Die Tugenden des Nonkonformismus

von Richard Albrecht

04/2020

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I.

In seinem sozialwissenschaftlichen Kurzesssay „Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie“[1] kritisiert/e Lewis A. Coser (1913-2003) theoretische Denkformen und praktische Arbeitsweisen akademisch-westlicher Soziologie der zweiten Hälfte des vergangenen „kurzen“ Jahrhunderts. Dabei geht es Coser vor allem um den Verfall kritischen und utopischen Denkens in dieser Soziologie einerseits und andererseits um die vor allem in der US-Soziologie unverkennbare Rückentwicklung dystopischer und antihumaner Grundrichtungen in Theorie, Empirie und Forschungspraxis:

„Nur ein hinreichend entwickeltes kritisches Potential garantiert, dass sich die Soziologie neben den manifesten sozialen Problemen auch den latenten Problemen zuwendet und so der Gefahr gesellschaftlicher Folgenlosigkeit ihrer Ergebnisse entgeht.“[2]

II.

Was gelegentlich und auch heute noch in stärkerem Englisch als theoretischer „bullshit“ und in der empirischen Forschungspraxis als „cheap ´n dirty“ gekennzeichnet wird, wird von Coser moderat/er als soziologisches „Denken“ bezeichnet, das keine „kritischen Impulse“ mehr enthält bzw. sich vor allem durchs „Fehlen der kritischen Dimension im aktuellen soziologischen Denken“ auszeichnet. Diesem intellektuellen Verfall entsprechen (angeblich akademisch) „hoch qualifizierte Computerspezialisten.“[3]

Der von Coser kritisierte Utopie- und Kritikverlust geht einher mit Desinteresse und fehlendem Rückbezug auf diesen Namen verdienende soziale Bewegungen, die gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten kämpfen. Dabei schließt Coser an den Wissenschaftssoziologen Robert King Merton (1910-2003)[4] und dessen Unterscheidung von offenen und verdeckten sozialen Funktionen hinsichtlich „manifester und latenter sozialer Probleme“ an und betont abschließend:

„Ohne den Stachel des kritischen Denkens wird [Soziologie] wie auch das gesamte soziale Gewebe in Konformität erstarren.“[5]

III.

Zehn Jahre nach meiner Promotion (1976) hatte ich als engagierter Jungwissenschaftler Gelegenheit, im Sommermester 1986 am Exil-Seminar Cosers als Gast teilzunehmen und dort zu referieren[6] (Coser lehrte ein Semester lang an der RCU Heidelberg als Max-Weber-Gastprofessor[7]). Fünf Jahre später, 1991, veröffentlichte ich meinen eigenen wissenschaftlichen Essay THE UTOPIAN PARADIGM[8] mit dem selbständigen, über Merton hinausgehenden, Forschungsansatz. [...]

    Fußnoten
    [1] Lewis A. Coser, Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie. In: Berliner Journal für Soziologie. Sonderheft 1991: 9-14
    [2] Ebenda
    [3] Ebenda 9f.
    [4] Kritisch zu Mertons Grundansatz Richard Albrecht, Der Matthäus-Effekt. In: soziologie heute, 4 (2011) 17: 28-31 [ders. DENKSCHRANKEN. Zum Leitkonzept unvorhergesehene Handlungsfolgen; in: ebenda, 12 (2020) 70: 46]
    [5] Coser, Nonkonformismus: 14
    [6] Richard Albrecht, Carl Zuckmayers amerikanische Jahre: Aspekte der Erfolglosigkeit eines deutschen Erfolgsdramatikers in der Emigration; in: Communications, 20 (1995) 1: 112-128
    [7]
    http://ricalb.files.wordpress.com/2009/07/erinnerungssplitter.pdf
    [8] Richard Albrecht, The Utopian Paradigm, in: Communications, 16 (1991) 3: 283-318; die Einleitung steht zum kostenlosen Herunterladen im Netz
    http://www.grin.com/en/e-book/109171/tertium-ernst-bloch-s-foundation-of-the-utopian-paradigm-as-a-key-concept

     

Quelle https://soziologisch.wordpress.com/2012/03/03/die-tugenden-des-nonkonformismus/ [hier doppelt bearbeitet] - Zusendung durch den Autor