1.
Im öffentlichen Meinungsbild erscheint der Kosovo-Konflikt als eine
kontinuierliche Abfolge einseitig von der serbisch-jugoslawischen Seite
ausgehender Gewalt. Diese gängige Sicht ist zu undifferenziert und
unzutreffend. Sie verstellt den Blick auf die komplexen Zusammenhänge in diesem
Konflikt und verschließt von vornherein tragfähige Lösungswege.
2.
In der Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 wurde zwischen dem bewaffneten
Arm der Kosovo-Albaner (UCK) und den jugoslawischen Sicherheitskräften ein
grausamer Bürgerkrieg ausgetragen. Hauptleidtragende war die Zivilbevölkerung
auf beiden Seiten. Sie wurde für die jeweiligen Ziele instrumentalisiert und
missbraucht. Gewonnen hat diesen Krieg die militärisch hoffnungslos unterlegene
Partei, die Kosovo-Albaner. Diese schufen die Grundlagen für ihren Sieg durch
eine sehr geschickte Politik und eine effiziente Strategie, mit der sie die NATO
als mächtigen Verbündeten in den Bürgerkrieg zogen.
3.
Die serbisch-jugoslawische Führung erkannte oder verstand die Bürgerkriegssituation
offenbar nicht. Sie sah das Kosovo-Problem verengt in der Bekämpfung und
Eliminierung einer kleinen Gruppe albanischer Terroristen. Diesen Kampf führten
die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte mit äußerster Rücksichtslosigkeit
und Brutalität. Sie reagierten auf den gezielten Terror und die Gewaltaktionen
der Albaner mit massivem Gegenterror, auch gegen die albanische Zivilbevölkerung.
Dieses Vorgehen und die fortgesetzte Drangsalierung und Diskriminierung der
Albaner durch die serbische Verwaltung verschafften den militanten Albanern
immer mehr Zulauf aus der Bevölkerung; die internationale Staatengemeinschaft
ergriff zunehmend Partei zugunsten der Albaner. So schufen die Serben
letztendlich selbst einen Teil der Bedingungen, die zu ihrer Niederlage im Bürgerkrieg
führten.
4.
Auf dem Wege zu einer politischen Konfliktlösung wurde der OSZE mit der
Verifikations-Mission im Kosovo eine qualitativ neue und äußerst schwierige
Aufgabe übertragen. Die strukturellen Schwächen der OSZE, ihre unzureichende
operative Reaktionsfähigkeit bei derartigen Aufgaben, vor allem aber die ungenügende
Unterstützung durch die OSZE-Staaten hatten nachteilige Auswirkungen auf den
Erfolg der Mission. Dennoch trug sie ganz erheblich zu einer zeitweiligen
Stabilisierung der Lage und zur Einhegung der Gewalt bei. Der Abzug der Mission
aus dem Kosovo lag nicht – wie offiziell behauptet wurde – darin begründet,
dass sie ihren Auftrag nicht mehr erfüllen konnte, sondern er war eine Maßnahme
im Zuge der Kriegsvorbereitungen der NATO.
5.
In der Zeit vom Oktober 1998 bis März 1999 bestanden reale Chancen für eine
politische und friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts. Besonders groß war
diese Aussicht von Mitte Oktober bis Anfang Dezember 1998. Die jugoslawischen
Sicherheitskräfte hielten sich an die internationalen Vereinbarungen,
insbesondere auch an die Waffenruhe. Dagegen setzten die Albaner ihren
bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit des Kosovo fort. Eine einseitig gegen
die Serben gerichtete Politik der NATO-Staaten, die unterschiedliche Maßstäbe
bei der Bewertung gewaltsamer Aktionen anlegte, sowie die Unfähigkeit, die
OSZE-Mission rasch in der notwendigen Stärke vor Ort zu bringen, ließen die
Chancen dahinschwinden. Die auf beiden Seiten auf eine gewaltsame Lösung Drängenden
konnten schon bald wieder die Szene bestimmen.
6.
Die bilateralen Verhandlungen der Konfliktparteien über eine friedliche Lösung
des Konflikts gerieten in eine Sackgasse, da sowohl die Kosovo-Albaner als auch
die Serben an ihren nicht miteinander zu vereinbarenden politischen Zielen starr
festhielten. Die Serben als Staatsautorität versäumten es dabei, durch
freiwillige, substanzielle politische Zugeständnisse an die Kosovo-Albaner und
die internationale Staatengemeinschaft guten Willen zu zeigen und von sich aus
einen Prozess der Befriedung in Gang zu setzen. Die Verhandlungen in Rambouillet
und Paris waren in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung des Bürgerkriegs mit
anderen Mitteln. Dieser letzte Versuch einer politischen Lösung des Konflikts
scheiterte schließlich an der fehlenden Kompromissbereitschaft der NATO-Staaten
und der Belgrader Führung über die Leitung einer internationalen
Friedenstruppe für das Kosovo. Beide Seiten waren nicht bereit, zur Vermeidung
des Krieges diejenigen Zugeständnisse zu machen, die sie dann – nachdem
unermessliches menschliches Leid und schwere materielle Schäden angerichtet
worden waren – zur Beendigung des Krieges eingingen.
7.
Der Weg der NATO im Kosovo-Konflikt führte rasch an die Spitze der
Eskalationsleiter. Nachdem die USA Mitte 1998 ihre bis dahin ausgewogene Politik
auf einen anti-serbischen Kurs fixiert hatten, folgten die übrigen NATO-Staaten
mit nur geringen Abweichungen. Die NATO manövrierte sich – unter starker,
entschlossener amerikanischer Führung – in eine Lage, in der es um ihre
Glaubwürdigkeit, ja um ihre politische Zukunft zu gehen schien. So wurde der
Beweis politischer Geschlossenheit, militärischer Stärke und Handlungsfähigkeit
zum Leitmotiv der NATO-Politik im Kosovo-Konflikt. Eine kompromisslose Politik
der Stärke schien ja auch gegen einen militärisch weit unterlegenen und
politisch weitgehend isolierten jugoslawischen Gegner relativ risikolos zu sein.
So kennzeichnen gravierende politische und militärische Fehleinschätzungen den
Weg der NATO in den Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien.
8.
Die Politik der rot-grünen Koalition und der deutschen Regierung ist geprägt
durch ein alles überragendes Bestreben, keinerlei Zweifel an der Kontinuität
deutscher Außenpolitik, Zuverlässigkeit und Bündnissolidarität aufkommen zu
lassen. Die deutsche Haltung im Kosovo-Konflikt schien ein Testfall hierfür zu
sein. Die deutsche Politik folgte konsequent der amerikanischen Führung auf
deren pro-albanischem und anti-serbischem Kurs. Die neue Bundesregierung
demonstrierte zwar in einer schwierigen politischen Situation des Übergangs
politische Handlungsfähigkeit. Doch durch eine nahezu bedingungslose
Ausrichtung auf die amerikanische Führungsmacht begab sie sich eigenständiger
Möglichkeiten der Vermittlung in diesem Konflikt und alternativer europäischer
Konfliktlösungsmöglichkeiten.
9.
Der deutsche Bundestag wurde im Verlaufe seiner Befassung mit dem
Kosovo-Konflikt von den jeweiligen Regierungen lückenhaft, einseitig und falsch
unterrichtet. Für so schwerwiegende Entscheidungen wie die über Krieg und
Frieden scheint die Informationsbasis der Abgeordneten nach objektiven Maßstäben
völlig unzureichend gewesen zu sein. Die Beteiligung der Bundeswehr am
Luftkrieg gegen Jugoslawien erfolgte – wenn man die Äußerungen von
Regierungsmitgliedern zugrunde legt – zu Zwecken, die nur teilweise durch ein
Mandat des Bundestags legitimiert waren. Auch die aufgrund objektiver amtlicher
Analysen erkennbare Lage im Kosovo erfüllte nicht die für den Einsatz der
Bundeswehr im Mandat des Bundestags gesetzten Kriterien. Die Frage, ob der
Eintritt deutscher Streitkräfte in den Luftkrieg gegen Jugoslawien nicht außerhalb
des durch Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht gezogenen Rahmens erfolgte,
bedarf noch einer gründlichen politischen und verfassungsrechtlichen Bewertung.
10.
Eine herausragende Rolle für die Rechtfertigung des Luftkrieges der
NATO-Staaten und als Beleg für eine perfide Politik der Belgrader Führung
spielte in Deutschland der vom Verteidigungsminister präsentierte »Hufeisenplan«,
ein angeblicher Plan der jugoslawischen Führung zur Vertreibung der albanischen
Bevölkerung aus dem Kosovo. Die offensichtlichen Widersprüche und
Ungereimtheiten in den zu diesem »Plan« verfügbaren Quellen sowie die
jugoslawischen Aktionen im Kosovo in der fraglichen Zeit lassen erhebliche
Zweifel aufkommen, ob ein solcher Plan tatsächlich existierte und dem
Verteidigungsministerium vorlag. Damit erhebt sich auch die politisch wichtige
Frage, ob in dieser Sache im deutschen Bundestag und vor der deutschen Öffentlichkeit
die Wahrheit gesagt wurde.
Heinz Loquai war bis zu seiner Pensionierung vor drei Monaten
Brigadegeneral der Bundeswehr. Seit 1996 war er in verschiedenen Funktionen
Mitglied der OSZE-Mission in Wien, wo er sich u.a. mit vertrauensbildenden Maßnahmen
auf dem Balkan beschäftigte. Die hier vorgestellten Thesen sind die
Zusammenfassung einer umfangreichen Studie mit dem Titel »Der Kosovo-Krieg –
Wege in einem vermeidbaren Krieg« (Nomos, Baden-Baden 2000).
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