Vernunft und
Geschichte bei Marx


von
Wolfgang Pohrt, 1978
05/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Wenn ich grob einschätzen sollte, wie sich das Verhältnis von  Vernunft und Geschichte bei Marx darstellt, würde ich folgendes  sagen: Das Kapitalverhältnis gilt Marx als notwendiges Übel,  weil ohne seine Errungenschaften offenbar kein Verein freier  Menschen möglich ist.  

Wo Marx diese Errungenschaften erwähnt, tut er dies an den  grossartigsten Stellen mit feiner Zurückhaltung: "Es ist gesagt  worden und mag gesagt werden ... " (Ro/ 97) oder er benutzt die  englische Sprache. Dass kein Weg am Kapitalverhältnis  vorbeigeführt hat, ist zwar zum Verzweifeln idiotisch und in  letzter Konsequenz so unbegreiflich wie die Geschichte  insgesamt, aber es ist eben so.  

Erst unter der Fuchtel des Wertgesetzes fingen die Menschen an,  allgemeinen Reichtum zu produzieren. Dass sie diesen allgemeinen  Reichtum nicht immer schon besessen haben, bleibt für immer  unverständlich, und nur die Religionen haben durch ihren  Schwindel diesen ärgerlichen Blödsinn gerechtfertigt und  begründet.  

Dass schliesslich kein vernünftigeres Produktionsverhältnis als  ausgerechnet das terroristische, menschenverwüstende Kapital die  Menschen zur Produktion der materiellen Basis eines Vereins  freier Produzenten getrieben hat, ist wiederum eine bittere  Tatsache, die man zwar konstatieren muss, aber doch eigentlich  schlecht begreifen kann. Ich würde deshalb nicht von  weltgeschichtlich unvermeidbaren Dingen sprechen, denn diese  Redeweise setzt eine in der Geschichte waltende Vernunft voraus,  die fast an Vorsehung grenzt.  

Das Kapital vorausgesetzt, müssen wir beispielsweise die so genannte ursprüngliche Akkumulation als einen unvermeidbaren  Vorgang begreifen. Das Kapital selbst aber ist weltgeschichtlich  so wenig unvermeidbar wie es sich logisch aus seinen  Voraussetzungen nicht erklären lässt. Der berühmte Satz, dass der  Schlüssel zur Anatomie des Affen die Anatomie des Menschen sei,  ist auch so zu verstehen, dass die Anatomie des Affen eben eine  andere wäre, wenn es keine oder andere Menschen gäbe, und dieser  Satz ist vor allem so zu verstehen, dass die Anatomie des  Menschen sich nicht logisch aus der Anatomie des Affen ableiten  lässt.  

Man kann also zwar zeigen, dass ein früherer Zustand die  Voraussetzung eines späteren gewesen ist, aber man kann deshalb  nicht sagen, dass sich aus dem früheren Zustand zwangsläufig der  spätere hat entwickeln müssen, mehr noch: Der frühere Zustand  ist keineswegs die unumstössliche Basis der späteren Entwicklung,  sondern ein von der späteren Entwicklung geprägtes Konstrukt,  d.h. der Ursprung und der Verlauf der Geschichte ist immer durch  ihr gegenwärtiges Resultat vermittelt. Dass die Erkenntnis der Menschen stets eine spezifische  historische ist, ergibt nur dann einen Sinn, wenn die Geschichte  kein konsequent logischer Prozess ist, der sich nach immanenten,  stets gleichbleibenden Gesetzen entwickelt. Wenn man die  Geschichte unter die Bestimmungen der Vernunft setzt, darf man  nicht vergessen, dass weder die Geschichte noch ihr  Ausgangspunkt, also die Natur, jemals vernünftig waren. Sie  können dies schon insofern nicht gewesen sein, als die Vernunft  etwas erst spät in der Geschichte Entstandenes ist, und also von  den entlegenen Epochen, die begriffen werden sollen, sehr  verschieden.  

Selbst dieser Satz setzt allerdings die historische Vernunft  schon voraus, und er kann nur gedacht und ausgesprochen werden,  wenn sich durch ihrerseits unverständliche geschichtliche  Zufälle eine Ahnung von historischer Vernunft, und das heisst  immer auch: vernünftiger Historie gebildet hat. Der vernunftlose  Zufall in der Geschichte wird gerade an ihren Brüchen offenbar.  Zwischen dem Kapital und den vorangegangenen  Gesellschaftsformationen gibt es zum Beispiel im strengen Sinn  keine Kontinuität. Warum das Kapitalverhältnis sich ausgerechnet  im Europa des siebzehnten Jahrhunderts bildete, kann man nicht  erklären. Die Voraussetzungen wären vielleicht auch anderswo und  früher gegeben gewesen, und alle Voraussetzungen zusammen machen  noch kein Kapital, insofern dieses etwas von seinen  nichtkapitalistischen Voraussetzungen wesentlich Verschiedenes  ist. Das Kapitalverhältnis ist gerade nicht reduzierbar auf eine  Konstellation nichtkapitalistischer Faktoren, und eine  vermutlich beliebig verlängerbare Liste von Voraussetzungen  aller Art würde niemals den stringenten Begründungszusammenhang  darstellen, der später das Kapital, unter der Voraussetzung, dass  es schon existiert, bestimmt. Die Entstehung des  Kapitalverhältnisses, und das heisst: Die Entstehung von Vernunft  in der Geschichte gehorcht also keiner geschichtlichen Logik,  und dieses Schandmal aller historischen Vernunft, diesen Makel  ihrer erbärmlichen Herkunft, hat Marx stets im Auge behalten,  insofern er unerbittlich darauf bestand, das Kapital logisch aus  seinen Gesetzen, und nicht historisch aus seinen  Entstehungsbedingungen zu begreifen.  

Im Gegensatz zu Engels hat er der Versuchung widerstanden, die  Kritik der politischen Ökonomie in eine Geschichtsschreibung von  fataler Plausibilität umzumünzen, eine Geschichtssehreibung, die  mit dem allwissenden Erzähler auch die allwissende Vorsehung  voraussetzt, eine Geschichtsschreibung, in der die sperrigen,  spröden, furchtbaren, aller Vernunft spottenden Momente kassiert  sind, weil sie stets nur als in weiser Voraussicht geplante  Entwicklungsstufen der Menschheit erscheinen.  

Wo das Kapitalverhältnis also herkommt, lässt sich nicht sagen,  aber wenn es einmal da ist, wird die Geschichte für einen  Augenblick logisch - freilich nur im Hinblick auf einen Zweck,  der das Kapital bereits transzendiert. Genauer: Die Existenz des  Kapitals eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte unter die  Bestimmung der Vernunft zu setzen. Ob diese Möglichkeit von den  Menschen wahrgenommen wird, ist dann allerdings keine logische,  sondern eine praktische Frage. Wenn auf das Kapitalverhältnis  ein Verein freier Menschen folgt, ist es ein Fortschritt  gewesen. Wenn auf das Kapitalverhältnis der Atomkrieg folgt,  wird man es, als Vorstufe dieses Atomkriegs, hingegen kaum als  Fortschritt bezeichnen können. Ohne den Begriff des Fortschritts  aber ist es unmöglich, von Logik in der Geschichte zu sprechen.  Nur wenn man einen Ursprung und ein Ziel schon voraussetzt,  stellt sich Geschichte überhaupt als ein Prozess mit  unterscheidbaren, nämlich in Relation zum Ursprung und zum Ende  verschiedenen Entwicklungsstufen dar, und die Unterscheidung  verschiedener Entwicklungsstufen ist die erste Voraussetzung,  deren zeitliche Abfolge in einen logisch zwingenden Zusammenhang  zu bringen. Logik und Teleologie hängen hier offenbar eng  zusammen.  

Logik ist immer zwar die Sache, aber die Sache, gesetzt unter  die Bestimmung des Subjekts. Die Natur ist zwar kein  Menschenwerk, die Naturgesetze aber sind dies immer. Die  logischen Zwänge setzen also immer ein frei oder willkürlich  Zwecke setzendes Subjekt voraus. Nur wenn ich der Natur mit  einem bestimmten und von der Natur verschiedenen Willen  entgegentrete, erfahre ich am Widerstand, den sie gegen meinen  Willen leistet, ihre eigene Gesetzmässigkeit.* Der verrückte  Eigenwille zum Beispiel, mitten im Winter unbedingt Erdbeeren  essen zu wollen, ist die Voraussetzung für die Erkenntnis, dass  diese nur im Frühsommer zu haben sind. Ein Bär hingegen, der  Winterschlaf hält und ähnlichen Gesetzen unterworfen ist wie die  Erdbeeren, würde von diesen Gesetzen nichts merken.  

Die zwingende Logik des Wertgesetzes erlaubt daher Rückschlüsse  auf die Existenz eines Subjekts, und zwar eines Subjekts,  welches nicht einfach nur der Natur, sondern dem  gesellschaftlichen Leben der Menschen selber als Subjekt  gegenübersteht. Damit sind die Menschen einerseits das die Logik  des Wertgesetzes konstituierende Subjekt, andererseits die eben  der von ihnen selbst konstituierten Logik unterworfene Sache. Es  ist dies ein Widerspruch, der genau in dem Moment auftaucht, wo  die Gesetzmässigkeit des gesellschaftlichen Lebens der Menschen  als wesentlich erkannt wird, der folglich schon in Montesquieus  Buch "Vom Geist der Gesetze" zu finden ist und dort zur bloss graduellen Differenz neutralisiert wird. Montesquieu versucht,  die Freiheit zu retten, indem er beschwichtigend sagt, die  Gesetze des gesellschaftlichen Lebens der Menschen seien nicht  so unbedingt, so perfekt wie die Naturgesetze. Anders verfährt  Marx. Er nimmt den Anspruch der politischen Ökonomie,  Wissenschaft zu sein, ernst, und vor genau dieser  Ernsthaftigkeit wird der Anspruch zunichte. Die Logik der  politischen Ökonomie bleibt stets partiell und partikular, ihrem  Anspruch, den ganzen gesellschaftlichen Lebensprozess der  Menschen zu erklären, kann sie nicht genügen. An ihrem eigenen  Anspruch gemessen, erweist sich die Logik der politischen  Ökonomie als lückenhaft und widersprüchlich, und das Subjekt,  worauf diese Logik Rückschlüsse erlaubt, entpuppt sich als  Aufziehpuppe, als bewusstloser Automat. Marx kann also zeigen,  dass die Logik der politischen Ökonomie unter den Prämissen,  unter denen sie denken muss, scheitert, und er tut dies mit  nervtötender Akribie.  

Die Prämissen aber, die für das Scheitern der politischen  Ökonomie verantwortlich sind, sind selbst keine logischen,  sondern ganz reale. Eben deshalb hält Marx keine  wissenschaftliche, sondern eine wirkliche Revolution für nötig,  und diese vorweggenommene wirkliche Revolution ist eine Prämisse  des Marxschen Denkens. An dieser Stelle gesellt sich  gewissermassen zu Marx, dem nimmermüden, pedantischen Tüftler,  der sich über Seiten hinweg in chaotische Rechenoperationen  verstrickt und sie am Ende mit "lassen wir das" kommentiert - da  gesellt sich also zu Marx, dem penetranten Wissenschaftler sein  Zwillingsbruder, nämlich Marx als revolutionäres  Schreibtischsubjekt. Das Kapital als Vorstufe zu einem Verein  freier Produzenten betrachtet, also diesen Verein freier  Produzenten vorausgesetzt, werden die Lücken und Widersprüche  der politischen Ökonomie begreiflich, und der Widerspruch von  Freiheit und Notwendigkeit im gesellschaftlichen Leben der  Menschen, eine der zentralen Aporien bürgerlichen Denkens, löst  sich materialistisch gewendet dahin auf, dass die freien  Produzenten das Wenige, was zu tun sie noch gezwungen wären,  sehr wohl in freier Übereinkunft regeln könnten und keines über  ihnen schwebenden gesetzmässigen Zusammenhanges mehr bedürften.  Die Voraussetzung dieser theoretischen Auflösung der  Widersprüche der politischen Ökonomie ist aber so wenig eine  logische, wie zuvor die Unfähigkeit zur Auflösung dieser  Widersprüche nicht logisch, sondern real begründet war. Man muss  das Kapital vielmehr abschaffen wollen, wenn man es begreifen  will, und dieser Wille, das Kapital abzuschaffen, hat  seinerseits aussertheoretische Gründe. Über die Kontinuität  zwischen politischer Ökonomie und Kritik der politischen  Ökonomie ist hier wieder der Bruch nicht zu vergessen, und als  Bruch ist hier zu verstehen der Entschluss des revolutionären  Schreibtischsubjekts, sich mit keinen Verhältnissen abfinden zu  wollen, welche den Menschen unterdrücken, ausbeuten, quälen,  verdummen, entmündigen. Mit diesem revolutionären Entschluss  hatte nun der Wissenschaftler Marx insofern Glück, als dieser  Entschluss die aussertheoretische Prämisse zur Klärung von  Ungereimtheiten in der politischen Ökonomie war. Ungereimtheiten  allerdings, an denen das offizielle Interesse schon längst  vorübergegangen war, weshalb Marx auch nie Professor wurde.  

Zwar ist das Kapital nur begreiflich, wenn man es abschaffen  will, aber wenn man es abschaffen will, ist es immerhin  tatsächlich zu begreifen. Eben dies würde ich von der  Entwicklung seit meinetwegen 1870 nicht behaupten. Warum diese  Entwicklung, zwei Weltkriege und der Faschismus inklusive, als  Voraussetzung für einen Verein freier Menschen notwendig wäre,  wüsste ich nicht zu sagen. Dies scheint mir der Grund für das  Auseinanderbrechen der Einheit von Wissenschaft und  Revolutionstheorie zu sein, die freilich, wie ich auszuführen  versuchte, schon bei Marx keine, also noch niemals eine  bruchlose war. Aber immerhin arbeitete Marx unter Verhältnissen,  die sich in einer Theorie ausdrückten, der das erlösende Wort  fast schon auf der Zunge lag, unter Verhältnissen, wo so etwas  wie ein Verein freier Produzenten am Horizont erahnbar wurde,  weil tatsächlich um ihre Emanzipation kämpfende Menschen in  ihrem Kampf dessen Ziele teilweise schon antizipierten. In  solchen Situationen finden Vernunft und Geschichte ausnahmsweise  für einen Augenblick zueinander, ist die Revolution vernünftig  und die Theorie revolutionär - mit wesentlichen Einschränkungen,  die ich nun kurz entwickeln will.  

Den Verein freier Produzenten schon vorausgesetzt - so wurde  bisher argumentiert - wird das Kapitalverhältnis logisch. Diese  Voraussetzung und also die sich auf sie gründende Logik tritt  aber solange in Widerspruch zur Realität, wie die Revolution  noch nicht stattgefunden hat, der Wille des erkennenden  Subjekts, welcher Voraussetzung seiner Erkenntnis, noch nicht  verwirklicht ist. Logik - so wurde gesagt - ist die Sache,  gesetzt unter die Bestimmungen des Subjekts. Solange die Sache  also nicht wirklich unter die Bestimmungen des Subjekts gesetzt  ist, bleibt die Logik widersprüchlich oder Wahn. Die  Widersprüche, die immer ein der Realität widersprechendes  Subjekt voraussetzen, ein Subjekt, welches die Realität unter  von ihr selbst verschiedene Bestimmungen setzt - diese  Widersprüche also dröselt Marx mit zermürbender Akribie auf.  Marx kann zeigen, dass die Logik des Kapitals an inneren  Widersprüchen zerbrechen wird - wobei Voraussetzung dieser Logik  freilich wieder die vorausgesetzte Revolution ist. Wenn auf das  Kapital nicht der Verein freier Produzenten folgt, zerbricht  eigentlich nichts, sondern es bleibt alles beim alten. Die  grossartige Vernunft, unter welche Marx das Kapitalverhältnis  setzt, resultiert nämlich aus dem greifbar gewordenen Telos der  endgültigen Befreiung der Menschheit, nur in Bezug auf diesen  ihren letzten Zweck kann man Vernunft und Widersinn in der  Geschichte unterscheiden. Nicht weniger als die profane Arbeit  hat die historische Arbeit zur Bedingung, dass der Produzent das  Produkt schon im Kopf hatte, bevor er Hand anlegte. Und ebenso  wie die profane Arbeit ist die historische Arbeit stets mit dem  Risiko behaftet, zu misslingen. Wenn aus dem im Kopf  antizipierten Produkt schliesslich kein wirkliches wird und dies  weiss man vorher nie mit letzter Sicherheit - dann war alle Mühe  vertan.  

Folgt also auf das Kapital nicht der Verein freier Produzenten,  so ist es auch kein historischer Fortschritt gewesen, sondern es  landet auf dem Friedhof zwar bemerkenswerter, aber  untergegangener Kulturen, wird aus einem Gegenstand der Kritik  der politischen Ökonomie zu einem Gegenstand der Völkerkunde.  Das diskriminierende Kriterium ist immer, ob eine Epoche zur  Revolution taugt. Wenn nicht, unterscheidet sie sich von allen  anderen nur gradüll. Voraussetzung sogar der Unterscheidung von  Kapitalismus und Barbarei ist immer noch die Erwartung der  Revolution. Wenn man sie aufgibt, wird diese Distinktion  hinfällig und weicht einem Kaleidoskop verschiedener  Gesellschaftsformationen und Epochen.  

Indem Marx das Zerbrechen des Kapitalverhältnisses  prognostizieren kann - indem Marx also das Vorübergehen jener  revolutionären Situation prognostizieren kann, die seiner  Darstellung des Kapitals als widersprüchlichen Verhältnisses  konstitutiv ist, insofern kann Marx die mit diesem Zerbrechen  verbundenen Alternativen nennen: Entweder die Menschheit  konstituiert sich wirklich zum historischen Subjekt, oder sie  darf sich darauf gefasst machen, von der zweiten Natur, die noch  etwas ungemütlicher ist als die erste, erschlagen oder doch  wenigstens zurückgeschlagen zu werden, und zwar nicht nur auf  geschichtlich, sondern eventüll sogar naturgeschichtlich  zurückliegende Entwicklungsstufen, auf die Stufe jener  "schwachen und gehetzten Tierarten", von denen Marx im Kapital  noch metaphorisch spricht, zu denen die Menschen nach der  nuklearen Katastrophe aber durchaus tatsächlich mutieren  könnten. Marx kann zeigen, dass die für eine befreite Menschheit  notwendigen Produktivkräfte existieren, und dass diese  Produktivkräfte sich in masslose Destruktivkräfte verwandeln  werden, wenn die Revolution nicht gemacht wird. Marx kann also  Notwendigkeit und Möglichkeit der Revolution beweisen - mehr  aber auch nicht, insofern sie ein Akt ist, der sich nicht in den  Bedingungen seiner Möglichkeit und den Zwängen seiner  Notwendigkeit erschöpft.  

Logische Konsequenz aus der Geschichte ist die Revolution nur  unter der Voraussetzung, dass ein historisches Subjekt bereits  existiert. Die Existenz dieses Subjekts ist aber ihrerseits  nicht logisch zu begründen. Weil die Voraussetzungen von  Geschichte immer idiotisch sind und der wirkliche Eintritt der  Menschheit in die Geschichte dies nicht mehr sein soll, klafft  zwischen beiden auch eine rational nicht überbrückbare Lücke.  Die Revolution setzt immer die Menschheit als historisches  Subjekt schon voraus, obwohl sie dies erst in der Revolution  wirklich werden kann. Die Konstitution der Menschheit zum  historischen Subjekt bleibt also immer ein Stück Usurpation,  Antizipation, Spekulation - ein Sprung ins kalte Wasser.  

Es bleibt bei der Konstitution der Menschheit zum historischen  Subjekt unter Verhältnissen, die dies eigentlich nicht erlauben,  also unter allen Verhältnissen, unter denen Revolution  erforderlich ist, stets ein irrationales Restchen stehen, die  freie, und das heisst: Nicht am Schreibtisch prognostizierbare  Übereinkunft der Betroffenen nämlich, deren spontaner Wille. Zu  Marxens Zeiten freilich konnte sich dieses irrationale Restchen,  dieser spontane Wille, auf denkbar solide Argumente stützen. Dass  sich mit Hilfe dieses Willens Fragen klären liessen, welche die  bürgerliche Vernunft selber angeschnitten hatte, verlieh ihm die  Autorität und den langen Atem der Wissenschaft.  

Diese überaus glückliche Konstellation halte ich heute für  Geschichte. Unter der Voraussetzung, dass es eine proletarische  Revolution geben würde, konnte Marx das Kapital begreifen, weil  es als Vorstufe zum Verein freier Menschen tatsächlich  vernünftig war. Das heisst aber: Nur unter der Voraussetzung, dass  die Revolution auch wirklich gemacht wird, ist die Theorie, die  das Kapital als Vorstufe zum Verein freier Menschen begreift, im  strengen Sinn richtig gewesen. Diesem Risiko der Falsifikation  durch die fernere Geschichte ist jede ernst zu nehmende  Gesellschaftstheorie ausgesetzt; die Marxsche ist an diesem  Risiko gescheitert, und genau dieses Scheitern macht ihre Grösse  aus. Als Wissenschaftler ist Marx gescheitert, als Revolutionär  hat er ebenso recht behalten wie Thomas Münzer oder Fidel  Castro, die beide nichts von der politischen Ökonomie  verstanden. Gescheitert ist aber mit der Marxschen Theorie die  vernünftige Begründung der Revolution, und an dieser  vernünftigen Begründung muss man trotz ihres Scheiterns  festhalten, wenn die Menschheit sich in der Revolution  tatsächlich zum Subjekt konstituieren soll, welches mit Willen  und Bewusstsein seine Geschichte macht. Das Scheitern der Theorie  ist der Grund, weshalb man stets wieder auf die Marxsche  zurückgreifen muss. Nach ihr gab es keine mehr.  

Wenn man dies tut, muss man aber sich über die Merkwürdigkeit  dieses Verfahrens Rechenschaft ablegen: Die Vernunft ist so  obsolet geworden, dass man sie nur in Archiven und Bibliotheken  findet. Sie ist nicht die herrschende. Und wenn sich auf einem  Verlagsprospekt der "Marxistischen Blätter" der Slogan findet:  "Der Marxismus - eine geistige Grossmacht unserer Zeit", so ist  dies nicht nur geschmacklos, sondern Wahn.  

* Als Indiz dafür ist der Umstand zu werten, dass der politische  Gesetzesbegriff dem naturwissenschaftlichen historisch  voranging.

Editorische Anmerkungen:

Der Text wurde in der Newsgruppe de.soc.politik veröffentlicht und ist von dort gespiegelt.