Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Frankreich und der Völkermord in Rwanda
Neue Veröffentlichung durch einen Ex-Militär bestätigt tiefe Verwicklung der französischen Armee

04/2018

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Man nennt die Armee in Frankreich auch La grande muette („Die große Stumme“). Ihr Schweigen, also ihre offizielle Haltung der Nichtäußerung zu politischen Fragen, hat im Prinzip auch für nicht mehr im aktiven Dienst stehende Ex-Militärs zu gelten. Doch mehrfach waren es in den vergangenen Jahren frühere Armeeangehörige, die das Schweigen brachen, das über den Hintergründen eines der größten Verbrechens des 20. Jahrhunderts liegt. Es geht dabei um den Genozid in Rwanda und die Rolle Frankreichs bei dessen Verübung. Nun veröffentlichte der 52jährige frühere Luftwaffenoffizier Guillaume Ancel gar ein Buch darüber. Es erschien am vorigen Freitag – 16. März 18 - unter dem Titel Rwanda: La fin du silence („Rwanda, das Ende der Stille“).

Die offizielle Version lautete über zwanzig Jahre lang: Wir wollten doch nur Gutes, wir wollten doch nur helfen. Als Frankreich im Juni 1994 eigene Truppen in das zentralostafrikanische Land entsandte, wo seit dem 07. April jenes Jahres der Völkermord tobte und insgesamt fast eine Million Tutsi ermordet wurden, begann die Opération Turquoise („Operation Türkis“). Ihr offizieller Zweck bestand darin, dem zu dem Zeitpunkt noch laufenden Massenmord ein Ende zu setzen.

Eine andere Wahrheit hat sich seit Jahren in Büchern von Historikern und Journalistinnen sowie in internationalen Medien, längst auch in manchen französischen Zeitungen Bahn gebrochen: Es ging bei dem Einsatz nicht darum, die Opfer des Massenmords zu schützen. Sondern im Gegenteil darum, den Rückzug der Täter des Völkermords – also der am 10. April 1994 gebildeten „Übergangsregierung“ (GIR, Gouvernement intérimaire rwandais; ihr Name verwies auf den tödlichen Absturz des vormaligen Präsidenten Juvénal Habyarimana am 06. April 1994) und ihrer Hutu-Milizen sowie führender Militärs – in den Osten des damaligen Zaire zu decken. Diese wurden vom Vormarsch der von Tutsi befehligten „Rwandischen patriotischen Front“ (RPF oder französische FPR / Front patriotique rwandais), der heutigen Regierungspartei, in Bedrängnis gebracht. Dort, auf dem Territorium der heutigen Demokratischen Republik Kongo, siedelten sich daraufhin bis zu zwei Millionen Hutu in Flüchtlingslagern an, deren organisatorische Infrastruktur auf den Strukturen der Völkermordregierung beruhte. Den Insassen hatte man erzÄhlt, sie müssten vor der Rache der Tutsi fliehen, zugleich wurden viele von ihnen gewaltsam unter Kontrolle gehalten. 1996 flohen jedoch Hunderttausende von ihnen nach Rwanda zurück, nachdem die rwandische Armee in einer kurzen Offensive die Kontrolle der Hutu-Milizen vorübergehend gebrochen hatte.

Guillaume Ancel, der damals Bodenoperationen für die Lenkung von Luftwaffeneinsätzen leitete und 1995 aus dem aktiven Armeedienst ausschied, hat seine Beobachtungen nun auf 250 Buchseiten (14,99 Euro, Verlag Les Belles Lettres) zusammengefasst. Es handelt sich nicht um fundamental neue Enthüllungen, jedoch um eine deutliche Bestätigung dessen, was Kritiker/inne/n bekannt war, in der Öffentlichkeit und sozusagen aus berufenem Munde.

Sein Resümee, wie er es selbst zeitgleich zum Erscheinen in einem Interview mit Jeune Afrique in kondensierter Form lieferte, lautet wie folgt: „Der Einsatzbefehl, den ich von meiner Ankunft vor Ort ab erhielt, entsprach in keiner Weise dem humanitären Einsatz, wie er damals in den französischen Medien dargestellt wurde. Es ging in Wirklichkeit um eine klassische Kriegsoperation, die darauf abzielte, die wankende rwandische Regierung wieder einzusetzen. Wenn man Kampfflugzeuge und die Eliteeinheiten der Schnellen Eingreiftruppe zusammenzieht, dann geht es selten um eine humanitäre MissioN.“

Ähnliches hatte Ancel bereits in Interviews rund um den zwanzigsten Jahrestag des Genozids, 2014, erwähnt. Nun liegt es detailliert und in Buchform vor. Die Pariser Abendzeitung Le Monde widmete bei Erscheinen den neuen Informationen, die bisherige Erkenntnisse von Kritikern der französischen Rwandapolitik 1994 bestätigen, aus Anlass der Buchveröffentlichung drei volle Doppelseiten. Es erschien also, was das Vorankommen der öffentlichen Debatte um das Thema betrifft, keineswegs umsonst.

Ancel gibt in jüngsten Interviews an, von staatlichen Diensten jüngst in seinem Job, aber auch körperlich bedroht worden zu sein.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine stark gekürzte Fassung erschien in der Wochenzeitung Jungle World vom 22. März 18.