Editorial
Geschichte - Geschichtsschreibung - Narrative

von Karl Müller

04/2019

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"Geschichte wird gemacht" sang 1976 die Band Fehlfarben. Wir benutzten dieses geflügelte Wort 2018 als Titel für eine sechsteilige Veranstaltungsreihe, die die sogenannte 68er Bewegung zum Thema hatte. Weder sollte es dabei um Nostalgie noch um Traditionspflege gehen. Uns interessierte hauptsächlich die Frage:"Was war an dieser Bewegung positiv und lebt in den linken Praxen heute weiter?"

Der Titel war bewußt mehrdeutig gewählt. Zum einen sollte suggeriert werden, dass die 68er damals von sich selber glaubten, Geschichte zu machen, zum anderen sollten 68er-Zeitzeugen gehört werden, damit ihre Erzählungen diese Behauptung bestätigten oder dementierten. Ihre Sichtweisen sollten durch "gemachte" Geschichte, d.h. verschiedene Arten von "Geschichtsschreibung" konterkariert werden.

Auch in dieser Ausgabe wird es wieder einmal um das "Geschichte machen" gehen.

Wilma Ruth Albrecht zeigt in trefflicher Weise auf, wie Willi Bredel mit seiner Romantrilogie „Verwandte und Bekannte“  den "Entwicklungsweg vor allem der deutschen Arbeiterklasse in der Zeit von 1870/71 bis 1949" mit literarischen Mitteln gestaltet. Seine Romantrilogie ist natürlich keine Geschichtsschreibung im eng wissenschaftlich-historischen Sinne, sondern eine die gesellschaftliche Realität widerspiegelnde Konstruktion aus sinnstiftenden Erzählungen. Es handelt sich dabei um Narrative, die als "arbeiterklassenbezogene kritisch-realistische Zeitliteratur" der DDR selber geschichtliches Zeugnis dieser realsozialistischen Gesellschaft sind.

Die Rote Hilfe Zeitung 1/2019 hatte als Schwerpunkt eine Untersuchung über die "Repression gegen linke Oppositionelle in der DDR."  In 14 Abschnitten wurden unappetitliche Seiten der DDR-Geschichte aufgeblättert, worauf bei der DKP und ihrem Umfeld die Warnlampen angingen. "Rote Hilfe für die Schwarzen" titelte Klaus Hartmann vom Freidenkerverband seine Stellungnahme und Ulla Jelke verband ihre Kritik mit dem Gedanken, aus der Roten Hilfe austreten zu wollen. Der DKP-Vorsitzende Köbele ergänzte diese Kritiken  mit der Drohung: Rückzug der DKP aus der Roten Hilfe.

"Zu einem Zeitpunkt, an dem angesichts der Gefahr eines Verbots der Roten Hilfe linke Solidarität besonders dringend ist, distanziert Ihr Euch mit diesem Heft von den Fundamenten der Organisation."

Was war passiert? Die üblichen DDR-Narrative, mit denen DKP & Co. Deutungshoheit über die Geschichte der DDR beanspruchen, wurden durch die Rote Hilfe Zeitung desavouiert.

Wer, wie die DKP, den Staatskapitalismus Marke DDR noch heute als sozialistisches Zukunftsmodell für eine nachkapitalistische Gesellschaftsordnung verkauft, muss sich logischerweise mit Zähnen und Klauen gegen eine linke Geschichtsschreibung wehren, die sich nicht mehr auf die von Walter Ulbricht redigierte achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung stützt, sondern beginnt, eine neue Geschichte zu schreiben, mit der nicht nur politisch andere emotionale Grundströmungen produziert werden, sondern vor allem Kräfte für konkrete Utopien einer sozialistischen Gesellschaft ganz anderer Art freigesetzt werden.

Weil in diesen historischen Bemühungen der Roten Hilfe die Geschichte der Zerschlagung der DDR-Sektion der maoistischen später hoxaistischen KPD (ML) fehlt, haben wir versucht, diese Lücke zu schließen und einige "Narrative" zusammengetragen, die die Brutalitäten der Stasi illustrieren, bei denen auch die DKP als Helfershelfer bei der Zerschlagung der KPD (ML) mitgenannt werden muss.

Eine aktuelle Form, Geschichte zu betrachten, liefern fünf Broschüren der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema "Gegen Wohnungsnot und Mietpreistreiberei". Darin wird ein ganzer Strauß von Forderungen feilgeboten, um diese Mißstände zu bekämpfen. Dazu werden mithilfe von historischen Längs- und Querschnitten zahlreiche Geschichten zu den jeweiligen Forderungen erzählt, um so die Leser*innen darauf einzustimmen, dass nur eine Politik, die den Staat von Regulierungen der Not zu überzeugen in der Lage ist, eine sinnvolle sozialpolitische Perspektive darstellt. Solch ein Begriff von einem fairen bürgerlich-kapitalistischen Staat wäre für sich nur ein Narrativ unter vielen. Allerdings addiert mit dazu kompatiblen Narrativen entsteht daraus eine gesellschaftliche Orientierung. Wenn Geschichtsschreiber*innen sich bei ihren Untersuchungen jener Orientierung bedienen, die Medien diese wiederkäuen und die Curricula an Schulen und Hochschulen entsprechend ausformuliert werden - nennen wir das Mainstream.

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in der Alexa-Rubrik "Deutsch/Medien/Alternative_Medien"
Stand 02.04.2019