Waldorfschulen "rassistisch geprägt?"
Von Mariette Schäfer

veröffentlicht in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung vom 30.März 2000
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"1942 war die Wannsee-Konferenz. Bei dieser Konferenz wurde die endgültige Vernichtung der Juden durch Arbeit bei unzureichender Ernährung beschlossen. Der Restbestand der Juden wurde durch Gas vernichtet."

Dies Sätze stammen aus einem 9. Klasse Geschichtsheft einer bayerischen Waldorfschule. Das Heft beschäftigt sich mit der Zeit des Nationalsozialismus. Unter der Überschrift "Die Juden im 3.Reich" finden sich genau sieben Sätze, den Abschluß bilden die oben zitierten. Daß es sich hier nicht etwa um die sprachlichen Kapriolen eines unaufmerksamen Schülers handelt, zeigt das handschriftliche Lob des Lehrers unmittelbar unter der Heftpassage. "Es fehlt Hitlers Judenbild, sonst gut."

Das Wort "Restbestand" im Zusammenhang mit der Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden hat bei der kontrollierenden Lehrkraft anscheinend keinerlei Unbehagen ausgelöst. Im übrigen kommen Begriffe wie Konzentrationslager, Holocaust, Auschwitz, Gaskammern, Deportationen oder Massenmord in diesem Schulheft nicht vor.
Waldorfschüler lernen weitgehend ohne Bücher. Statt dessen dokumentieren die Schüler den Lehrstoff ausführlich in ihren Heften. Das zitierte Waldorfschul-Heft ist ein Einzelfall. Doch nicht der einzige. Seit ein Beitrag der Sendung "Report aus Mainz" andere Geschichtshefte aus Waldorfschulen zeigte, in denen umgedrehte Hakenkreuze und Begriffe wie "Arier", "Arierwanderungen" und "Arieropferfeuer" auftauchen, sind Waldorfschulen in die Diskussion geraten. In der gleichen Sendung berichteten enttäuschte Mütter, daß Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie und der Waldorfschulen als eine Art Führerfigur verherrlicht werde und daß sie die Schule als "rassistisch geprägt" empfunden hätten.

"Diffamierende Meinungsmache" sei der Bericht, so eine Pressemitteilung des "Bundes der Freien Waldorfschulen" am 3.3. 2000. Als "ausgesprochen infam" wertete man in dieser Mitteilung insbesondere eine Aussage des Schweizers Samuel Althof in dem Beitrag. Der Sprecher der Basler Initiative "Aktion Kinder des Holocaust", die sich seit einigen Jahren mit dem Thema Antisemitismus in der Anthroposophie auseinandersetzt, hatte festgestellt, daß ihm zunehmend über antisemitische Diskriminierungen an Waldorfschulen berichtet werde.

Die Aussagen von Samuel Althof werden nun auch von Paul Spiegel, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland bestätigt. In der Sendung "Wortwechsel" am 19.3.2000 im SWR sagte Paul Spiegel in Bezug auf die Waldorfschulen: "Seit ungefähr anderthalb Jahren wird mir von antisemitischen Vorfällen berichtet, aus verschiedenen Städten. Bisher konnte ich nicht aktiv werden, da die Eltern, die mir davon erzählt haben, nicht bekannt werde wollten. Deshalb konnte ich bisher nichts tun."

Fälle von antijüdischen Diskriminierungen an Waldorfschulen sind auch Rabbiner Joel Berger dem Sprecher der Rabbiner-Konferenz bekannt. Vor einigen Jahren baten ihn zum Beispiel zwei seiner Schülerinnen um ein vertrauliches Gespräch. Sie besuchten eine Waldorfschule und wurden dort massiv mit antijüdischen Stereotypen konfrontiert. Jüdisch zu sein - so vermittelten ihnen einige Lehrer - sei nicht in Ordnung, bedeute einer Religion anzugehören, die zersetzend und abstrakt sei. Die Diskriminierungen hatten allerdings - wie Rabbiner Berger feststellt - letztlich doch noch eine positive Auswirkung: Seine Schülerinnen hätten sich gerade durch diese Erlebnisse besonders stark mit dem Judentum identifiziert.

Auch einer ehemaligen Lehrerin für jüdische Religion aus Nordrhein-Westfalen ist eine Waldorfschule in schlechter Erinnerung. Während des Golfkrieges z.B. wurden ihre Schüler dort massiv unter Druck gesetzt. Sie galten als die Repräsentanten Israels und waren antisraelischen Attacken ausgesetzt. An keiner anderen Schule - so erinnert sich die Religionslehrerin - hätten ihre jüdischen Schüler jemals ähnliche Angriffe erlebt.
Der Basler Theologieprofessor Dr. Ekkehard Stegemann beschäftigt sich seit einigen Jahren mit antisemitischen Stereotypen in der Anthroposophie. Laut Stegemann sah schon ihr Begründer Rudolf Steiner im Judentum eine überholte Religion. So heißt es bei Steiner u.a.: "Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte." ( Zitat aus: Rudolf Steiner Gesamtausgabe Band 32 ).

Rabbiner Joel Berger erscheint es besonders problematisch, daß in der Anthroposophie auch Theorien über den Zusammenhang zwischen Seelenwanderung und Holocaust verbreitet werden. Der Grund dafür ist, daß Rudolf Steiners Anthroposophie unter anderem auf der Annahme beruht, daß der Geist jedes Menschen eine Reihe von Wiedergeburten durchläuft. In diesem Zusammenhang spielt auch die Idee des Karma eine Rolle - alles, was einem Menschen geschieht, steht in direktem Zusammenhang mit seiner vorherigen Existenz. In Bezug auf den Holocaust führe dies - wie Rabbiner Berger feststellt - zu einer "Verniedlichung" des Massenmordes an den Juden. Er spricht aus eigener Erfahrung. Vor ca. zwei Jahren erhielt er einen Anruf des in Stuttgart ansässigen "Forum 3" einer anthroposophischen Kultureinrichtung. Man fragte an, ob ein Rabbiner Yonassan Gershom aus den USA den Schabbat in seiner Gemeinde verbringen könne. Zuerst sah Rabbiner Berger darin gar kein Problem, als er jedoch erfuhr, welche Theorien der Gast aus Amerika bei einem Vortrag im "Forum 3" zum Besten geben wollte, war er fassungslos. Rabbiner Gershom vertrat die Überzeugung, daß die von den Deutschen ermordeten Juden inzwischen als Wiedergeborene in den USA lebten.

In eine ähnliche Richtung zielt ein Theaterstück, daß im April im "Forum 3" aufgeführt werden soll. Darin geht es unter dem Titel "Und die Wölfe heulten" um die Erlebnisse der Schwedin Barbro Karlen. Barbro Karlen, deren Bücher in anthroposophischen Kreisen weit verbreitet sind, behauptet sie sei die wiedergeboren Anne Frank. Auch dies sei - so Rabbiner Berger - eine unglaubliche Verharmlosung des Holocaust.

Für die meisten Lehrer an Waldorfschulen ist Rudolf Steiners Anthroposophie eine wichtige Leitlinie, der sie sich verpflichtet fühlen. Dies heißt nicht, daß alle Waldorflehrer Zusammenhänge zwischen Wiedergeburt und Holocaust herstellen oder im Judentum eine überholte Religion sehen. Auch Rabbiner Berger betont, daß er Schüler habe und hatte, die sich an der Waldorfschule wohl fühlten.

Trotzdem - manche Erlebnisse jüdischer Kinder an Waldorfschulen lassen sich vielleicht darauf zurückführen, daß hier Menschen unterrichten, die den oben beschriebenen Theorien nahe stehen. Dies könnte auch der Grund sein, warum in dem eingangs zitierten Geschichtsheft der Holocaust völlig übergangen wird.

Zur Zeit werden im Internet unter der Adresse www.waldorf.net  Schüler von Waldorfschulen gezielt aufgerufen, Protestbriefe an die Redaktion des Magazins "Report aus Mainz" zu schreiben. Der kritische Bericht in der Sendung am 28.2.2000 hat offensichtlich erhebliche Emotionen freigesetzt. Wir sind keine Rassisten und Antisemiten - so der Tenor der offenen Briefe. Doch eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema findet zur Zeit von Seiten der Waldorfbewegung noch nicht statt.