‚Judenschweine' mit Atombombe

von Gaston Kirsche
 (gruppe demontage)
05/02
 
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Außenminister Joschka Fischer antwortete zunächst ausweichend staatsmännisch, als ihn die Frankfurter Rundschau am 20. April 2002 fragte, ob es in Deutschland eine neue Gefahr von Antisemitismus gäbe, der die Regierung sich stellen müsste. "Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen kann ich jedenfalls die einseitige Schuldzuweisung an Israel nicht nachvollziehen", erklärte Fischer, um dann doch antiisraelische Positionen zu kritisieren: "Dann sind da die anderen, die sagen: Endlich sehen wir das böse Israel ... Das sind die selben Argumente, die früher in meiner Generation in der radikalen Linken kamen ... Warum waren Israel und die Palästinenser so stark Synonyme für Böse und Gut? Es war der Mechanismus: Die Opfer werden Täter und damit haben die Nachkommen der Täter die Möglichkeit, sich zu entlasten." Anstatt über die radikale Linke zu reden, hätte Fischer ebensogut Politiker der Regierungsparteien kritisieren können. "Richtig, hier sind die Opfer der Opfer versammelt," verkündete Bremens Bürgermeister Henning Scherf, SPD, als er am 18. April im Rathaus 50 Palästinenser empfing. Aber Fischers Bereitschaft, Geschichtrevisionismus oder Antisemitismus zu kritisieren, endet dort, wo es um die Regierungsparteien geht.

Bundeskanzler Gerhard Schröder dachte bei der Kommandeurstagung der Bundeswehr am 8. April in Hannover, auf Nachfrage, welche Auslandseinsätze der Bundeswehr noch bevorstehen, laut darüber nach, ob es im nahen Osten "nicht notwendig ist", die Konfliktparteien auch mit "militärischen Mitteln" zu trennen. Eine mögliche Beteiligung Deutschlands hieran bezeichnete Schröder als "offen". Ein Mitarbeiter Schröders liess anschliessend noch verlauten, ein Einsatz der Bundeswehr in Israel und Palästina wäre der "Schlußstrich unter die Scheckbuchdiplomatie" Deutschlands. Es liegt nahe, dass genau dies der Grund für Schröders Vorstoß war: Mit einem Bundeswehreinsatz in Israel wäre Deutschlands Normalisierung vollendet und Auschwitz und die Shoah offiziell nur mehr ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte, dass keine internationale Zurückhaltung mehr erfordert.

Als die FR Fischer fragte, ob "ein deutscher Militäreinsatz nicht drin im Kopf des Bundeskanzlers sei", kam von diesem die nebulöse Antwort: "Die Gedanken sind frei."

Fischer kritisierte zwar antisemitische Argumentationen in der deutschen Kritik an Israel, machte diese aber ausschließlich bei Jürgen Möllemann, FDP, und in der radikalen Linken aus. Zuvor gab es in der Tat bei der großen Demonstration am palästinensischen "Tag des Bodens" in Berlin am 13. April eindeutige Äußerungen und Transparente: Auf arabisch wurde dort ein "Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer" gefordert und zahlreiche Fahnen der Hamas und des Islamischen Jihad mitgeführt, die genau diese Forderung mit Selbstmordattentaten umzusetzen versuchen. Deutsche Linke hielten daneben Transparente, auf denen etwa stand: "Stoppt Sharons Endlösung", "Lasst keinen zweiten Holocaust zu" oder "Der Geist von Auschwitz schwebt über Palästina". Aus vielen Losungen sprach so das Bedürfnis, die Singularität von Auschwitz zu leugnen. Aus der Demonstration heraus kam es vereinzelt auch zu Hitlergrüssen und Sprechchören "Wir wollen keine Judenschweine!". Auf eine kleine Gegenkundgebung proisraelischer Gruppen wurde an der Liebknechtbrücke von einigen aufgebrachten Demonstranten mit Parolen wie "Tod den Juden!" reagiert.

Im Aufruf für die am folgenden Tag stattgefundene Gegendemonstration eines "Bündnisses gegen Antizionismus und Antisemitismus" hiess es zu der Palästina-Demo, die stehe "exemplarisch für den wachsenden antizionistischen Konsens von rechten pressure groups wie der Deutsch-Arabischen Gesellschaft über die bürgerlichen Parteien bis hin zu linken Globalisierungsgegnern. Dieser ‚Konsens der Anständigen' wird als Lehre aus der deutschen Geschichte verkauft, während er diese doch gerade verleugnet." Zur Solidarität mit Israel wurde aufgefordert : "Wir rufen auf, den Konsens der Antizionisten anzufechten! Deutscher Antisemitismus darf sich nicht als Kritik an Israel tarnen! Wehren wir uns gegen Antizionismus und Antisemitismus!" Diesem Aufruf folgten nur 1.500 Menschen, darunter viele aus den Jüdischen Gemeinden Berlins, während am Tag zuvor über 15.000 Sympathisanten der Selbstmordattentäter und linke Antiimperialisten in Berlin kaum verhohlen gegen Israel demonstriert hatten.

Aber nicht nur in linken Kreisen, auch im Alltag kommt immer öfter ein antisemitisches Ressentiment hervor, dass parallel zur zunehmenden Kritik von Politikern an Israel sich auch militant äußert. Allein in Berlin hat es in den letzten Wochen mehrere tätliche Überfälle auf als Juden erkennbare Passanten gegeben. Am Abend des 14. April wurden zwei Jüdinnen in einer U-Bahn in Neukölln von zwei Männern geschlagen und verletzt. Zuerst fragten sie eine junge Frau, die eine Kette mit einem Davidstern offen um den Hals trug, ob sie Jüdin sei. Sie rissen ihr die Kette vom Hals und schlugen sie. Ihre Mutter, die ihr helfen wollte, wurde ebenfalls ins Gesicht geschlagen. Beide erlitten nach Angaben der Polizei Prellungen und Schwellungen im Gesicht. Die beiden Täter konnten fliehen.

In Frankfurt am Main wurde nach der Kundgebung zur Solidarität mit Israel am 10. April ein 75-jähriger Demonstrant auf dem Rückweg brutal von hinten zusammengeschlagen, als er sein Transparent im Auto verstauen wollte. Er erlitt einen Rippenbruch sowie eine Gehirnerschütterung. Die Täter wurden nicht gefasst.

Beim jüdischen Holocaust-Gedenktag Yom Hashoah kam es in Berlin am 9. April zu Störungen. Im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wurden in Berlin auf dem Wittenbergplatz die Namen von 56 000 ermordeten und deportierten Berliner Juden verlesen. Am Rande des Gedenkens kam es immer wieder zu Zwischenrufen von Passanten, die ihre Kritik an Israel meinten dort vorbringen zu müssen. Auch aus Autos heraus riefen einige Fahrer herüber: "Raus" oder "Palästina wird siegen".

Am hellichten Tag ist auf dem Berliner Ku'damm nicht mehr vor Angriffen sicher, wer als Jude identifizierbar ist. Am Ostersonntag wurden dort zwei junge orthodoxe Juden auf offener Straße verprügelt, einer trug eine Platzwunde davon. Die Täter entkamen.

Die hier geschilderten Vorfälle kamen in Tageszeitungen und bei den Agenturen nur als Kurzmeldungen vor. Die Aufzählung liesse sich verlängern. Aber während das militärische Agieren Israels in den besetzten Gebieten Titelthema ist, werden antisemitische Überfälle in Deutschland nicht skandalisiert. Einige der antisemitischen Angriffe wurden, so betont die Polizei, von "arabisch-stämmigen" Migranten verübt. Dies wird oft wiederholt, wohl um zu betonen, dass es nicht "wir Deutsche" sind, die jüdische Menschen beschimpfen und zusammenschlagen. Dabei liegt es in der gesellschaftlichen Verantwortung, wenn es kaum Proteste nach derartigen antisemitischen Überfällen gibt, diese nicht unterbunden werden. Sondern im Gegenteil zunehmend ein mit Klischees behaftetes negatives Bild von Israel dominant wird, wie Netanel Schwarz, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Hamburg, gegenüber dieser Zeitung feststellte: "In vielen Kommentaren, sowohl in den Medien als auch in Gesprächen mit Nichtjuden ist ein antisemitischer Unterton nicht selten mehr als deutlich herauszuhören. Seit Beginn des Aufstandes und der Terrorwelle gegen israelische Zivilisten ist eine Zunahme des Antisemitismus zu spüren. Das Existenzrecht Israels wird immer vehementer bestritten, diese Position gilt inzwischen als salonfähig."

Auf einer Veranstaltung des Vereins "Chaverim" in Norderstedt bei Hamburg am 17. April schilderte eine Referentin vom israelischen staatlichen Touristenbüro den Versuch, mit acht Pressesprechern von der israelischen Botschaft aus eine Story in die Medien zu bekommen über eine Frau, die bei dem Anschlag eines Selbstmordattentäters in Netanya am Seder-Abend vor Ostern beide Kinder und ihren Mann verloren hat. Sie entschied sich, gesunde Körperteile ihres Mannes für eine palästinensische Frau zu spenden - und rettete dieser so das Leben. Die angefragten deutschen Medien lehnten allesamt die Geschichte ab: so etwas interessiere niemanden. Es ist offensichtlich Konsens über Israelis nur Negatives zu berichten, über angebliche Rachegelüste.

Je mehr die Situation im nahen Osten eskaliert, desto deutlicher kommen in Deutschland Politiker mit antiisraelischen Statements zu Wort, quer durch die Parteien - aus den bürgerlichen Oppositionsparteien melden sich Wahlkämpfer mit plakativen Statements ohne die diplomatische Zurückhaltung zu Wort, an welche die Bundesregierung gebunden ist. Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, CDU, bezeichnete in einem Brief an den israelischen Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, das israelische militärische Vorgehen als einen "hemmungslosen Vernichtungskrieg". Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, hat die Deutschen bereits aufgefordert, sie sollten die Kritik an Israel nicht länger tabuisieren. Mit dieser Haltung, Tabus brechen zu wollen, wo sie nie bestanden, hat Lamers dann auch konsequent Israel die "größere Schuld" an der Eskalation im Nahen Osten zugewiesen. Aber auch der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete der Grünen Jamal Karsli äußerte sich bereits am 15. März ähnlich: Im Nahen Osten sei "ein unschuldiges Volk den Nazi-Methoden einer rücksichtslosen Militärmacht schutzlos ausgeliefert." Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrates der Juden, konterte am 5. April in der Welt: "Blüm und andere sollten vorsichtiger mit Formulierungen sein, die Assoziationen zwischen dem nationalsozialistischen ‚Vernichtungskrieg' und dem Kampf gegen den Terror im Nahen Osten herstellen. Ursache und Wirkung werden von Blüm völlig außer acht gelassen. Ich weiß nicht, wie deutsche Politiker reagieren würden, wenn hier tagtäglich Zivilisten von Terroristen umgebracht würden."

Die gegenteilige Überlegung stellte Jürgen Möllemann, stellvertretender FDP-Chef und Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, an - aus der Sicht der Terroristen. Eine Sorge um die Zivilisten war bei ihm nicht erkennbar. Er erklärte am 2. April in der taz: "Was würde man selber tun, wenn Deutschland besetzt würde? Ich würde mich auch wehren, und zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjäger-Offizier der Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu wehren. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Land des Aggressors." Ralph Giordano erwiderte darauf, ebenfalls in der taz, er sage wegen dieser Äußerung die Teilnahme an einer für den 10. April geplanten Podiumsdiskussion mit Möllemann ab: "Der Ungeist, der mir da entgegenspringt, den kann ich nicht aushalten."

Dafür wurde Möllemann in die Talkshow Sabine Christiansen eingeladen, wo er am 14. April Israel als Aggressor darstellte und sinngemäß seine taz-Äußerung wiederholte und dafür als einziger Talkgast vom Studiopublikum mit Applaus bedacht wurde. Ulrich Klose, SPD, äußerte sich zu Möllemanns Positionierung aus der taz mit staatsmännischer Lauheit: Es gebe Dinge, die müsse man hinter geschlossenen Türen äußeren und nicht öffentlich.

Deutliche Kritik an Möllemann kam neben Giordano vor allem von exponierten Vertretern des Zentralrates der Juden: "Ich bin allerdings beunruhigt über die Entwicklung in der FDP", erklärte Michel Friedman, stellvertretender Vorsitzender, in der Jüdischen Allgemeinen, "Möllemanns Einfluß als Lobbyist der Deutsch-Arabischen Gesellschaft und als Geschäftsmann, der mit arabischen Leuten arbeitet, ist immer deutlicher zu spüren. Ich mache mir Sorgen..."

Paul Spiegel stellte in der Welt klar, dass Möllemann kein Einzelfall ist: "Die Äußerung Möllemanns markiert seinen moralischen Bankrott. Nicht nur rechtfertigt er ohne Vorbehalte den Terrorismus und seine Gewaltakte als politisches Mittel der Auseinandersetzung, er setzt damit auch eine gefährliche Tradition fort, die im Land der Mörder, das den eleminatorischen Antisemitismus bis zur letzten Kriegsminute praktizierte, offensichtlich immer noch existiert: Anstatt gegen Antisemitismus zu mobilisieren - was hier zu Lande tatsächlich etwas neues wäre - wird in Sachen Feindmarkierung eher der Schulterschluß mit den Antisemiten praktiziert."
FDP-Chef Guido Westerwelle bestätigte Spiegels Aussage unfreiwillig durch seine harsche Reaktion. Ohne einen leisen Zweifel erkennen zu lassen, ob es nicht an der Zeit sei, Möllemann auszubremsen, wies er die Kritik vehement zurück: "Es ist unangebracht, wenn Vertreter des Zentralrats der Juden reflexartig Kritikern der israelischen Regierungspolitik ihre moralische Integrität absprechen."

Im Interview mit der FR antwortete Lamers am 18. April auf die Frage, ob es in Deutschland einen latenten Antisemitismus gebe: "Das glaube ich nicht." Damit war für ihn das Thema geklärt. Außer jüdischen Verbänden scheint kaum jemand den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland bemerken. "Das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland wird, besonders durch die vorherrschende unsachliche Kritik in Deutschland, die sich immer häufiger auch gegen Juden hier zu Lande richtet, bis in seine Grundfeste erschüttert" erklärte Paul Spiegel gegenüber dem Handelsblatt am 22. April. Die Bilder von israelischen Militäreinsätzen würden immer häufiger genutzt, um eine Entschuldungsdebatte über die Shoah anzustoßen, fügte Spiegel hinzu.

Juden werden in Deutschland von Nichtjuden derzeit oft für die Politik der israelischen Regierung oder der Armeeführung verantwortlich gemacht. Netanel Schwarz schildert gegenüber dieser Zeitung eine typische Situation, die er im Hamburger Univiertel erlebt hat: "Ich sitze mit Leuten im Abaton-Café und irgendwie erfährt jemand, den ich nicht kenne, aus dem Gespräch, daß ich jüdisch bin. Die erste Frage: ‚Gibt es denn hier überhaupt eine Synagoge in Hamburg?' Ja, sage ich, in der Hohen Weide. Die zweite Frage: ‚Wann, meinst Du, setzt Israel denn die Atombombe ein?'"
 

Editorische Anmerkungen:

Dieser Text wurde uns vom Autor mit der um Veröffentlichung am 8.5.2002 zugesandt. Der Autor arbeitet in der Gruppe Demontage mit.

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