktes. Internationale Wettbewerbsfähigkeit wird zur obersten Priorität der Wirtschaftspolitik. Das was wir heute als Globalisierung erleben, ist das Ergebnis einer politischen Entscheidung, von der internationalen Kooperation zur internationalen Konkurrenz auf allen Ebenen überzugehen.

Diese Art der Lösung des ökonomischen Problems gab zugleich die Möglichkeit, die gesellschaftliche Reformerfolge wieder zur Disposition zu stellen. Auch dies ist keine Sachautomatik oder ökonomischer Zwang, sondern eine politische Weichenstellung, die auch anders hätte erfolgen können.

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Das gilt auch für die Finanzmärkte,

die eine wesentliche Rolle beim roll back der Reformkonstellation gespielt haben. Ökonomisch handelt es sich um eine weitere Lösungsstrategie gegenüber dem Problem reichlicher Liquidität: die Anlage des nicht produktiv reinvestierbaren Gewinns oder der nicht konsumierten Teile des Einkommens in Finanzpapieren.

Damit war zugleich die alte Keynessche Konzeption eines Überschußsektors, der mehr Geld hat, als er ausgibt und folglich spart und eines Defizitsektors der mehr Geld braucht als er hat und folglich das Ersparte - auf dem Wege über die Banken - absorbiert, hinfällig geworden. Jetzt sparen alle, und alle werden zu Investoren, Finanzinvestoren. Der Finanzmarkt wird von einer Einrichtung zur Unternehmensfinanzierung zu einer Einrichtung des Finanzinvestments.

Diese Einrichtung brauchte aber mehr Freiheit, als die alten Finanzmärkte hatten. Sie wurden daher politisch unterstützt durch die Entscheidung, die nationalen Regulierungen des Finanzsektors zu lockern und die internationalen Beschränkungen des Kapitalverkehrs aufzuheben. Nur unter diesen neuen politischen Rahmenbedingungen konnten sich die Finanzmärkte zu ihrer heutigen Größe und Bedeutung entwickeln.

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Vier wesentliche Kennzeichen der neuen Finanzmärkte:

· Erstens: Die modernen Finanzmärkte haben sich weitgehend von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst, die Finanzierung von Produktion und Reproduktion zu vermitteln. Nicht die Ausgabe von Aktien, Anleihen oder anderen Wertpapieren, sondern der Handel mit bereits bestehenden Wertpapieren ist die zur Hauptfunktion geworden. Nun kann man mit Recht sagen, daß Ausgabe und Handel insofern miteinander zusammenhängen, als die Ausgabe (also der Finanzierungsvorgang) im engeren Sinne nur gelingt, wenn der Käufer von Aktien und Wertpapieren auch davon ausgehen kann, daß er die Papiere wieder verkaufen kann, wenn er Geld braucht. Das ist richtig. Dennoch hat der Handel in den letzten zwei Jahrzehnten dramatisch schneller zugenommen als die Finanzierung. Die Verweildauer von Aktien in den Depots ihrer Besitzer betrug im Jahre 1980 gut 10 Jahre, im Jahre 1998 aber nur noch 11 Monate.

· Das Überwiegen der Handels- gegenüber der Finanzierungsfunktion auf den Finanzmärkten führt zweitens zu Zunahme und schließlich zur Dominanz der Kurzfristigkeit aller Geschäfte. Diese stärkere Kurzfristigkeit hängt damit zusammen, daß die Käufer von Wertpapieren ihren Kauf als Finanzinvestment in zunehmendem Maße unter spekulativen Gesichtspunkten betrachten. Sie erwarten von einer Finanzanlage zunehmend nicht eine langfristige Teilhabe an den Gewinnen eines Produktions- oder Dienstleistungsunternehmens oder sichere Zinseinnahmen von Seiten des Staates, sondern sie wollen von schnell steigenden Preisen ihrer Papiere, also von Kursentwicklungen, profitieren. Die Preise richten sich aber nicht allein, oft nicht einmal in erster Linie nach den langfristigen Ertragserwartungen, sondern nach den Erwartungen anderer Leute über die Preisentwicklung und den entsprechenden hiervon abhängenden Kaufentscheidungen. Es ist dieser spekulative Charakter von Finanzanlagen, der auch zu immer neuen Finanzinstrumenten, zur Überschwemmung der Märkte mit immer neuen Finanzprodukten, sog. Finanzinnovationen führt, die wenn sie überhaupt etwas mit Finanzierung zu tun hatten, sich von diesem Ursprung weitgehend emanzipiert haben und zu reinen Wetten geworden sind. Dies trifft in hohem Maße auf das explosionsartige Wachstum des Derivatgeschäftes zu, das nur noch in verschwindend geringen Maße mit dem Ursprungsmotiv der Risikoabsicherung zu tun hat.

· Die dritte Eigenschaft von modernen Finanzmärkten ist die unbeschränkte und blitzartige Beweglichkeit der Finanzanlagen: Auf der Grundlage der modernen Informations- und Telekommunikationstechnologie können Riesenbeträge in kürzester Zeit und fast kostenlos an beliebige Finanzplätze auf dem ganzen Globus geschickt werden. Wenn es irgendwo Globalisierung gibt, dann auf den Finanzmärkten. Allerdings: Auch hier ist das nicht einfach ein automatischer Prozess. Wenn Geld um den Globus geht, dann gibt es jemanden, der es auf die Reise schickt, und dies mit einer bestimmten Absicht und in einer bestimmten Erwartung tut. Und damit es tatsächlich um den Globus gehen kann, müssen die nationalen Zugangsbarrieren fallen, die Finanzplätze müssen also politisch geöffnet werden. Dies ist keine technische, sondern eine politische Frage. Unbeschränkte Beweglichkeit des Finanzkapitals ist Ergebnis einer politischen Entscheidung, die bis in die 70er Jahre überall bestehenden KVK einzuschränken und abzuschaffen. Die damit geschaffene Exit-Option hat enorme - ich sage nicht unvorhergesehene, denn ich glaube es handelte sich um vorhergesehene und beabsichtigte - Rückwirkungen auf die Politik gehabt. Und sie hat zur Herausbildung einer neuen Gruppe von Akteuren geführt:

· Das vierte, was moderne Finanzmärkte auszeichnet, ist die Entstehung und das Erstarken neuer Akteure auf den Finanzmärkten. Es handelt sich um die sog. Institutionellen Investoren, die neben die Kredit- und Investmentbanken als Hauptakteure auf den Finanzmärkten agieren und ungeheure Geldmengen verwalten. Nach einer Untersuchung der BIZ verfügten die Institutionellen Anleger Mitte der 90er Jahre über 22 Billionen US$. Als geradezu bescheidene Untergruppe figurieren die Hedge Fonds, die vielleicht über 1,5% dieser Summe verfügten. Diese neuen Akteure sind keine Hausbanken, sie sitzen auch nicht - oder nur in seltenen Fällen - in Aufsichtsräten. Sie sind vielfach nicht an der langfristigen Entwicklung der Unternehmen interessiert, deren Aktien sie kaufen, sondern - im Interesse derer, deren Vermögen sie verwalten, an einer kurzfristigen Kurssteigerung. Die Macht der Banken, aus der sich Unternehmen zu befreien glaubten, indem sie Geld direkt auf den Kapitalmärkten aufnehmen, wird durch die Macht der institutionellen Anleger abgelöst, und sie wird potenziert, wenn herauskommt, daß die Gesellschaften, die die großen Investmentfonds verwalten, vielfach den großen Banken gehören. Die Disintermetiation ist durch eine neue Re-Intermediation abgelöst worden.

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Konsequenzen: Herrschaft der Finanzmärkte

· Unternehmensleitungen, die externe Finanzierung über die Ausgabe von Aktien oder Anleihen betreiben wollen, müssen sich vor allem um den Börsenwert ihres Unternehmens kümmern, denn daran sind die institutionellen Anleger in erster Linie interessiert. Der Vorrang des shareholder value kann jedoch leicht dazu führen, daß langfristige strategische Überlegungen und Entscheidungen vernachlässigt werden. Diese Orientierung greift auch auf Unternehmen über, die sich über Bankkredite finanzieren; sie wird zum allgemeinen Beurteilungsmaßstab für die Bonität von Unternehmen überhaupt.

· Regierungen müssen ihre Wirtschaftspolitik so anlegen, daß sie das Wohlgefallen der Finanzmärkte findet, d.h. daß die institutionellen Investoren ihr Kapital nicht aus dem Land abziehen und anderswo anlegen. Die Exit-Option, die dem Kapital seit der Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs offensteht, ist ein enormes Druckpotential, das die Regierungen zwingt, den Interessen der Finanzanleger zu folgen. Diese richten sich aber in erster Linie auf die Stabilität des Geldwertes und auf relativ hohe Zinsen. Der Kampf gegen die Inflation wird so zum alles überragenden wirtschaftspolitischen Ziel, dem die Orientierung auf mehr Beschäftigung, höhere Realeinkommen und ausreichende soziale Sicherheit untergeordnet werden. Der fundamentalistische Kampf gegen die Inflation führt aber zu Wachstumsschwäche und hoher Arbeitslosigkeit. Der wesentlich unter dem Druck der Finanzmärkte zustande gekommene wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel hat daher zwar die Inflationsrate in den OECD-Ländern auf vernachlässigbare Größen heruntergedrückt, auf der anderen Seite aber insbesondere in Europa die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhen getrieben und maßgeblich zur zunehmenden sozialen Polarisierung beigetragen.

· Seit der Liberalisierung der Finanzmärkte hat die Zahl und die Intensität von Finanzkrisen wieder zugenommen, die vielfach internationale Dimensionen annahmen: Anfang der 80er Jahre die lateinamerikanische Schuldenkrise, 1987 der Börsenkrach in New York; 1992/93 die Krise des Europäischen Währungssystems, 1994/5 die Mexikokrise, 1997 Asienkrise, 1998 Rußland, 1999 Brasilien. Die Krisen seit Mitte der 90er Jahre haben vergleichsweise geringe Rückwirkungen auf die großen Zentren gehabt, von denen sie ausgegangen sind. Für die betroffenen Länder in Asien und Lateinamerika aber haben sie maßgeblich zur drastischen Verschlechterung der sozialen Situation beigetragen und das Niveau der Schulden und - wegen der massiven Abwertung, die trotz des neuerlichen Börsenaufschwungs anhält - des Schuldendienstes erheblich erhöht.

· Die zunehmende Rolle der Finanzmärkte ist aber nicht nur ein ökonomisches und soziales Problem, sondern hat auch erhebliche politische Konsequenzen. Sie drängt fortschrittliche gesellschaftliche Ansprüche und Kräfte in die Defensive und ist somit ein geeigneter Hintergrund - und ein brauchbares Instrument - für eine allgemeine gesellschaftliche Gegenreform, die sich gegen die System der sozialen Sicherheit, gegen internationalen Ausgleich, breitere Demokratie und Mitbestimmung in Wirtschaft und Gesellschaft richtet. Die Herrschaft der Finanzmärkte wird begleitet von zunehmend autoritären Strukturen und Verhaltensweisen nach innen und zunehmend aggressivem Auftreten von Unternehmen und Regierungen nach außen. Der frühere Anspruch auf inneren Ausgleich und internationale Zusammenarbeit zurückgedrängt wird zunehmend durch Polarisierung, Destabilisierung und Aggressivität abgelöst.

II. Eine andere Welt ist möglich

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Gegen diese Diktatur der (Finanz)märkte

haben sich aber auch Kritik und Widerstand entwickelt: Demonstrationen, Protest, Abwahl konservativer Regierungen. Die Wucht der Asienkrise und die Furcht davor, daß sie massiv auf die Zentren zurückwirken würde, haben auch in den Zentren zu der Forderung nach einer stärkeren Kontrolle der Finanzmärkte, nach einer neuen internationalen Finanzarchitektur geführt. Allerdings muß man auch nüchtern feststellen: Mittlerweile ist die Asienkrise vorbei und es hat sich gezeigt, daß die Folgen nur für die betroffenen Länder, nicht aber für die Zentren dramatisch waren, wo das Kapital herkam. Entsprechend sind auch die Rufe nach einer Reform des Finanzsystems weitgehend verstummt, und entsprechende Vorhaben in exklusiven Gremien (wie dem Forum für Finanzstabilität) vergraben worden.

Die beiden letzen Jahre zeigen auch, daß die Abwahl von Regierungen und ihr Ersatz von neuen Amtsinhabern nicht genügt, um eine neue Politik herbeizuführen, sondern daß die Bewegung nur erfolgreich sein kann, wenn sie nicht nachläßt. Die öffentliche Diskussion unter Einschluß derer, die die Folgen entfesselter Finanzmärkte zu tragen haben, ist aber dringend notwendig. Daher attac.

Veränderung braucht Bewegung, aber Bewegung braucht auch Alternativen. Wer unzufrieden ist, aber keine Alternativen sieht, wird nicht aktiv werden, und er wird vor allem andere nicht überzeugen. Im folgenden Richtung und Ansatzpunkte der Alternativen:

Beschränkung, Entschleunigung, Stabilisierung.

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Es geht erstens um die Beschränkung

der Spekulation und riskanter Geschäfte durch Verschärfung der Finanzaufsicht: Dabei ist es nicht mit Transparenz getan, weil nicht die mangelnde Transparenz , sondern die grenzenlose Gier hinter Spekulationsgeschäften steckt. Es geht also darum, diese Gier selbst anzugreifen und wirksame Maßnahmen dagegen zu ergreifen, daß sie ganze Sektoren und Länder durch riskante und spekulative Kredit- und Wertpapiergeschäfte in Mitleidenschaft gezogen werden. Hierzu gibt es eine Reihe von Instrumenten:

· Verschärfung der Eigenkapitalvorschriften (etwa für kurzfristige Auslandskredite)

· Einbindung der Gläubiger in die Schuldenregulierung

· Verbot von Krediten an Hedgefonds oder Schuldner in offshore-Zentren, oder von Geschäften mit offshore-Zentren überhaupt

· Starke Beschränkung von Derivatgeschäften und ihre Verlagerung auf kontrollierte Börsen(also Abschaffung von OTC Geschäften)

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Es geht zweitens um Entschleunigung

von Kapitalbewegungen durch Diskriminierung kurzfristiger Kapitalflüsse. Vier Gruppen von Maßnahmen:

· Da ist erstens die Börsenumsatzsteuer, die den Ersterwerb von Wertpapieren freistellt und den Handel (evtl. nach Fristen gestaffelt) erfaßt (in einigen Ländern gibt es BöUmsst.) Zweitens gibt es die

· Tobinsteuer, die gut gegen Zinsarbitrage und maßvolle Währungsspekulation ist, allerdings bei massiver Fundamentalspekulation versagen muß. Wirksamer ist das schon drittens die

· Bardepotpflicht, wie die chilenische Regierung sie bis vor kurzem praktizierte, bei der Finanzinvestoren zusätzlich zu dem investierten Betrag ein zinsloses Bardepot bei der Zentralbank zu hinterlegen hatten, das sie erst dann zurückerhalten, wenn ihre ursprüngliche Investition eine gewisse Mindestfrist im Land geblieben war. Schließlich gibt es viertens auch das Mittel der

· administrativen Kapitalverkehrskontrollen, wie China sie mit gutem Erfolg praktizieren und Malaysia sie im letzten Jahr eingeführt hat. Kapitalverkehrsbeschränkungen sind in den OECD Ländern zwar abgeschafft, aber wer sich den entsprechenden Kodex anschaut, wird feststellen, daß es eine außerordentlich große Zahl von Ausnahmen gibt. Und selbst der Artikel 56 des EG-Vertrages, der alle Arten von Kapitalverkehrsbeschränkungen abschafft, wird von drei Artikeln gefolgt, die sie für eine Reihe von Situationen und Zwecken wieder möglich machen.

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Drittens geht es um eine Stabilisierung von Wechselkursen,

die wesentlich für die Entwicklung des Welthandels und insbesondere der Entwicklungsländer ist. Zwar geht es inzwischen wieder aufwärts mit der Produktion in den asiatischen Krisenländern. Die dauerhafte Abwertung ihrer Währungen um rund 25% und mehr hat jedoch dazu geführt, daß die Menschen in diesen Ländern jetzt im Durchschnitt ein Viertel länger arbeiten müssen als vorher, um die Zinsen für die in Dollar lautenden Schulden zu bezahlen. Abwertung unter den Bedingungen hoher Auslandsverschuldung in Auslandswährung - die typische Situation der meisten Entwicklungsländer - ist ein enormer Vermögenstransfer von Sud nach Nord. Währungsstabilisierung kann unterschiedliche Formen annehmen:

· Neuauflage eines globalen Weltwährungssystems, das zudem nicht an eine nationale Währung gekoppelt wäre, sondern bei dem eine Welt-Kunstwährung durch die Gemeinschaft aller Staaten ausgegeben würde. Das ist ein weit entferntes Idealbild.

· Weniger weit geh die Vorstellung von der Stabilisierung der großen Weltwährungen durch Wechselkurszielzonen die durch Interventionen der Zentralbanken gewährleistet werden. Auch dies setzt aber eine sehr hohe Kooperationsbereitschaft voraus, die gegenwärtig nicht gegeben ist, nachdem der EURO jetzt auf der Bühne der Weltwährungen aufgetreten ist und Ansprüche erhebt. Möglich erscheint dagegen eine ad-hoc Stabilisierung durch kooperative Marktintervention zur Verhinderung extremer Schwankungen.

· Die immer noch ehrgeizige, aber unter den gegenwärtigen Umständen wohl realistischste Politik wäre die regionale Währungsstabilisierung in den großen Blöcken, nach dem Muster des EWS. Dabei müßten sich diese Blöcke jedoch gleichzeitig durch Tobinsteuern oder Bardepots oder KVK gegen spekulative Attacken schützen.

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Vorschläge dieser Art treffen immer wieder auf das Gegenargument, daß sie, selbst angenommen, sie seien vernünftig und wünschenswert, aber doch nicht durchsetzbar seien, oder was auf dasselbe hinausläuft, sie seien nur in umfassender globaler Kooperation durchsetzbar. Da es hierfür aber keinerlei Bereitschaft und Basis gäbe, handele es sich um liebenswerte Träumereien, denn das Kapital könne sich jeder Maßnahme, die seinen Interessen zuwider laufe, sofort durch Kapitalflucht entziehen.

Das leuchtet ein, wenn man von Kleinstaaten spricht, und selbst die können sich noch schützen, wie der Fall Malaysia zeigt. Bei großen Staaten, die den USA, aber auch Deutschland, Frankreich, England und erst recht der EU ist das aber ganz unsinnig. Auch da stimmt das Argument freilich, wenn keine politischen Schritte unternommen werden, die Unterminierung und Sabotage von Seiten des Finanzkapitals zu verhindern.

Kapitalflucht kann verhindert werden:

· Es gibt Mittel, Kapitalbewegungen zu erfassen und entsprechend zu besteuern, zu kontrollieren oder zu beschränken.

· Offshore-Zentren können kontrolliert bzw. isoliert werden. Letztlich muß das Kapital, wenn es nicht nur fiktiver Vermögensanspruch, sondern realer Vermögensanspruch sein will, dahin zurück, wo das reale Vermögen ist und produziert wird, d.h. in die Zentren des Kapitalismus.

· Es kann auch nicht alles Kapital in die USA, weil da schon so viel ist. Es gibt keine Situation der Kapitalknappheit, sondern eine des Kapitalüberflusses.

· Umgehung und Unterlaufen. Das gibt es immer. Das führt dazu, daß die Kontrollen nicht hundertprozentig funktionieren, macht sie aber deshalb nicht überflüssig, genauso wenig wie Verkehrszeichen dadurch überflüssig werden, daß einige sie übertreten. Die Kapitalverkehrskontrollen von Bretton Woods haben funktioniert und die Rahmenbedingungen für eine stabile Weltwirtschaft geschaffen, obwohl immer mal wieder dagegen verstoßen worden ist. Das gleiche gilt für China, ein Land mit lückenlosen Kapitalverkehrskontrollen, mit denen das Land ausgesprochen gut fährt - obgleich es immer wieder erhebliche Verstöße gibt.

· Es handelt sich also nicht um ein Problem der mangelnden Machbarkeit, sondern um ein Problem der mangelnden politischen Entschlossenheit, die fälligen Kontrollen auch tatsächlich durchzuführen. Kontrolle der Finanzmärkte wird, wenn sie denn wirksam ist, dem Finanzsektor, den institutionellen Anlegern, den großen Vermögensbesitzern auf die Füße treten. Das ist kein Argument gegen derartige Reformen, wohl aber ein Hinweis auf die großen Anstrengungen, die erforderlich sind, um sie durchzusetzen.

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Ein letzten Endes viel gewichtigerer Einwand gegenüber den vorgeschlagenen Maßnahmen zur Beschränkung, Entschleunigung und Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte läuft darauf hinaus, daß sie am Symptom kurieren und die Wurzel des Übels nicht zu fassen kriegen. Dieses Argument trifft zu, ist aber auch kein Argument gegen diesen Stabilisierungsdreischritt. Es ist vielmehr ein Argument dagegen, es dabei bewenden zu lassen. Eine langfristige Stabilisierung der Finanzmärkte erfordert eine Politik, die über die Finanzmärkte hinausgeht. Denn alles das, was bisher gefordert wurde, läuft ja nur darauf hinaus, zu verhindern, daß der Kapitalüberschuß, der in der materiellen Reproduktion entsteht und nicht produktiv in der Wirtschaft recycelt wird, sich auf den Finanzmärkten austobt, Spekulationswellen produziert, Unternehmen und Wirtschaftspolitik unter Druck setzt und letztlich doch immer wieder kleine und große Finanzkrisen provoziert. Angenommen, eine solche Reform gelingt tatsächlich. Was passiert denn dann mit dem Kapitalüberschuß ? Ich bin sicher, er wird neue Wege finden., und die werden, wenn sie nicht gesellschaftlich kontrolliert werden, an neuen Stellen zu Schäden führen.

Es kommt also darauf an, nicht nur zu verhindern, daß vagabundierende Kapitalüberschüsse großen Schaden anrichten, sondern dafür zu sorgen, daß sie erst gar nicht entstehen, nicht Schadensbegrenzung, sondern Schadensverhinderung zu betreiben.

Das aber bedeutet, auf eine andere Wirtschaftspolitik zu setzen, die auf die Entwicklung der produktiven Fähigkeiten orientiert, auf eine Einkommensverteilung, die die Kaufkraft der großen Masse stärkt, was höhere Löhne erfordert, das System der sozialen Sicherheit ausbaut, die Wirtschaft umweltverträglich umbaut und zur Finanzierung dieser Politik die Einkommen und Vermögen heranzieht, die ansonsten mangels produktiver Verwendung die Finanzmärkte unsicher macht.

In einer solchen Wirtschaftspolitik sind Finanzmärkte nicht überflüssig oder diskriminiert. Als überflüssig diskriminiert werden nur die Entwicklungen und Exzesse der Finanzmärkte, die der Spekulation, der kurzfristigen Schnäppchenjagd dienen und die Stabilität der übrigen Wirtschaft schaden. Die Finanzmärkte werden in einer anderen Wirtschaftspolitik wieder zurückgeholt aus ihrer verrückten Verselbständigung, sie werden wieder eingebettet in den Prozess der materiellen Produktion, als Einrichtungen, die der Finanzierung dieser Reproduktion auf der einen Seite und auf der anderen Seite der langfristigen Vermögensbildung dienen. Das klingt vernünftig und ist es auch. Aber diese Vernunft muß gegen die Interessen, den Widerstand und die Macht derer durchgesetzt werden, die von der herrschenden Unvernunft profitieren.

Es kommt darauf an, die Verhältnisse wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nicht die Gesellschaft hat den Märkten zu dienen, sondern die Märkte der Gesellschaft. Das ist einfacher gesagt als getan. Getan werden muß es trotzdem

 

Editorische Anmerkungen
Der Autor vertrat seine 12 Thesen bei einer Veranstaltung von attac am 10.12.1999 in Zürich. Die Datei ist eine Spiegelung des Google-Archivs.