Antonio Gramsci  
Politischer Kampf und militärische Auseinandersetzung
 
redigiert von Karl Müller & dem Red.-Koll. des westberliner info(*)

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Vorbemerkung 
Die in Klammern befindlichen Überschriften stammen von uns und sollen eine Lesehilfe darstellen. Zur leichteren Texterfassung haben wir Namen
- wie z. B. Lenin - im Gegensatz zum Orginaltext ausgeschrieben, und wenn wir es für angebracht hielten, weitere nicht gekennzeichnete Ergänzungen - etwa in der Art von Jahres- oder Ortsangaben - vorgenommen. Bemerkungen, die in Klammern aufgeführt wurden, haben wir durch Paranthese hervorgehoben. An einigen Stellen haben wir den Satzbau stärker ans Deutsche angeglichen. Dabei wurde allerdings streng darauf geachtet, den Sinn nicht zu verfälschen. Ebenso wurden zur Hervorhebung Absätze und Unterstreichungen vorgenommen. Unter chronologischen Gesichtspunkten ist der Text ab (*) vor dem anderen Textteil entstanden. Um den systematischen Zusammenhang zu betonen, ist dieser Teil wie in den deutschsprachigen Ausgaben von 1967 und 1980 dahinter gestellt.

( DEFINITIONEN BEISPIELE PROBLEME )

Im militärischen Krieg, sobald das strategische Ziel erreicht, das feindliche Heer zerstört und sein Territorium besetzt, gibt es Frieden. Außer- dem ist zu beachten, dass um den Krieg zu beenden. es schon genügt, das strategische Ziel potentiell zu erreichen: Das heißt, es genügt, wenn unzweifelhaft feststeht, dass ein Heer nicht mehr kampf- fähig ist und die siegreiche Armee das feindliche Territorium besetzen. Der politische Kampf ist weitaus komplexer: In gewissem Sinne ist er mit Kolonialkriegen oder Eroberungskriegen alten Stils zu vergleichen, wenn also die siegreiche Armee das gesamte eroberte Territorium oder einen Teil davon besetzt, oder zu besetzen sich vornimmt. In diesem Falle wird das besiegte Heer entwaffnet und zerstreut, aber der Kampf geht im Bereich der Politik und der militärischen Vorbereitung weiter.

So kennt der Kampf der Inder gegen die Engländer und in gewissem Sinn der Kampf Deutschlands gegen Frankreich oder Ungarns gegen die kleine Entente drei Formen von Kriegen: Bewegungskrieg. Stellungskrieg oder Krieg im Untergrund. Der passive Widerstand Ghandis ist Stellungskrieg, der in gewissen Augenblicken Bewegungskrieg und manchmal zur Untergrundbewegung wird. Der Boykott ist Stellungskrieg. die Streiks sind Bewegungskriege, die geheime Bereitstellung von Waffen und kämpferischen Angriffselementen ist Untergrundkrieg. Es gibt auch eine Art eine Sturmtruppentaktik, aber sie wird sehr mit Bedacht angewandt. Wären die Engländer überzeugt, eine große aufständische Bewegung werde mit dem Ziel vorbereitet, durch massiven Druck ihre augenblickliche strategische Überlegenheit zu vernichten (welche in gewissem Sinne darin besteht, dass sie auf inneren Linien manövrierfähig sind und ihre Kräfte auf den "sporadisch" gefährlichen Punkt konzentrieren können). indem sie durch die Masse erdrückt werden - wenn man die Engländer also zu zwingen gedächte, ihre Kräfte auf einem allgemeinen Kriegsschauplatz zu zersplittern, so läge es in ihrem Interesse, das verfrühte Losschlagen der indischen Streitkräfte zu provozieren, um die allgemeine Bewegung ausfindig und dann führerlos zu machen. So wäre für Frankreich günstig, wenn die deutsche nationalistische Rechte in einen abenteuerlichen Staats- streich verwickelt werden könnte, wodurch die ver- mutete illegale Militärorganisation notwendiger- weise vorzeitig zutage träte, was eine - vom französischen Standpunkt aus - rechtzeitige Intervention erlaubte. Deshalb erfordert bei diesen Formen des gemischten Kampfes im Grunde militärischen und überwiegend politischen Charakters (aber jeder politische Kampf hat immer etwas von einem militärischen Substrat) der Einsatz von Sturmtruppen eine neuartige taktische Entwicklung, zu deren Konzeption die Kriegserfahrung nur eine Anregung, aber kein Modell liefern kann.

Gesondert muß die Frage der balkanischen "Komitadschi" betrachtet werden, die durch spezifisch physisch-geographische Gegebenheiten bedingt sind. durch die Struktur der ländlichen Klassen und auch durch die Wirkung der Regierungen. So sind Kriegs- form und Organisation der irischen Aufständischen von der Sozialstruktur des Landes abhängig. Die "Komitadschi", die Iren und die anderen Formen des Partisanenkrieges sind von der Frage der Sturmtruppen zu trennen, obwohl scheinbar Berührungs- punkte bestehen. Diese Kampfformen sind charakteristisch für schwache und erbitterte Minderheiten gegenüber gut organisierten Mehrheiten, während die moderne Sturmtruppenstrategie eine große Reservetruppe voraussetzt, die aus verschiedenen Gründen unbeweglich, jedoch potentiell wirksam ist, die Sturmtruppen unterstützt und sie auffrischt, indem jeweils Kräfte individuell überstellt werden.

Das Verhältnis zwischen den Sturmtruppen und der gesamten Armee während der Jahre 1917 - 1918 kann die politische Führung zu verfehlten Kampfmaßnah- men verleiten und hat es bereits getan.

Man vergißt:

1. Daß die Sturmtruppen einfache taktische Formationen sind und eine zwar wenig wirksame, aber nicht völlig unbewegliche Armee voraussetzen; denn wenn auch Disziplin und militärischer Geist so erschlafft sind. daß eine neue taktische Disposition ratsam scheint, so sind sie doch noch im gewissen Umfang vorhanden, und ihnen entspricht genau die neue taktische Formation der Sturmtruppen; sonst wären ohne weiteres Niederlage und Flucht die Folge.

2. Daß man nicht die Sturmtruppentaktik als ein Zeichen des allgemeinen Kampfgeistes des Heeres betrachten darf, sondern als Anzeichen der Passivität und der relativen Demoralisierung.

Diese Aussage schließt das allgemeine Kriterium, wonach Vergleiche zwischen militärischer Kunst und Politik immer mit eingeschränkter VeralIgemeinerung aufzustellen sind, ein. das heißt, nur als Anreiz zum Denken und als vereinfachende Begriffe benutzt wird sie unsinnig. Tatsächlich fehlen bei der politischen Miliz die unerbittlichen Strafmaßnahmen gegenüber denen, die Fehler begehen oder nicht genau gehorchen. Es fehlt das Kriegsgericht, abgesehen davon, daß politische Gruppierungen nicht einmal entfernt mit militärischen Formationen zu vergleichen sind.

 ( UNTERSCHIEDE )

Außer dem Bewegungskrieg und dem Belagerungs- und Stellungskrieg gibt es im politischen Kampf andere Formen. Die wirkliche, moderne Strategie der Sturmtruppen ist typisch für den Stellungskrieg, wie sich 1914-1918 erwies. Auch frühere Bewegungs- und Belagerungskriege kannten im gewissen Sinne ihre Sturmtruppen: die leichte und schwere Kaval lerie; die Schützen usw. Die beweglichen Waffen- gattungen hatten im allgemeinen die Aufgabe von Sturmtruppen. So ist in der Kunst. Patrouillen zu bilden, der Keim zur modernen Sturmtruppe gelegt. und zwar mehr als im Bewegungskrieg, im Belagerungskrieg mit seinem ausgedehnten Patrouillen- dienst und vor allem der Kunst, mit ausgewählten Truppen plötzliche Ausbrüche und blitzschnelle Sturmangriffe zu organisieren. Weiterhin ist zu beachten:

Im politischen Kampf dürfen nie die Kampfmethoden der herrschenden Klassen nachgeäfft werden, da man dabei leicht in einen Hinterhalt gerät.

In den gegenwärtigen Kämpfen zeigt sich sehr oft dieses Phänomen: Eine geschwächte Staatsorganisation ist wie ein entkräftetes Heer. Es treten Sturmtruppen auf. das heißt die privaten bewaffne- ten Organisationen. Sie haben eine doppelte Aufgabe. Während der Staat die Legalität scheinbar aufrechterhält, benutzen sie die Illegalität als Mittel zur Reorganisation des Staates selbst. Zu glauben, man könne der privaten illegalen Aktivität eine andere ähnliche Aktivität entgegensetzen, ist dumm. Es hieße zu glauben, daß der Staat ewig unbeweglich bliebe, was nie geschieht, abgesehen von verschiedenen anderen Umständen.

Der Klassencharakter der Gesellschaft bedingt einen grundlegenden Unterschied: Eine Klasse, die täglich zu festen Zeiten arbeiten muß, kann keine spezialisierten dauerhaften Angriffsorganisationen haben wie eine Klasse, die über weitreichende finanzielle Mittel verfügt und deren Mitglieder alle nicht an eine feste Arbeit gebunden sind. Zu jeder Tages- und Nachtzeit können diese professionell gewordenen Organisationen entscheidende Schläge ausführen und überraschend eingreifen. Die Taktik der Sturmtruppen kann also für bestimmte Klassen nicht die Bedeutung haben wie für andere. Weil ihnen entsprechend, ist der Bewegungskrieg für bestimmte Klassen notwendig, der im Falle des politischen Kampfes nutzbringend und vielleicht un- verzichtbar mit der Taktik der Sturmtruppen kombiniert werden kann. Jedoch am militärischen Modell festzuhalten ist dumm, denn die Politik muß auch hier der militärischen Seite überlegen sein. Nur die Politik schafft die Möglichkeit der Bewegung und des Manövrierens.

Aus all dem Gesagten geht hervor, daß bei der militärischen Sturmtruppentaktik zwischen der technischen Funktion einer besonderen - mit dem modernen Stellungskrieg verbundenen Waffengattung - und ihrer politisch-militärischen Funktion zu unter- scheiden ist. Sturmtruppen hat es als spezielle Waffengattung in allen Armeen des Weltkrieges gegeben. Politisch-militärische Funktionen hatten sie in politisch inhomogenen und geschwächten Ländern. Dies drückte sich in einer wenig kampfbereiten Armee und einem in der Karriere versteinerten, bürokratischen Generalstab aus.

( ÜBER ROSA LUXEMBURG )

Beim Vergleich von Bewegungs- und Stellungskrieg in der Kriegskunst und den entsprechenden Begriffen in der Politik ist an die Broschüre von 1906 "Massenstreik - Partei und Gewerkschaften" von Rosa Luxemburg - 1919 von C. Alessandri ins Italienische übersetzt - zu erinnern.

Ein wenig voreilig und auch oberflächlich werden die historischen Erfahrungen von 1905 in dieser Broschüre theoretisch abgehandelt. Rosa Luxemburg vernachlässigte in der Tat die organisatorischen und auf freien Willen beruhenden Elemente, die in diesen Ereignissen viel verbreiteter und wirksamer waren, als die Autorin aufgrund eines gewissen ökonomischen und spontaneistischen Vorurteils glauben wollte. Dennoch ist diese Schrift - wie auch andere Aufsätze der Autorin - eine der her- ausragendsten Dokumente dafür, wie die Theorie des Bewegungskrieges auf die Kunst der Politik über- tragen wird. Das unmittelbare ökonomische Element (Krise usw.) wird als Feldartillerie angesehen, die im Krieg eine ausreichend breite Bresche in die feindlichen Verteidigungslinien schlägt, damit die eigenen Truppen eindringen und einen endgültigen strategischen Erfolg oder im strategischen Sinne einen wichtigen Erfolg erreichen können.

Natürlich wird die Wirksamkeit des ökonomischen Moments in der Geschichtswissenschaft für weitaus umfassender gehalten als die schwere Artillerie im Bewegungskrieg, weil dieses Moment als doppelt wirksam konzipiert war:

1. Es sollte eine Bresche in die feindlichen Verteidigungslinien geschlagen werden, nachdem der Feind selber in Verwirrung geraten ist und ihm sein Selbstvertrauen und das Vertrauen in seine Kräfte und seine Zukunft genommen waren.

2. Es sollten blitzschnell die eigenen Truppen organisiert. Kader geschaffen oder die schon vom allgemeinen historischen Prozeß bereitgestellten an die Stelle der verstreuten Truppen gestellt werden.

3. Gleich schnell sollte die ideologische Konzentration im Hinblick auf die Identität des Zieles geschaffen werden.

Es war eine Form von ehernem ökonomistischen Determinismus. Erschwerend kam hinzu. daß die Wirkungen als äußerst rasch in Raum und Zeit gedacht waren. Deshalb war Rosa Luxemburgs Buch wirklich und wahrhaftig ein Fall von historischem Mystizismus - war es die Erwartung einer Art von zauberhaftem Blitzschlag.

(ÜBER BÜRGERLICHE MILITÄRSTRATEGIEN )

Höchst unsinnig und absurd angesichts der enormen Entwicklung der Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer - bei großen Sumpf- und Waldgebieten - ist die von General Krasnow in seinem in den 20er Jahren erschienenen Roman "Vom Kaiseradler zur roten Fahne" gemachte Bemerkung, daß die Entente. die keinen Sieg des zaristischen Rußlands wollte, damit die orientalische Frage nicht end- gültig zugunsten des Zarismus gelöst werde, dem russischen Generalstab den Schützengrabenkrieg aufzwang. In Wirklichkeit versuchte das russische Heer den Bewegungs- und Durchbruchskrieg besonders im österreichischen Abschnitt - aber auch in Ostpreußen - und hatte dabei brilliante, wenn auch nur zeitweilige Erfolge.

Wahr ist, daß man sich die Form des Krieges nicht, wie man es möchte, wählen kann. Es sei denn. man habe sofort eine erdrückende Überlegenheit über den Gegner. Es ist bekannt, wie viele Verluste die Verbohrtheit der Generalstäbe gekostet hat. weil sie nicht einsehen wollten, daß der Stellungskrieg durch das allgemeine Verhältnis vieler gegensätzlicher Kräfte auf gezwungen wurde. Der Stellungs- krieg besteht tatsächlich nicht allein aus den Schützengräben und Verschanzungen, sondern auch aus dem gesamten industriellen und organisatorischen System im Hinterland der kämpfenden Armee. Der Stellungskrieg wird besonders durch das Schnellfeuer der Kanonen, Maschinengewehre und Karabiner bestimmt, durch die Konzentration der Waffen an einem bestimmten Punkt und außerdem noch durch die Fülle des Nachschubs, der den schnellen Ersatz des verlorenen Materials nach einem Durch- bruch oder einem Rückzug möglich macht.

Ein anderes Element ist die große am Aufmarsch beteiligte Kasse Menschen, die sehr heterogen Ist und deshalb nur als Masse operieren kann. Man sieht, wie der Einbruch in den deutschen Abschnitt an der Ostfront unterschiedlich zu dem in den österreichischen war. und wie auch im österreichischen Abschnitt, der durch ausgewählte deutsche und von Deutschen geführte Truppen verstärkt wur- de, die Einbruchstaktik letztlich fehlschlug. Das- selbe sah man im polnischen Krieg von 1920. als der unaufhaltsam scheinende Vormarsch vom General Weygand auf der von französischen Offizieren befehligten Linie aufgehalten wurde. Die Militärspezialisten, die sich heute auf den Stellungskrieg festgelegt haben wie zuvor auf den Bewegungskrieg. werden sicher nicht behaupten, daß die vorangegangene Art von Kriegsführung wissenschaftlich über- holt ist, sondern daß diese in den Kriegen zwischen den industriell und zivilisatorisch am meisten fortgeschrittenen Ländern mehr auf eine taktische als strategische Funktion reduziert ist und etwa die gleiche Position einnimmt, die früher der Bewegungskrieg zum Belagerungskrieg hatte.

( FOLGERUNGEN FÜR DIE POLITISCHE STRATEGIE )

Die gleiche Reduktion muß in der Kunst und Wissenschaft der Politik erfolgen, zumindest was die fortgeschrittenen Staaten anbelangt, wo die bürgerliche Gesellschaft zu einer sehr komplexen, den katastrophenhaften Einbrüchen des unmittelbar ökonomischen Elements (Krisen. Depressionen usw.) gegenüber widerstandsfähigen Struktur geworden ist.

Die Überbauten der bürgerlichen -Gesellschaften sind wie das Grabensystem des modernen Kriegs. Wie es hier vorkam, daß ein heftiger Artillerieangriff das ganze Verteidigungssystem zerstört zu haben schien, in Wirklichkeit aber nur die äußere Hülle zertrümmert hatte und im Augenblick des Angriffs und des Vordringens die Angreifer sich noch einer wirksameren Verteidigungslinie gegenübersahen, so geschieht es in der Politik während großer ökonomischer Krisen. Durch die Auswirkungen der Krise organisieren sich die angreifenden Truppen weder blitzschnell in Raum und Zeit. und noch weniger eignen sie sich einen aggressiven Geist an. Umge- kehrt werden die Angegriffenen nicht demorali- siert, noch verlassen sie ihre Verteidigungslinie. selbst wenn diese in Trümmern liegt, noch verlie- ren sie das Vertrauen in die eigene Kraft und in die eigene Zukunft. Gewiß, die Dinge werden nicht so bleiben, aber sicherlich wird das Element der Schnelligkeit, des beschleunigten Tempos, des end- gültigen Vormarsches, wie die Strategen des politischen Cadornismus es sich erhoffen, fehlen. [General Cardorna hatte im l. Weltkrieg 11 verlustreiche Offensivschlachten befehligt.]

( ÜBER TROTZKI - LENIN UND DIE OKTOBERREVOLUTION )

Die letzten diesbezüglichen Ereignisse in der Geschichte der Politik sind die Geschehnisse von 1917 gewesen. Sie haben eine entscheidende Wende in der Geschichte der Kunst und Wissen schaft der Politik herbeigeführt. Deshalb kommt es darauf an gründlich zu untersuchen, welches die Elemente der bürgerlichen Gesellschaft sind. die den Verteidigungssystemen des Stellungskrieges entsprechen. Mit Absicht sei hier von "gründlich" gesprochen, denn sie wurden zwar studiert,

  • aber unter oberflächlichen und banalen Gesichtspunkten. so wie einige Forscher die Verrücktheiten der weiblichen Mode studieren.
  • oder aber vom "rationalistischen" Standpunkt aus, das heißt aus der Überzeugung heraus, das bestimmte Phänomene beseitigt sind. kaum daß man sie für "realistisch" erklärt hat. als ob diese Phänomene volkstümliche, abergläubische Vorstellungen seien, die wiederum nicht dadurch beseitigt werden, indem sie erklärt werden.

Auch die Frage , warum in den Gewerkschaften neue Strömungen so wenig Erfolg hatten, gehört zu dieser Gruppe von Problemen.

Auch der von Trotzki am 14.11.1922 auf dem IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale unternommene Versuch zielte auf die Revision der taktischen Methoden ab. als er einen Vergleich zwischen der Ostfront und der Westfront zog: Jene Front fiel sofort, doch folgten unerhörte Kämpfe, wohingegen an dieser Front die Kämpfe früher auftreten.

Es geht also darum, ob die bürgerliche Gesellschaft vor oder nach dem Angriff Widerstand lei- stet. wo der Angriff stattfindet usw.. Die Frage wurde jedoch nur in einer glänzenden literarischen Form, ohne praktische Hinweise gestellt.

Es bleibt abzuwarten, ob die berühmte Theorie Trotzkis über die Permanenz der Bewegung nicht die politische Widerspiegelung der Theorie des Bewegungskriegs - es sein die Beobachtung des Kosakengenerals Krasnow erinnert — und somit letztlich die Widerspiegelung der allgemeinen ökonomisch-kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen eines Landes ist, in dem das Gefüge des nationalen Lebens embryonal und unbedingt ist und nicht Graben oder Festung werden kann. In diesem Falle könnte man sagen, daß Trotzki. der offenbar ein westlich Eingestellter zu sein schien, eigentlich ein Kosmopolit war. das heißt oberflächlich national und oberflächlich westlich und europäisch. Lenin dagegen war zutiefst national und zutiefst europäisch. 

In seinen Memoiren erinnert Trotzki daran, daß ihm gesagt wurde seine Theorie habe sich nach 15 Jahren als gut erwiesen, und er antwortet auf ein Epigramm mit einem anderen Epigramm. In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder 15 Jahre vorher noch 15 Jahre nachher gut; Wie alle Verbohrten, von denen Guicciardini spricht, ahnte er in groben Zügen, das heißt, er hatte Recht inbezug auf die allgemeinste praktische Vorhersage: Wie wenn man vorhersagt, daß ein vierjähriges Mädchen einmal Mutter werden wird und wenn sie es mit 20 Jahren dann wird, erklärt man "Ich habe es voraus- gesagt". Wobei jedoch nicht erinnert wird, daß man damals das Kind vergewaltigen wollte, sicher, daß sie Mutter würde.

Mir scheint. Lenin hatte verstanden. daß eine Wendung vom Bewegungskrieg, der 1917 im Osten erfolgreich war. zum Stellungskrieg, als dem im Westen einzig möglichen, nötig war, wo - wie Krasnow bemerkt - die Armeen auf engem Raum unbegrenzte Men- gen von Munition aufhäufen, wo gesellschaftlichen Strukturen von selbst zu wohl ausgerüsteten Schützengräben werden konnten. Dies, so scheint mir, ist die Bedeutung der Formel von der Einheits- front, die der Vorstellung einer einzigen Front der Entente unter dem alleinigen Kommando von Foch entspricht.

Nur hatte Lenin nicht die Zeit, seine Formel zu vertiefen, wobei zu bedenken ist. daß er sie nur theoretische vertiefen konnte, während die Hauptaufgabe national war. nämlich, das Terrain mußte sondiert und die von der bürgerlichen Gesellschaft gebildeten Schützengraben- und Befestigungselemente mußten erkundet werden. Im Osten war der Staat alles, die bürgerliche Gesellschaft steckte in ihren Anfängen und ihre Konturen waren fließend. Im Westen herrschte zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis und. erzitterte der Staat, so entdeckte man sofort die kräftige Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat war ein vorgeschobener Schützengraben. hinter dem eine robuste Kette von Befestigungswerken und Kasematten lag, natürlich mehr oder weniger von Staat zu Staat, aber gerade dies erforderte eine eingehende Erkundung nationalen Charakters.

Trotzkis Theorie kann mit der Auffassung gewisser französischer Syndikalisten über den Generalstreik und Rosa Luxemburgs Theorie verglichen werden. Rosa Luxemburgs Broschüre und ihre Theorien haben übrigens die französische Gewerkschaft beeinflußt, wie aus gewissen Artikel von Alfred Rosmer über Deutschland in der Zeitschrift "La Vie Ouvriere" zuersehen ist. Das liegt teilweise an der Spontaneitätstheorie.

( STRATEGISCHE KONSEQUENZEN ) (*)

AUCH AUF DEM POLITISCHEN GEBIET ÜBERGANG VOM BEWEGUNGSKRIEG UND VOM FRONTALANGRIFF ZUM STELLUNGSKRIEG. Dies scheint mir die wichtigste Frage politischer Theorie, die nach 1918 gestellt wurde und die sehr schwer richtig gelöst werden kann. Sie ist verbunden mit den von Trotzki aufgeworfenen Fragen, der in gewisser Weise als der politische Theoretiker des Frontalangriffs betrachtet werden muß. in einem Zeitabschnitt, in dem dieser nur Niederlagen verursachen kann. Nur indirekt ent- spricht dieser Übergang in der politischen Wissenschaft dem auf militärischem Gebiet, obwohl sicher eine wesentliche Verbindung besteht.

Der Stellungskrieg fordert enorme Opfer von den unendlichen Massen der Bevölkerung. Deswegen ist eine unerhörte Konzentration der Hegemonie notwendig und daher auch eine mehr interventionistische Regierungsform, die offener die Initiative gegen die Opponenten ergreift und permanent die Unmöglichkeit eines inneren Zerfalls organisiert. Politische und administrative Kontrollen jeglicher Art, Verstärkung der hegemonialen Position der herrschenden Gruppe usw.

All das zeigt, daß man in eine kulminierende Phase der historisch-politischen Situation eingetreten ist, weil in der Politik der einmal gewonnene Stellungskrieg endgültig entschieden ist. In der Politik dauert der Bewegungskrieg an, solange Positionen, die entscheidend sind, besetzt werden müssen und daher nicht alle Hilfsquellen der Hegemonie des Staates mobilisierbar sind. Wenn aber aus dem einen oder anderen Grund diese Positionen ihren Wert verloren haben und nur die wichtigsten Positionen entscheidend sind, so findet diese Wendung zum schwierigen, konstruierten Belagerungskrieg statt, der ein außergewöhnliches Maß an Mut und Erfindungsgabe erfordert. In der Politik ist allem Anschein zum Trotz die Belagerung wechselseitig, und die bloße Tatsache, daß der Herrschende alle Hilfsquellen aufwenden muß, beweist, wie er seine Gegner einschätzt.

POLITIK UND MILITÄRKUNST. Die Taktik der großen Massen und die Taktik der kleinen Gruppen. Sie gehört in den Rahmen der Diskussion über Stellungskrieg und Bewegungskrieg, soweit sie sich in der Psychologie der großen Strategen und der Untergebenen widerspiegelt. Diese Diskussion ist auch - wenn man so sagen darf - der Verbindungs- punkt zwischen Strategie und Taktik, sei es in der Politik wie in der Kriegskunst. Der Einzelne - auch als Teil großer Massen - neigt instinktiv dazu, den Krieg als Partisanenkrieg oder als qaribaldinischen Krieg aufzuffassen, der ein höherer Aspekt des Partisanenkriegs ist. In der Politik entspringt dieser Irrtum aus einem ungenauen Verständnis dessen, was der Staat - DIKTATUR plus HEGEMONIE - ist. Im Krieg gibt es einen ähnlichen Irrtum, der ins feindliche projiziert wird - Unverständnis nicht allein des eigenen, sondern auch des feindlichen Staates. In dem einen wie dem an- deren Falle ist die Ursache für diesen Irrtum in inviduellen Partikularismus, in Kirchtumspolitik und Kantönligeist zu suchen. Sie führen dazu, den Gegner und seine Kampforganisation zu unterschätzen. 

Neubearbeitet im Sommer 1987

*) Dieser Text erschien 1987 im westberliner info 3/87 als eigenständige Bearbeitung des wi-Redaktionskollektiv auf der Basis der damals zugänglichen "Kerker-Hefte" des Antonio Gramsci. Weitere editoriale Hinweise erfolgen mit dem nächsten Update, wo der der wi-Artikel "Antonio Gramsci - Zu Person und Werk" hier virtuell reprinted wird.