Exkurs: Wertgesetz und Sozialismus

von Karl Müller
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Im Marxschen Sinne reguliert und proportioniert das Wertgesetz die kapitalistische Produktionsweise. Indem der Wert einer Ware - vermittelt über den Preis - sich erst im Austausch realisiert, erfahren im Kapitalismus die Produktionsagenten im Nachhinein, ob der Arbeitsprozeß auch zum Wertschöpfungsprozeß wurde.

Da der Markt mit seinen Mechanismen der Konkurrenz gleichsam post festum den Produktionsagenten eine Revenue zuweist und dem Kapitalisten Gewinn (realisierten Wert und Mehrwert) zuführt, entstehen Krisen, weil nicht jeder Kapitalist in der Lage ist, sein vorgeschossenes Kapital (erhöht um den Mehrwert) im Austausch zurückzuerhalten. Infolgedessen polarisiert sich der gesellschaftliche Reichtum, während ein Teil der geleisteten Arbeit aus der Sicht des Kapitalisten als unnütz erscheint.

Folglich mußten im Sozialismus, verstanden als Gesellschaftsform, in der die Werktätigen über den Arbeitsprozeß selber verfügen, das Wertgesetz und der Ort seines hauptsächlichen Wirkens - der Markt - eingeschränkt, zurückgedrängt und unter der Vorstellung des Entfaltens kommunistischer Verhältnisse gänzlich aufgehoben werden. Für Stalin war dies die zentrale Linie. Und die Voraussetzungen für die Realisierung eines solchen Vorhabens schienen begünstigt durch die historischen Umstände einer (vom kapitalistischen Weltmarkt) isolierten sozialistischen Volkswirtschaft. Stalin meinte, daß es möglich sei, das Wertgesetz dadurch einzuschränken, daß der Austausch zwischen den Betrieben der Produktionsmittelindustrie nunmehr nach Verrechnungeinheiten erfolgen könnte, wobei der Preis nicht mehr Erscheinungsform des Werts sein sollte, sondern lediglich eine Rechengröße.

Nach Stalins Tod begann in der SU eine Debatte über dessen Wirtschaftskonzeption, die sich in der Öffentlichkeit allerdings als Abrechnung mit seinen "Verbrechen" darstellte. In der Chrustschow-Ära (1956-64) gab es in der SU eine Reihe von Experimenten zur Abkehr von der Stalinschen Wirtschaftskonzeption, die alle nicht griffen. Da entdeckten die SU-Wirtschaftsideologen - allen voran Herr Liberman (1963) - den Markt als eine zentrale Einrichtung des Sozialismus, wo es nun daraufankäme, ihn zu nutzen, um den einzelnen Betrieben einen "Gewinn" nach "Leistung" zu ermöglichen. Diese Konzeption eines Marktsozialismus erregte auch in anderen RGW-Ländern (z-B.Polen) reges Interesse. Hierin spiegelte sich auch wieder, daß die sozialistischen Staaten miteinander und an ihren ökonomischen Rändern mit kapitalistischen Staaten am Weltmarkt im einem Austauschverhältnis standen. D.h. der vormals abgeschottete innere Markt existierte nicht mehr und das Problem des Austausches verschiedener Wertgrößen mußte über Preise erfolgen, was wiederum nach innen auf die Preisbildung Auswirkungen hatte. Das war das historische Ende der Stalinschen Wirtschaftskonzeption - Fossilien wie Albanien ausgenommen. Zwar wurde das "liberalistische Modell" des Herrn Liberman in der Breschnew-Ära eingefroren, aber mit "Gorbi" und Deng TsiaoPing feiert es erneut eine Auferstehung  in den sozialistischen Ländern.

Die Abkehr vom Stalinschen Modell der Verrechnungeinheiten in den 60er Jahren bis heute widerspiegelte sich gerade auch auf der Ebene der Theoriebildung über das Verhältnis von Wert, Ware und Preis. So heißt es heute dazu in revisionistischer Lesart:

"Die Warenproduktion im Sozialismus, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmittel beruht, ist eine Produktionsform, die der sozialistischen Planwirtschaft angepaßt und in diese eingeordnet ist. Dauer stimm t die Warenproduktion im Sozialismus mit den grundlegenden Wesensmerkmalen des Sozialismus überein und nebt die von Marx und Enge/s sowie Lenin entwickelten spezifischen Widerspräche der privaten und kapitalistischen Warenproduktion auf. Warenproduktion, Ware-Geld-Beziehungen und damit auch das Wertgesetz sind im Sozialismus ob/ektive Beziehungen innerhalb der sozialistischen Reproduktion. "(Ware-Geld-Beziehungen im Sozialismus, Berlin / 1976, S.24)

Erstveröffentlicht im westberliner info 4/89

Leseanhang

Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der ändern zurück.

Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger Ist. Inhalt und Form sind verändert, well unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer ändern ausgetauscht.

Das gleiche Recht ist hier daher immer noch - dem Prinzip nach - das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren Hegen, während der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert.

Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem ändern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf. Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist ff'ie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem "Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem ändern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich sein.

Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.

In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkelten, jedem nach seinen Bedürfnissen! 

aus: :Marx Karl, Kritik des Gothaer Programms  MEW 19, S. 20f