Charlotte Schulz 
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Das wöchentliche Berlin-Info der autonomen und unabhängigen linksradikalen Szene, die Interim, stellt hiermit einen Teil des Editorials der Ausgabe vom 4. Mai 2000 als Vorabveröffentlichung den Medien zur Verfügung.

l. Mai - Straße frei

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Der Tag der Arbeit ist vorbei. 15.000 bis 20.000 Teilnehmerinnen bei der abendlichen revolutionären l.-Mai-Demo sorgten für ein eindrucksvolles Bild. Die offizielle DGB-Demonstration war dagegen blaß und - wie schon seit Jahren - wesentlich schlechter besucht. Und die Beamten der Berliner Polizei prügelten wieder hunderte von Menschen krankenhausreif.

Die Demonstrantinnen ließen sich nicht von der Hetze des Berliner Innensenators Werthebach davon abhalten. ihre grundsätzliche Ablehnung des Kapitalismus und dieses Staates deutlich zu zeigen. Sie repräsen­tierten ein buntes Bild der linksradikalen Bewohnerinnen dieser Stadt. Sommerlich gekleidet und gut gelaunt gingen jung und alt auf die Straße. Ein schwarzer Block war nicht nötig, da sich alle Beteiligten in ihrer Ablehnung dieses Systems einig wußten. Lediglich der Veranstalter, die AAB. war ein wenig störend, weil sie die Menge für sich vereinnahmen wollte.

Dementsprechend verhielt sich auch die Polizei, die den Auftrag der Berliner Regierung gerne erfüllte. Mit der ganzen Härte des Gesetzes sollte der harte Kern getroffen werden, wie Werthebach ankündigte. Wir verstehen es dabei ganz richtig, daß er nicht nur Straf­taten verfolgen will, sondern eine linksradikale politische Gesinnung. Wenn er sich wenigstens an das Grundgesetz halten würde, aber das ist ihm und den Herrschenden hier eher hinderlich. Die möglichen Gesetzesänderungen liegen in der Schublade. Und der l. Mai ist keineswegs Anlaß für diese Überlegungen. sondern massenhafte Ablehnung dieses Staates ist der Grund für diese Planungen. Manchmal kommen wir uns als die letzten Hüter des deutschen Grundgesetzes vor...

Aber zurück zum l. Mai. Die Provokationen gingen massiv vom Senat aus. Erst das Verbot, durch Teile der Innenstadt laufen zu dürfen. Dann der Zwang, eine bestimmte Route laufen zu müssen (wir warten auf den Tag, an dem Demos nur noch im Fußballstadion mit Einlaßkontrolle stattfinden dürfen). Als nächstes die Besetzung traditionell widerständischer Orte in Prenzlauer Berg durch Polizeifeste. Dann der Morgen in Hellersdorf. Zum ersten Mal seit den Zeiten des längst verstorbenen Kewenig - die Hölle habe ihn fest im Griff -  wurde ein Bezirk wieder fast vollständig abgeriegelt. Tausende angeblich links Aussehende wurden an den Grenzen abgewiesen. Ein Protest nicht zugelassen. 150 wurden bereits am Vormittag festge­nommen, damit die rechtsextreme NPD ihren Auf­marsch ohne Widerspruch durchziehen konnte. Ledig­lich zweihundert Autonome und Gewerkschafterinnen konnten die Sperren umgehen und den Nazis ihren Protest entgegenrufen und -pfeifen. Selbst beim offiziellen Bezirksfest gegen Rechtsradikalismus waren nur wenige hundert Teilnehmerinnen. Wir können nur feststellen, daß die Gesellschaft versagt hat. wenn sich nur wenige Linksradikale den zunehmend öffentlich präsenten Nazis entgegenstellen, während die Polizei jeden weiteren Protest im Keim ersticken w ill. Dabei versagen natürlich auch die bürgerlichen Linken und Liberalen, die Antifaschismus nicht als ihr Thema sehen und deshalb jede gemeinsame Aktion gegen Nazis ablehnen.

Abends nun ein belagertes Kreuzberg. Bewaffnete grüne Horden an jeder Ecke. ebenso reichlich bewaff­nete Beamte in Zivil, die jeder erkennt (nur die Medien nicht). Möglichst abschreckende Vorkontrollen mit Leibesvisitationen. Festnahmen, beschlagnahmten Lautsprecherwagen und Transparenten Politische Inhalte müssen schon sehr gefährlich sein Eine große Demo mit einem leider immer wieder gleichen Ende Sinnlos drauflosstürmende Bullen prügeln sich durch die Menge. Einen Anlaß finden sie immer. vielleicht sollten sie einfach die Straßenseite wechseln. Nach der dritten Prügelorgie und zahlreichen Verletzten am Oranienplatz haben die meisten Demonstrant Innen genug und hielten dagegen. Mit Panzern. Wasserwerfern und Tränengas pflügte sich die Polizeimacht durch die Straße. Autonome und Antifas können mal wieder die neueste Polizeitaktik studieren. Nach Augenschein scheint Werthebach ein Looser zu sein. weil er seine Bullen immer wieder ins offene Messer rennen läßt. Viele Demonstrantinnen schaffen es. mal hier und mal da eine Horde Bullen in die Flucht zu schlagen. Am Schluß bleiben bleiben aber hunderte von verletzten Demonstrantinnen zurück, weil die Ordnungshüter bis zum bitteren Ende die Ordnung hüten. 226 verletzte Bullen klingen eindrucksvoll, aber nur 20 gingen am­bulant zur Behandlung, die schlimmste Verletzung ein ausgekugelter Arm. Der Rest mit blauen Flecken, das ist halbwegs lächerlich. Wir wurden kaum wagen, so etwas unseren Freundinnen zu erzählen, während Werthebach damit prahlt.

Nachdem letztes Jahr der auf einem Kopf zersplitternde Schlagstock eines Bullen in Medien und Öffent­lichkeit für Aufruhr sorgte, ließ die Bullenführung diese Waffe heute zuhause. Sie wissen, daß Faust­schläge und Stiefeltritte genauso schwere Verletzungen

hervorrufen. Nur sehen diese im Fernsehen immer so schön harmlos aus und rufen keine stark blutenden Platzwunden hervor, Barrikadenbau und Steinwürfe gegen die vorrückenden Bullen sind die Folge. Prak­tisch wenig Sachschaden, da in der Oranienstraße nur kleine Läden sind, die sich deshalb auch nicht mit Brettern vor ihren Scheiben schützen mußten und bis­weilen solidarisch sind. Dafür Angriffe auf Banken und Plünderungen im Supermarkt. Nicht viel, aber eindeutig.

Wie oft soll man sich die Prügeleien der Bullen noch gefallen lassen? Die Gesichter unter den weißen Hel­men sind von blankem Haß geprägt. Knallrot angelaufen und aggressiv trampeln sie über alle Menschen hinweg. Aufgeheizt von der Berliner Polizeiführung steht ihr Feind links. Deutlich ist es auf der Straße zu sehen, wie sie einfach aus Lust auf Gewalt auf wehrlose Menschen eindreschen. Gedeckt von Kollegen. Führung und Korpsgeist brauchen sie keine Hemmungen zu haben. Falls doch mal Stimmen gegen diese Methoden laut werden, werden Untersuchungen und Ermittlungen eingeleitet, um die Öffentlichkeit zu beruhigen Wenn nach ein paar Monaten danach kein Hahn mehr kräht, können diese dann sang- und klanglos eingestellt werden.

Gleichzeitig sitzen am Tag danach noch über hundert Menschen im Knast, von denen ein Teil dem Haftrichter vorgeführt werden wird. Wir fordern hier noch nachdrücklich: Freiheit für alle Gefangenen der revolutionären l -Mai-Demo.

Zum Schluß wollen wir gerne ein Beispiel für eine gelungene Polizeitaktik hervorheben: die Nacht des l Mai 1987 in Kreuzberg. In dieser Nacht zogcn sich die Beamten einfach aus dem Stadtteil zurück. woraufhin es gleich viel weniger Verletzte gab und die gesellschaftliche Umverteilung zugunsten der Armen beginnen konnte.