Man nennt die Armee in
Frankreich auch La grande muette
(„Die große Stumme“). Ihr Schweigen, also ihre
offizielle Haltung der Nichtäußerung zu politischen
Fragen, hat im Prinzip auch für nicht mehr im
aktiven Dienst stehende Ex-Militärs zu gelten. Doch
mehrfach waren es in den vergangenen Jahren frühere
Armeeangehörige, die das Schweigen brachen, das
über den Hintergründen eines der größten
Verbrechens des 20. Jahrhunderts liegt. Es geht
dabei um den Genozid in Rwanda und die Rolle
Frankreichs bei dessen Verübung. Nun
veröffentlichte der 52jährige frühere
Luftwaffenoffizier Guillaume Ancel gar ein Buch
darüber. Es erschien am vorigen Freitag – 16. März
18 - unter dem Titel Rwanda: La fin du
silence („Rwanda, das Ende der Stille“).
Die offizielle Version lautete
über zwanzig Jahre lang: Wir wollten doch nur
Gutes, wir wollten doch nur helfen. Als Frankreich
im Juni 1994 eigene Truppen in das
zentralostafrikanische Land entsandte, wo seit dem
07. April jenes Jahres der Völkermord tobte und
insgesamt fast eine Million Tutsi ermordet wurden,
begann die Opération Turquoise
(„Operation Türkis“). Ihr offizieller Zweck
bestand darin, dem zu dem Zeitpunkt noch laufenden
Massenmord ein Ende zu setzen.
Eine andere Wahrheit hat sich
seit Jahren in Büchern von Historikern und
Journalistinnen sowie in internationalen Medien,
längst auch in manchen französischen Zeitungen Bahn
gebrochen: Es ging bei dem Einsatz nicht darum, die
Opfer des Massenmords zu schützen. Sondern im
Gegenteil darum, den Rückzug der Täter des
Völkermords – also der am 10. April 1994 gebildeten
„Übergangsregierung“ (GIR, Gouvernement
intérimaire rwandais; ihr Name verwies auf
den tödlichen Absturz des vormaligen Präsidenten
Juvénal Habyarimana am 06. April 1994) und ihrer
Hutu-Milizen sowie führender Militärs – in den
Osten des damaligen Zaire zu decken. Diese wurden
vom Vormarsch der von Tutsi befehligten
„Rwandischen patriotischen Front“ (RPF oder
französische FPR / Front patriotique rwandais),
der heutigen Regierungspartei, in Bedrängnis
gebracht. Dort, auf dem Territorium der heutigen
Demokratischen Republik Kongo, siedelten sich
daraufhin bis zu zwei Millionen Hutu in
Flüchtlingslagern an, deren organisatorische
Infrastruktur auf den Strukturen der
Völkermordregierung beruhte. Den Insassen hatte man
erzÄhlt, sie müssten vor der Rache der Tutsi
fliehen, zugleich wurden viele von ihnen gewaltsam
unter Kontrolle gehalten. 1996 flohen jedoch
Hunderttausende von ihnen nach Rwanda zurück,
nachdem die rwandische Armee in einer kurzen
Offensive die Kontrolle der Hutu-Milizen
vorübergehend gebrochen hatte.
Guillaume Ancel, der damals
Bodenoperationen für die Lenkung von
Luftwaffeneinsätzen leitete und 1995 aus dem
aktiven Armeedienst ausschied, hat seine
Beobachtungen nun auf 250 Buchseiten (14,99 Euro,
Verlag Les Belles Lettres) zusammengefasst. Es
handelt sich nicht um fundamental neue
Enthüllungen, jedoch um eine deutliche Bestätigung
dessen, was Kritiker/inne/n bekannt war, in der
Öffentlichkeit und sozusagen aus berufenem Munde.
Sein Resümee, wie er es selbst
zeitgleich zum Erscheinen in einem Interview mit
Jeune Afrique in kondensierter Form
lieferte, lautet wie folgt: „Der
Einsatzbefehl, den ich von meiner Ankunft vor Ort
ab erhielt, entsprach in keiner Weise dem
humanitären Einsatz, wie er damals in den
französischen Medien dargestellt wurde. Es ging in
Wirklichkeit um eine klassische Kriegsoperation,
die darauf abzielte, die wankende rwandische
Regierung wieder einzusetzen. Wenn man
Kampfflugzeuge und die Eliteeinheiten der Schnellen
Eingreiftruppe zusammenzieht, dann geht es selten
um eine humanitäre MissioN.“
Ähnliches hatte Ancel bereits in
Interviews rund um den zwanzigsten Jahrestag des
Genozids, 2014, erwähnt. Nun liegt es detailliert
und in Buchform vor. Die Pariser Abendzeitung
Le Monde widmete bei Erscheinen den
neuen Informationen, die bisherige Erkenntnisse von
Kritikern der französischen Rwandapolitik 1994
bestätigen, aus Anlass der Buchveröffentlichung
drei volle Doppelseiten. Es erschien also, was das
Vorankommen der öffentlichen Debatte um das Thema
betrifft, keineswegs umsonst.
Ancel gibt in jüngsten
Interviews an, von staatlichen Diensten jüngst in
seinem Job, aber auch körperlich bedroht worden zu
sein.
Editorische
Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Eine stark gekürzte Fassung erschien in
der Wochenzeitung Jungle World vom 22. März 18.
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