Corona und das Praxiskollektiv Reiche 121
 
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04/2020

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Eines der ältesten Praxiskollektive Deutschlands, die Kreuzberger Hausärzt*nnen Praxis Reiche 121 veröffentlicht verharmlosende Informationen über die Corona-Pandemie und stellt sich die an Seite zweifelhafter Expert*innen, die auch in rechten Medien veröffentlichen. Der Artikel beleuchtet die Argumente des Kreuzberger Praxiskollektivs und versucht diese zu entkräften.

Linke sind meist keine Mediziner*innen. Das ist ein Grund von vielen, wieso die aktuelle Corona-Pandemie viele Genoss*innen etwas ratlos zurücklässt: Soll ich nun aus Solidarität mit Risikogruppen härtere Ausgangsbeschränkungen fordern oder den Verlust bürgerlicher Freiheiten in Zeiten der Kontaktsperre anprangern? Welche Position bezogen wird, hängt auch maßgeblich davon ab, für wie gefährlich man das Corona-Virus hält. Der Hunger nach Informationen über das Virus und der Verbreitung von Covid-19 ist groß. Der Virologe Christian Drosten von der Charité ist mit seinem täglichen Podcast seit Wochen auf Platz 1 der Apple Podcast Liste. Doch bietet Doc Drosten keine linke Perspektive auf die Pandemie und hält sich mit politischen Einordnungen zurück. Anders das in Berlin bekannte Praxiskollektiv Reiche 121 in Berlin Kreuzberg. Kaum ein*e Genoss*in aus Kreuzberg oder Neukölln, die nicht schon mal in der Reiche 121 vorbeigeschaut hat. Die Schlange vor der Sprechstunde wird in der Erkältungszeit zum Szenetreff. Umso enttäuschender sind die Veröffentlichungen des Praxisteams zum Thema Corona-Virus. Das Kollektiv beklagt auf seiner Homepage „die Überflutung von Laien mit epidemiologischen Zahlen, die ohne Vergleichszahlen mit dem "Normalen" dann eben oft geradezu apokalyptische Visionen entstehen lassen und vor allem eines tun: Angst und Panik verbreiten“. Weiterhin diagnostizieren sie ein „Übergewicht von Meldungen und Berichten, die das worst-case-Szenario in den Vordergrund rücken“ und prangern das Aushebeln von Freiheitsrechten an. Auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbare Kritik an der aktuellen Berichterstattung. Sie schreiben weiter: „Wir sind der Meinung, dass aufgeklärte Menschen sehr wohl zu einer Einschätzung der Gefahr und einer Schlussfolgerung für den Umgang damit in der Lage sind“.  Das ist eins der Probleme des Textes: Sind Menschen nun Laien, die von Zahlen überflutet werden, oder aufgeklärte Subjekte, die selber entscheiden können? Oder will das Kollektiv sagen, dass die Mainstream-Medien uns am Aufgeklärt-Sein hindern?

 Schauen wir uns an, wie das Praxiskollektiv aufklären will. Es beruft sich auf eine Vielzahl von Expert*innen, die eine gelinde gesagt optimistische Einschätzung der Pandemie vertreten. So weisen sie auf Prof. Sucharit Bhakdi hin, der in einem YouTube-Video erklärt, dass nur 10 Prozent der mit dem Corona-Virus infizierten Menschen überhaupt krank werden. Quellen dafür nennt er nicht. Das Robert Koch Institut beruft sich auf drei Studien und schätzt, dass 51-81 Prozent der Infizierten durch das Virus erkranken.(1) In einem anderem Video setzt Bhakdi auch die Todesrate viel zu niedrig an. Es stimmt, dass am 18. März 10.000 Menschen in Deutschland mit dem Corona-Virus infiziert und bis dahin 28 Menschen gestorben waren. Bhakdi rechnet dann die Zahl der Toten auf 30 Tage hoch und kommt auf einen Toten pro Tag. Wieso er aber 30 Tage für 28 Tote ansetzt, wo doch die ersten beiden Todesfälle am 9. März zu beklagen waren, sagt er nicht. Bhakdis geht in seinem worst-case Szenario von 1 Million infizierten und 30 Toten pro Tag in Deutschland aus. Diese Zahlen sind deutlich zu gering. Die Zahl von über 800 Toten pro Tag bei 92.400 Infektionen in Italien und ebenfalls über 800 Toten pro Tag bei 78.000 infizierten Menschen in Spanien zeigt, dass der Virus weitaus tödlicher ist als Bhakdi behauptet.(2) Auch in Deutschland, wo das Gesundheitsystem noch nicht zusammengebrochen ist, waren allein am 28.3.2020 90 Todesfälle registriert worden.(3) Prof. Bhakdi ist also ein schlechter Aufklärer für das Praxiskollektiv, wenn man positivere Szenarien der Corona-Pandemie für wahrscheinlich hält.

Eine andere Expertin, die das Praxiskollektiv ins Feld führt, ist Prof. Karin Mölling. Diese gab Radio Eins ein Interview, von dem sich der Sender anschließend distanzierte, weil er Teile des Interviews für zynisch und verharmlosend hält. Karin Mölling ließ sich nicht beirren und vertritt ihre Thesen nun in der verschwörungstheoretischen Radiosshow KenFM. Moderator Ken Jebsen behauptete in seiner Sendung unter anderem, dass der Women‘s March on Washington 2017 vom jüdischen Investmentbanker George Soros gesteuert wurde, damit die Anzahl der Abtreibungen zunimmt und Soros am Verkauf toter Embryonen an die Pharmaindustrie verdienen könne. Eigentlich keine Person, der man gerne ein Interview geben würde. Doch ebenso gern gesehener Gast bei KenFM ist Wolfgang Wodarg. Auch er wird vom Praxiskollektiv Reiche 121 als Experte herangezogen, der die Corona-Pandemie als weitgehend harmlos einschätzt. Nur ist Wodarg ein Experte? Wolfgang Wodarg schrieb seine Dissertation 1974 über die psychischen Erkrankungen von Seeleuten. Seitdem ist keine wissenschaftlich Publikation von ihm bekannt.(4) Wodargs Ansichten sind vielfach wiederlegt(5): So zum Beispiel seine Meinung, das Corona-Virus sei nicht neu, also nicht neu vom Tier auf dem Menschen übergesprungen. Das ist deshalb wichtig, weil es vier Arten von Corona-Viren gibt, die beim Menschen endemisch sind und gegen die das menschliche Immunsystem gewappnet ist. Bei einem neu auf dem Menschen übertragenen Virus besteht keinerlei Immunität in der Bevölkerung, es gibt keinerlei Impfung oder Medikamente und er verbreitet sich sehr schnell. Das ist es, was den Virus so gefährlich macht.

Wodarg vertritt seine Ansichten auch im Interview mit der rechtspopulistischen „Journalistin“ Eva Herman. Das Praxiskollektiv nimmt Wodarg in einer neu hinzugefügten Stellungnahme explizit in Schutz. Das Kollektiv schreibt u.a.: „Seine Entscheidung, auch umstrittenen Medien Interviews zu geben, kann kritisiert werden, ihm deshalb eine Nähe zu rechten Verschwörungstheoretikern zu unterstellen ist abwegig.“ Ernsthaft? Wer KenFM und Eva Herman Interviews gibt, kann man keine Nähe zu Verschwörungstheoretikern unterstellen?

Insgesamt liest sich die Liste der Expert*innen und Links in der Veröffentlichung des Praxiskollektivs wie direkt von Wodargs Homepage abgeschrieben. Doch auch diese Expert*innen widersprechen sich. Ein zentrales Argument Wolfgang Wodargs ist zum Beispiel, dass der PCR-Test auf Corona-Viren noch gar nicht validiert sei und viel zu viele falsch positive Ergebnisse angebe. Das würde die Infektionszahlen in die Höhe treiben. Der ebenfalls vom Praxiskollektiv zitierte Virologe Hendrik Streeck hält den derzeit verfügbaren PCR Test jedoch für den „Goldstandard“, auch wenn er Maßnahmen wie Ausgangssperren sehr kritisch gegenüber steht.

Das einzige fachliche Argument, welches die Mediziner*innen aus dem Praxiskollektiv selbst ausführen, dreht sich um die Situation in Norditalien. Das Kollektiv legt nahe, dass es sich dabei entweder um eine regionale oder gar keine Besonderheit handelt. Es listet eine Reihe von Faktoren außer dem Corona-Virus auf, welche die Situation in Norditalien hervorgebracht haben könnten. Diese Faktoren sind mal mehr, mal weniger valide: So ist es plausibel, dass der marode Zustand des italienischen Gesundheitssystems zu einer Überlastung und damit zu einer höheren Anzahl von Toten beigetragen hat. Weniger evident, aber zumindest nachvollziehbar ist die Behauptung, die regionale Luftverschmutzung sei ein entscheidender Faktor für die hohe Todesrate. Es gibt darüber aber keinerlei Studien und der „Beleg“, welchen das Kollektiv verlinkt, ist lediglich eine Karte der Luftverschmutzung in Europa. Wenig glaubwürdig scheinen jedoch die Faktoren „Massenpanik, ausgelöst durch die Berichterstattung (staatliche Institutionen, Medien)“ und „veränderte Wahrnehmung und Einordnung der Situation durch Ärzt*innen“ zu sein. Hier wird suggeriert, dass die Menschen in Norditalien quasi an Realitätsverlust leiden, während die Mediziner*innen in der Reichenberger Straße einen kühlen Kopf bewahren und die Wahrheit erkennen können. Auch verliert die Aufzählung von vermeintlichen lokalen Faktoren als Ursache für die dramatische Lage in Norditalien an Plausibilität, wenn in Spanien derzeit ebenfalls über 800 Tote durch Covid-19 gezählt werden (Stand. 29.03.2020) und auch im Großraum Paris mittlerweile Intensivbetten und Beatmungsgeräte fehlen und in China neue Krankenhäuser aus dem Boden gestampft wurden, um die vielen Erkrankten behandeln zu können.

Insgesamt ist die Darstellung der Situation in Italien widersprüchlich. Denn der selbst gesammelten Faktoren zum Trotz behauptet das Kollektiv ebenfalls, dass die Situation in Norditalien eigentlich dem Normalzustand entspeche:Ihr zentrales Argument ist, dass ein Teil der mittlerweile ca. 800 Corona-Toten pro Tag in die normale tägliche Sterblichkeit von 1.800 Toten in Italien eingerechnet werden müssten. Das Argument lautet zusammengefasst: Diese Menschen wären sowieso gestorben, sie hatten unter anderem eine Corona-Virusinfektion, aber die muss nicht ursächlich für den Tod gewesen sein. Selbstverständlich ist es nicht immer eindeutig, ob zum Beispiel ein Herzversagen durch die Covid-19 Erkrankung ausgelöst wurde. Doch zu behaupten, dass die Virolog*innen und Epidemiolog*innen von China über Südkorea bis Großbritannien und Deutschland in ihren Analysen und Modellen einfach vergessen hätten, dass in einer Gesellschaft immer Menschen sterben, klingt absolut unplausibel. Das Kollektiv stützt seine Argumentation mit einem Verweis auf die Sterblichkeitsrate in Italien, die in der Zeit der Corona-Krise nicht angestiegen sei. Mittlerweile ist das Praxisteam in dieser Hinsicht etwas zurückgerudert und gibt an, dass es  wohl doch einen Anstieg der Sterblichkeit in Italien gibt. Diesen Anstieg setzen die Autor*innen jedoch mit der Grippewelle von 2017/18 gleich. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen: das Kollektiv listet Faktoren für die besondere Situation in Norditalien auf und es stellt die Frage, ob es überhaupt mehr Tote in der Lombardei als in den vergangenen Jahren gibt. Dann argumentieren die Mediziner*innen aber mit der Sterblichkeitsrate für ganz Italien, in der die Toten in der Lombardei offensichtlich weniger durchschlagen.  (Randnotiz: Noch gibt das Kollektiv das mittlere Alter einer verstorbenen Person mit Corona-Virus in Italien mit 81 Jahren an. Mittlerweile ist dieser Wert auf 78 Jahre gesunken.)

Das Kollektiv macht in ihrem Statement ein Stück weit das, was sie anderen vorwerfen: Sie picken sich selektiv Expert*innen heraus, die ihre Position bestärken, stellen unbewiesene Vermutungen an und blenden aus, was ihnen nicht in den Kram passt. Zudem begeben sie sich in schlechte Gesellschaft: Als Linke sollte es doch mindestens stutzig machen, wenn man Expert*innen zitiert, die von Rechten hofiert werden und sich fragen, was dann mit der eigenen Meinung nicht stimme könnte. Das Praxiskollektiv hat Recht damit, wenn es betont, dass wir sehr wenig über das Virus und die Krankheit wissen. Es ist wichtig, dass wir staatliche Maßnahmen hinterfragen und Mehrheitsmeinungen in Diskursen auf ihre Stichhaltigkeit prüfen. Die wenigen Linken, die gleichzeitig Mediziner*innen sind, tragen in dieser Situation eine besondere Verantwortung. Kritik an staatlichen Maßnahmen und Strukturen darf nicht auf der Grundlage von Verharmlosungen erfolgen, und diese Verharmlosungen dürfen nicht mit Hilfe von zweifelhaften Expert*innen und fragwürdigen Argumenten legitimiert werden.

Wie es anders geht, zeigt das Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“. In seiner Stellungnahme zum Corona-Virus kritisiert das Bündnis Jens Spahn und das kaputtgesparte Gesundheitssystem, ganz ohne sich in halbgare Spekulationen über die eventuelle Harmlosigkeit des Virus zu verlieren.(6) Ein paar linke Mediziner*innen gibt es wohl noch.


[1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief....

[2] Zahlen vom 29.3.2020. Infektionszahlen nach https://coronavirus.jhu.edu/map.html

[3] https://www.welt.de/vermischtes/article206504969/Coronavirus-In-Deutschl...

[4] Zum Vergleich: Christian Drosten wird in über 300 peer-reviewed Artikeln als Autor oder Co-Autor aufgeführt.

[5] https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-die-gefaehrlichen-falschinformationen-des-wolfgang-wodarg-a-f74bc73b-aac5-469e-a4e4-2ebe7aa6c270

https://www.tagesspiegel.de/politik/faktencheck-wolfgang-wodarg-verbreitet-thesen-die-wichtige-tatsachen-ignorieren/25654104.html

https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2020/03/18/coronavirus-warum-die-aussagen-von-wolfgang-wodarg-wenig-mit-wissenschaft-zu-tun-haben

https://www.swr3.de/aktuell/Faktencheck-Coronavirus-Video-Corona-kein-Grund-zur-Panik-mit-Dr/-/id=4382120/did=5578566/1x656ik/index.html

[6] https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de/53183

 

Quelle der Erstveröffentlichung:
https://de.indymedia.org/node/74401  am 29.3.2020

DRINGENDER HINWEIS: Das Praxiskollektiv hat am 30.3.2020 eine umfassende Stellungnahme zu Covid19 ins Netz gestellt. Sie sollte unbedingt zur Einschätzung des obigen Beitrags mit herangezogen werden.

Informationen und Hintergründe zu Covid19
von praxiskollektiv reiche 121 eG