Der Kommunismus und Israel

Von der Initiative Sozialistisches Forum Freiburg
05/02
 
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Kommunismus ist „das aufgelöste Rätsel der Geschichte“ (Marx). Dieses besteht darin, daß die Spaltung der menschlichen Gattung in Herrscher und Beherrschte, in Ausbeuter und Ausgebeutete im Kapitalverhältnis einen Aggregatzustand erreicht hat, innerhalb dessen zwischen der vollendeten Verdinglichung einerseits, dem Übergang zum „Verein freier Menschen“ andererseits, nur noch die Revolution als Handumdrehen zu liegen scheint, aber dennoch in immer weitere Ferne rückt. Marxisten jeglicher Couleur betreiben, statt dieses Rätsel in seiner Tragik zu denunzieren, statt es also zu kritisieren, seit je das Geschäft seiner Rationalisierung, das heißt seiner Ideologisierung.

Israel ist das Schibboleth jener doch so naheliegenden Revolution; es ist der unbegriffene Schatten ihres Scheiterns. Israel ist das Menetekel, das zum einen (und ganz unfreiwillig) die kategorischen Minimalbedingungen des Kommunismus illustriert, und das zum anderen sämtliche Bestialitäten zu demonstrieren scheint, zu denen der bürgerlich-kapitalistische Nationalstaat fähig ist. Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“ begriffen.

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Den Linken ist Israel vor allem deshalb ein Graus, weil dieser Staat und weil diese Nation nicht unter den Begriff der antikolonialen Revolution oder der nationalen Befreiungsbewegung subsumierbar sind: es sei denn, man wolle die durchaus terroristischen Aktionen eines Menachem Begin gegen die britische Mandatsmacht darunter fassen. Israel, die „tautologische Nation“ (Bahamas), ist überhaupt eine Anomalie, die in kein geschichtsphilosophisches Schema und kein politisches Interesse paßt, weder in das der Bourgeois und ihrer Kopflanger noch in das der Linken und ihrer Theoretiker.

Wie hoffnungslos das Interesse an der Aufklärung und Emanzipation der menschlichen Gattung scheint, wie aussichtslos, geradezu auf Sand gebaut die Perspektive des revolutionären Ausgangs aus der so gesellschaftlich verschuldeten wie individuell verhärteten Unmündigkeit, das demonstrieren jene, deren Geschäft und ganzer Ehrgeiz in der Verewigung der falschen Gesellschaft besteht, gar nicht einmal zu allererst. Von ihnen, den Apologeten und ihren Soziologen, Nutznießern und Ideologen ist eh’ nichts anderes zu erwarten als das, was sie jeden Tag in der Frankfurter Allgemeinen als Theorie verlautbaren lassen, zum Beispiel am 11. März: „An den Kapitalismus zu glauben heißt letztlich nichts anderes, als an den Menschen zu glauben.“ Oder an Persil. Der Satz ist so wahr und richtig wie nur noch der, wonach an den Feudalismus zu glauben in letzter Instanz bedeutet, an den Herrgott und seine Kirche zu glauben, hat aber die böse Pointe, das Kapitalverhältnis zu anthropologisieren. So leben die Menschen im Kapital, wie die Ameisen im Staat es tun: zutraulich, ganz unentfremdet und spontan. In ihrem legitimatorischen Interesse allerdings ist die FAZ mit der vollendeten Negativität des tatsächlichen Zustands intimer bekannt als die Linken, die Reform oder Revolution zu ihrem Programm erhoben haben.

Deren Berufung auf Gesellschaft, auf die Klassen, auf das Interesse wirkt nachgerade lächerlich. Um diese Diagnose zu stellen, genügt nicht nur ein flüchtiger Blick in das Schriftgut dieser Bewegung, wie die Blätter des IZ3W, Wildcat oder, für Hartgesottene, Analyse und Kritik. Es reicht schon hin, ihren Ikonen von Jutta Ditfurth über Claudia Roth bis Sarah Wagenknecht zuzuhören, wenn sie vom Nazifaschismus sprechen. Letztere weiß zum Beispiel, daß „es keine genetische und auch keine historische Erbanlage gab, die die ‘deutsche Nation’ zwanghaft und unausweichlich in den Faschismus und nach Auschwitz trieb. Noch hinter der irrsinnigsten Barbarei standen rationale (und nicht ‘nationale’!) Interessen. Krieg und Völkermord waren hochprofitabel; ‘Tod durch Arbeit’ sicherte Mehrwertraten nahe 100 Prozent.“ Die Vorstellungen dieser Linken von einer Welt jenseits von Kapitalismus und Faschismus kommt dem entsprechend dann in der Frage zum Ausdruck, die in der Einladung zur diesjährigen BUKO Konferenz gestellt wird: „Wie finden wir etwas Besseres als die Nation?“ So gefragt, kann die Antwort historisch nur sein: Das gibt es schon. Es ist das Volk. Denn wäre die Antwort eine andere, dann würde man über die Abschaffung von Nation, Staat und Geld reden, statt über neue Identitäten.

Wenn diese Linke über Israel schwadroniert, dann hört sich das nicht minder grausig an. Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und dem Vernichtungswillen gegen die zum Staat gewordene bürgerliche Gesellschaft der Juden, gegen Israel, eigentlich auf der Hand: Der sogenannte Antizionismus stellt nichts anderes dar als die geopolitische, globalisierte Reproduktion des Antisemitismus, das heißt die Erscheinungsform, die er in Weltmarkt und Weltpolitik nach Auschwitz annehmen muß. Der Antizionismus ist der aus den kapitalisierten Gesellschaften in die Welt herausgekehrte Antisemitismus. So ist Israel der Jude unter den Staaten; die Verdammung des Zionismus als eines „Rassismus“ durch die UNO gibt es zu Protokoll. Das macht: die moralische Verurteilung der menschlichen Unkosten der Konstitution bürgerlicher Staatlichkeit allein am Beispiel Israels führt vor Augen, was die Welt der Volksstaaten vergessen machen will – daß die Zentralisation der politischen Gewalt über Leben und Tod keineswegs die natürliche Organisationsform der Gattung Mensch darstellt, sondern Ausdruck eben von Herrschaft und Ausbeutung. Dabei ist Israel – und das macht die Kritik an diesem Staat so perfide und muß deshalb immer wieder gesagt werden – der einzige Staat dieser Welt, der für sich eine nicht zu bezweifelnde Legitimität beanspruchen kann. Israel, das ist der ungleichzeitige Staat, der entstanden ist sowohl als Reaktion auf das Dementi aller Versprechungen der bürgerlichen Nationalrevolution, sowohl als Antwort auf den stalinistischen Verrat an der kommunistischen Weltrevolution als auch als zu spät gekommene Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden.

Was es den gutwilligen Linken, die den Antisemitismus zwar ablehnen und bekämpfen, aber doch an der israelischen Politik gegen den palästinensische Staatsgründungsversuch einiges auszusetzen haben, so schwer macht, die außenpolitische Darreichungsform des antisemitischen Vernichtungswillens auf seine kritischen Konsequenzen hin durchzubuchstabieren, liegt einerseits an ihrer Ignoranz in Sachen bürgerlicher Staatlichkeit, andererseits an ihrem Pazifismus, der sich zu einem revolutionären Antimilitarismus verhält wie Mahatma Gandhi zu Auguste Blanqui. Dieser Pazifismus mag, wo er in Ariel Scharon das Remake eines losgelassenen Chauvinismus nach Art des Hauses Franz Josef Strauß oder Edmund Stoiber erkennt, keineswegs auf sein Recht verzichten, wenn nicht am israelischen Staat als solchem, so doch gegen die Politik der israelischen Regierung Einwände zu erheben und Kritik zu äußern. Er regrediert damit auf den Standpunkt eines Pazifismus, der in etwa der Petra Kellys, Thomas Ebermanns und Horst-Eberhard Richters der Jahre 1982/83 sein dürfte. Daß man, wie die Flause heißt, das „Existenzrecht Israels“ anerkenne, daß man aber die Regierungspolitik doch wohl dennoch kritisieren dürfe, das wiederholt den Sozialreformismus, dessen sich diese Bewegung schon immer befleißigte. Man tut so, als ob einem diese „Kritik“ nicht jeden Morgen aus der Tageszeitung jeglicher politischer Ausrichtung gleichlautend entgegenquellen würde – ein Antisemitismus, der allein darin, daß er von sich behauptet, er wäre keiner, sich das gute Gewissen verschafft, das Deutsche heutzutage notorisch auszeichnet: Mein bester Freund ist Jude...

Dieser Reformismus legitimiert sich, indem er in der israelischen Friedensbewegung und deren Protagonisten wie Uri Avnery, Norman Finkelstein, Felicia Langer oder Moshe Zuckermann seinen Referenzpunkt entdeckt, bei Leuten also, die für Israel in etwa das bedeuten, was für die BRD der frühen Sechziger die Deutsche Friedensunion war. Die Identifikation des deutschen Pazifismus mit der israelischen Friedensbewegung beruht natürlich darauf, daß man so wenig wie von ihnen auch von Zuckermann, geschweige denn von Avnery oder Langer, je einen Satz über den Staat des Kapitals gehört hat und auch nicht über einen materialistischen Begriff der Massenvernichtung, der bei Zuckermann, der gerne sich Kritischer Theorie zurechnen möchte, sogar unter dem Titel „Zweierlei Holocaust“ ins Multikulturelle schwappt.

Im Wesen Israels als des ungleichzeitigen Staates der Juden liegt es aber nicht nur, Reaktion auf den Verrat an Aufklärung und Weltrevolution, nicht nur, Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus und Asyl zu sein. Sondern eben auch, daß die üblichen Muster der bürgerlichen Rollenverteilung – hier das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates im allgemeinen und dort die Personen, die die Regierungsausübung im besondern besorgen – für den israelischen Staates aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen keine Geltung mehr hat. Was sich unter anderem darin zeigt, daß diese „Kritiker“ der israelischen Regierungspolitik für den faschistischen Mob und die Behörden, die Selbstmordattentäter belohnen, Verständnis aufbringen (Folge von Besatzung und Ausbeutung), dagegen für den Versuch, die militärische Infrastruktur der Gegner Israels zu zerschlagen, am liebsten die Begriffe Auslöschung oder Ausrottung der palästinensischen Bevölkerung im Munde führen. Wie hinter der treudoofen Frage, ob es nicht möglich sein müsse, Spekulanten als das zu bezeichnen, was sie sind, ohne gleich als antisemitisch zu gelten, so verbirgt sich hinter der treulinken Frage, ob nicht auch in Israel, weil es sich auch dort um eine bürgerliche Gesellschaft handele, Faschismus möglich sei, die Erkenntnis dieser Fusion in verquerer und verschrobener Gestalt. Verquer, weil ja gerade erklärt werden sollte, wie Israel, dieser Fusion zum Trotz, eine parlamentarische Demokratie ist und bleibt; verschroben, weil diese Einheit von Staat und Regierung im Übergang von einem unerträglichen Alten (die Vernichtungsdrohung) zum noch nicht erreichten Neuen (die herrschaftslose Gesellschaft) ja doch den Inbegriff dessen ausmacht, was einmal als „Diktatur des Proletariats“, als Emanzipationsgewalt und organisierte politische Macht der Revolution, auch und gerade auf den roten Fahnen stand. In Anbetracht der Grundidee des Staates Israel, vor dem Hintergrund der linken Staatsmythen, betreffend die „Diktatur des Proletariats“, muß jede Beurteilung der Handlungen der Regierungsvertreter auch die völlig andere Qualität dieses Staates, verglichen mit allen anderen, deutlich werden lassen.

Nun soll gewiß nicht behauptet werden, Ariel Scharon sei der Lenin von Israel, aber die israelische Staatlichkeit speist sich, historisch wie strukturell, aus ihrem Wesen als parlamentarisch verfaßte und im Staat zusammengefaßte Emanzipationsgewalt. Es ist also nicht möglich, zwischen Herrschaft und Herrschaftsausübung in der Weise zu trennen, wie man es gemeinhin macht, wenn man sich fragt, ob der Schröder oder der Stoiber das Gemeinwesen besser verwalten werden. Vielmehr bekundet, wer in dieser Weise trennt, nicht nur sein Unverständnis für die Staatlichkeit der Juden, sondern auch einen mindest diskreten Antizionismus, etwa nach Art der diesjährigen Ostermärsche, die es duldeten, daß palästinensische Nationalwimpel mitgeführt wurden, oder nach Art der famosen Tute bianche, die zum Boykott israelischer Waren aufrufen, oder nach Art der eitel militanten operaistischen Gruppe Wildcat, die wirklich glaubt, Israel einer „Klassenanalyse“ unterwerfen zu können – all dies Gewese verdrängt, daß Ariel Scharon, natürlich ohne es zu wollen, näher dran ist am Kommunismus als seine Kritiker, daß er, auf seine, ihm als General einzig mögliche Weise, den antifaschistischen Kampf führt als eine Art israelische Ausgabe von Buonaventura Durruti. Denn der Kommunismus, die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft, verlangt, soll er gelingen, etwas Unmögliches: Rache für die Toten, für die Opfer der Barbarei; zugleich aber auch, daß niemand anders behandelt werde als nach seinem eigenen Maß: Gerechtigkeit für die Lebenden. Nur so ist der Kommunismus möglich als die gesellschaftlich bewahrheitete Maxime „Jedem nach seinem Bedürfnis, jeder nach seinen Fähigkeiten“. In dieser Perspektive ist Israel der bewaffnete Versuch der Juden, den Kommunismus lebend zu erreichen. Das müßte doch eigentlich gerade von Leuten verstanden werden, die vor nicht allzu langer Zeit noch von der Diktatur des Proletariats schwärmten, die sich dem Staatskapitalismus in der Sowjetunion, der DDR, Chinas oder gar Albaniens an den Hals warfen oder den national-völkischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Heute scheint es, als ob sich all diese abstrusen Identifikationen auf die bedingungslose Unterstützung des palästinensischen Volkes gegen Israel konzentrierten.

Nach dem Untergang des Marxismus-Leninismus als Systemphilosophie wie Legitimationswissenschaft gibt es keinen „wissenschaftlichen Kommunismus“ mehr. Der ist abgelöst von der nicht mehr wissenschaftlich, sondern so instinktiv wie intuitiv praktizierten Fähigkeit der Linken zur welthistorischen Spökenkiekerei. Es ist dabei die ontologische Setzung, die, wie schon im Marxismus-Leninismus, das problemlose Zusammenspiel von perspektivischer Wertung und empiristischer Deutung erlaubt: Keine der sklavisch verehrten Tatsachen gibt es, die nicht die vollständige Manifestation der Entfaltung des Wesens zu sich selbst wäre. Jeder gute Ideologe ist daher ein schlechter Hegelianer, der das Gefühl fürs Nicht-Identische abschneidet. Daß jede wirklich gute Ideologie aus diesem Ineinandergreifen und fugendicht sich Verzahnen von intuitiv-spontaner Illustration vermittels von Fakten, Fakten, Fakten einerseits, andererseits aus der Rationalisierung dieser Tatsachen zum logisch widerspruchsfreien System besteht, davon kann sich überzeugen, wer etwa die Stalinschen Statements zum Nazifaschismus studiert oder Claudia Roth auf Grünen Parteitagen hat sprechen hören. Weil Ideologie keine Kohärenz hat, ist sie gegen Kritik immun; weil sie jede Erfahrung des je Einzelnen ausschließt, kann sie unmöglich in einen Lernprozeß eintreten. Da die Ideologie das Denken an der Wurzel vernichtet, substituiert sie es durchs Kalkül aufs Interesse. Sie ist das, was Sigmund Freuds Psychoanalyse im paradoxen Bild des „unbewußten Bewußtseins“ zu fassen suchte, eben das, was Karl Marx im Zusammenhang seiner Kritik des Fetischismus über den Zusammenhang von Warenform und Denkform darlegte.

Dies „unbewußte Bewußtsein“ mag man sich vorstellen als den Schlafwandler, der über alle Abgründe hinweg sein Ziel ansteuert. In Europa allerdings ist es in alle Poren hinein antisemitisch. Ob Katholiken und Feudale, ob absolute Monarchen und bürgerliche Revolutionäre, ob Sozialdemokraten, Parteikommunisten oder Nazifaschisten, fintenreich trugen sie alle wie in Trance oder in absichtsvoll-manischer Wut das ihre dazu bei, dem gedankenlose Denken zur gnadenlosen Durchschlagskraft zu verhelfen.

Dagegen ist die Geschichtsphilosophie des Zionismus von ganz anderer Statur – und auch darin zeigt sich die historische Sonderrolle, die dem Zionismus zukommt: Die Geschichte konstruiert sich hier nicht als Zu-sich-selbst-Kommen des Wesens, sondern als der historische Zusammenhang der Katastrophen und als Abwehr der kommenden. Die Zionisten handeln, als hätten sie sich der Bewahrheitung der „Geschichtsphilosophischen Thesen“ eines Walter Benjamin verschrieben. In dieser negativen Geschichtsphilosophie ist der Materialismus dem Zionismus verwandt, wenn er auch kontrafaktisch sich weigert, dessen These vom „ewigen Antisemitismus“ sich anzueignen.

Der Haß auf den Zionismus hat viele Gründe, das heißt Vorwände. Sie penibel aufzuzählen, mag interessant sein, ist aber nicht von Interesse. So niederschmetternd es ist, aber es geht nicht darum, was beim Vorstoß der israelischen Armee ins Gebiet der Autonomiebehörde an Grausamkeit und Terror geschieht. Das ist der Krieg, von dem niemand je zu behaupten sich traute, er sei eine Kampagne von Amnesty International. Es geht vielmehr um das Verhältnis der „Fakten“, das heißt von Tränen, Blut und Tod, zu ihrer „Wertung“. Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, aus dem fraglosen Leid der Bevölkerung von Dresden auf das historische Unrecht von Sir Arthur Harris zu folgern. Es geht auch nicht um Vergleiche, etwa um die Frage, was die Grausamkeit, die die syrischen, irakischen, iranischen Diktaturen gegen ihre eigene Bevölkerung in Szene setzen, angesichts der israelischen Militärstrategie bedeutet. Es geht auch nicht um die „fanatischen“ Siedler, sondern es geht um die historische Legitimität und philosophische Dignität des Zionismus als der israelischen Nationalideologie, die die Staatlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft der Juden nach Auschwitz wesentlich motiviert und organisiert. Und da hat noch Ariel Scharon von der Aufklärung und ihrer seit 1933 negativen Dialektik mehr verstanden als jene, die sich über die Menschenrechte eines „palästinensischen Volks“ echauffieren, das sie erst zum Zwecke ihrer Projektionen sich konstruiert haben. Der jüdische Nationalismus ist der Egoismus von Leuten, die nicht mehr an die unsichtbare Hand glauben können, die den Egoismus ins Gemeinwohl übersetzen würde. Daß die militante Aufklärung die Gestalt Ariel Scharons und der Panzer der israelischen Armee annimmt, das heißt die historisch derzeit einzig mögliche Form, versetzt natürlich diejenigen in basses Erstauen und helle Empörung, die von der Aufklärung nur gerade den „Aufkläricht“ (Ernst Bloch) behalten haben, der hinreicht, sich für das desaströse „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ob proletarisch-sozialistisch à la Lenin, bürgerlich-demokratisch à la Wilson oder völkisch-nazifaschistisch à la Hitler zu engagieren. Es mag sein, daß die Juden ein „Volk“ sind; Israel jedenfalls ist eine Gesellschaft.

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Kein Nazifaschist hat je wirklich geglaubt, er bezöge die Ermächtigung seiner Ansprüche aus dem Teutoburger Wald; keiner seiner demokratischen Erben hat jemals tatsächlich gedacht, ihnen erwüchse Legitimität im Resultat des „Lernens aus der Geschichte“; niemals war ein Sozialist der Ansicht, es sei die famose „Befreiung der Arbeit“ und nicht vielmehr das Recht auf Beute, was seine Politik im Interesse der Arbeiterklasse motivierte. Und keinesfalls erwächst den Palästinensern irgendein Recht aus der Tatsache, daß sie zuerst da waren. Einer Gesellschaft, der Hunger kein Grund ist zur Produktion, kann auch das Leiden kein Grund sein zur Solidarität. Es ist die Ideologie, die mit der Unmittelbarkeit des Leidens agitiert, die aus dessen fragloser Evidenz Sinn zu schlagen sucht, sei es im Sinne von Caritas oder Amnesty International, sei es im Sinne der Freunde des palästinensischen Volkes für den Israelhaß der Antisemiten wie für den Islamfaschismus dieses Volkes. Ariel Scharon jedenfalls, der Zionist und praktische Antifaschist, ist dem aufgelösten Rätsel der Geschichte näher als die deutsche Linke, deren „Antifaschismus“ sich als Aufstand der Anständigen à la Gerhard Schröder oder als Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausagiert.

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel ist der Einladungstext zum jour fixe im Sommer 2002 des isf-freiburg und wurde von http://www.isf-freiburg.org/beitraege/ISF_KommunismusIsrael.htm gespiegelt.