Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialproteste (3)     Stand: 29. März 18
Vor dem Eisenbahnerstreik

04/2018

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Studierendenbewegung scheint allmählich in die Gänge zu kommen

In Frankreich geht es derzeit für die Eisenbahner/innen um viel. Eine im Januar angekündigte, am 20. Februar 18 im Kabinett beschlossene so genannte Reform soll die bisherige öffentlich-rechtliche Bahngesellschaft SNCF in eine Aktiengesellschaft umwandeln. Das Personalstatut der Eisenbahner, das bislang Laufbahn- und Gehaltsgarantien enthält, soll jedenfalls für alle neueingestellten Beschäftigten durch privatrechtliche Arbeitsverträge mit mehr oder minder frei verhandelbarem Inhalt ersetzt werden. Daneben planen die Regierung sowie die SNCF-Direktion, 9.000 Streckenkilometer Bahn als „wirtschaftlich unrentabel“ wegzusparen. (Auch wenn die Regierung es derzeit offiziell dementiert, und die Verantwortung dafür aller Voraussicht nach an die französischen Regionen weiterreichen wird, so ist der Fall inhaltlich dennoch sonnenklar. Vgl. dazu bspw. http://www.lavoixdunord.fr)

Der damalige Premierminister Alain Juppé scheiterte mit vergleichbaren Vorhaben im Herbst 1995 an einer Streikfront, er wollte damals 11.000 Kilometer Schienen wegsparen. In beiden Fällen würden dabei halbe Regionen vollständig vom Bahnnetz abgeschnitten. Offiziell dementiert die Regierung derzeit, dass auch dieses Vorhaben – das im Januar 18 explizit angekündigt worden war – Teil der jetzigen Reform sei, denn um diese nicht scheitern zu lassen, sollen die Pläne stückweise umgesetzt zu werden.

Ähnlich wie bei der zweiten Stufe der Arbeitsrechtsreform im Herbst 2017 sollte zunächst auch dieses Mal mit ordonnances, also Regierungsvorhaben mit Gesetzeskraft, statt auf gesetzgeberischem Wege operiert werden. Also erneut ohne Aussprache im Parlament. Die französische Verfassung erlaubt ein solches Eilverfahren bei dringenden und nicht aufschiebbaren Beschlüssen, doch auch viele bürgerliche Demokraten sind der Auffassung, ihre Verwendung bei längerfristig geplanten, wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen diene allein der Knebelung der Opposition. Inzwischen hat die Regierung bei dieser Verfahrensfrage jedenfalls einen Teilrückzieher übernommen: Jedenfalls das Thema „Öffnung des Schienenverkehrs für private Konkurrenz“ soll nun doch nicht auf dem ordonnance-Weg geregelt werden. ( Vgl. https://www.huffingtonpost.fr)

Streik„kalender“ respektive -korsett

Bei der französischen Eisenbahn gibt es vier als „repräsentativ“ – das entspricht im deutschen Recht ungefähr der Eigenschaft „tariffähig“ – anerkannte Gewerkschaften, einstmals waren es acht. Die Anerkennung dieser Vertretungsfähigkeit hängt von Wahlergebnissen im Unternehmen ab. Nur mühsam konnten sich die vier Verbände, nach zwei Treffen Ende Februar sowie am 15. März dieses Jahres, auf ein gemeinsames Vorgehen handeln. Dennoch handelt es sich derzeit nur um einen Formelkompromiss. Die von bürgerlicher Seite als moderat eingestuften Branchengewerkschaften der Dachverbände CFDT und UNSA befürworten eine „Mobilisierung“ der Beschäftigten, bleiben jedoch über genaue Modalitäten meist im Unklaren und bremsen allzu tatkräftige Streikvorhaben aus. Die linke Basisgewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr) fordert einen unbefristeten Streik, dessen Anfang, nicht jedoch dessen Ende festgesetzt werden soll. In ihren Augen soll es sich um eine grève reconductible handeln, also um einen Arbeitskampf, um dessen Fortführung alle 24 Stunden in Vollversammlungen an den Arbeitsplätzen entschieden werden soll. Diese Streikform wird durch die Regierung am meisten gefürchtet und führte etwa 1995 zum Erfolg.

Zwischen beiden Positionen steht die der CGT, deren Branchenverband bei der Eisenbahn (CGT-Cheminots) innerhalb ihres Dachverbands auf dem Gewerkschaftstag 2016 gegen zu radikale Positionen opponierte. Beim Arbeitskampf der Bahn 2016 war es dieser Branchenverband der CGT, der damals die eher merkwürdige Streikform eines Stop-and-Go-Streiks von 48 Stunden pro Woche durchsetzte - mit jeweiliger Wiederaufnahme des Verkehrs nach zwei vorab festgelegten Streiktagen. Die Strategie des Branchenverbands der CGT leitet sich dabei aus strategischen Kalküls und vermeintlichen Verhandlungspositionen ihres Apparats ab.

Ähnliches, wenn auch in abgewandelter Form, beschlossen die beteiligten Gewerkschaften auch dieses Mal. Laut den Entscheidungen vom 15. März 18 soll nun – nach einem ersten Aktionstag mit Demonstrationen am Donnerstag vergangener Woche (22. März d.J.) - von Anfang April bis Ende Juni 2018 jeweils für zwei Tage gestreikt, dann für je fünf Tage die Arbeit wiederaufgenommen, dann wieder für jeweils zwei Tage gestreikt werden. Etwa am 03. und 04. April, am 08. und 09. April, am 13. und 14. April. Die Termine sind bis zum 27. und 28. Juni vorgeplant. Das Ganze bleibt für die Gegenseite vorhersehbar und verhindert vor allem, dass eine Dynamik von unten statt der Gewerkschaftsvorstände über das Streikgeschehen entscheidet.

Um rechtlich durch das - in Frankreich durch die Verfassung garantierte - Streikrecht „gedeckt" zu sein, müssen Arbeitskämpfe in öffentlichen Diensten fünf Tage zuvor angemeldet werden. Sonst fallen sie in die Illegalität, und ihre Teilnehmer können sanktioniert wird. So sind die Dinge seit einem Bahnstreik im Jahr 1963 für die öffentlichen Dienste gesetzlich geregelt, „im Interesse der Öffentlichkeit"; in privaten Unternehmen gilt unterdessen keine Vorwarnpflicht.

Neben dem „offiziellen" Streikkalender der vier Gewerkschaften hat nun jedoch die linke Schienenverkehrs-Gewerkschaft SUD Rail am vergangenen Freitag, den 23. März 18 in ihrem eigenen Namen eine Streikvorwarnung auch für die „Tage dazwischen" hinterlegt. (Vgl. https://www.huffingtonpost.fr/2018/03/23/greve-sncf-finalement-sud-rail-depose-un-preavis-pour-une-bonne-vieille-greve-reconductible-a-la-sncf_a_23393794/ ) Diese Streikwarnung läuft ab dem 02. April d.J. und sorgt dafür, dass auch Streikteilnehmer rechtlich abgesichert sind, die nach der offiziellen Wiederaufnahme der Arbeit - etwa am Vormittag des Donnerstag, 05. April - weiterhin streiken.

Es könnte also doch noch eine Eigendynamik in den Streik hineinkommen. Ob es dazu kommt, bleibt derzeit abzuwarten. Dem Vernehmen nach gibt es auch örtliche CGT-Gruppen, die sich in der Praxis auf die Streikvorwarnung der konkurrierenden Gewerkschaft SUD Rail berufen könnten. – Parallel zu den Eisenbahner/inne/n wollen nun, auf Aufruf der CGT-Energie (zu der allerdings einige Sachen kritisch anzumerken wären, dazu zählt ihre Verflechtung mit der Atomlobby…), „zwischen April und Juni“ d.J. auch die Energiebeschäftigten beim Stromversorger EDF periodisch streiken. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2018/03/29/97002-20180329FILWWW00175-la-cgt-appelle-a-la-greve-dans-l-energie-a-partir-du-3-avril.php und https://humanite.fr/mobilisation-lenergie-entre-dans-la-greve-en-meme-temps-que-les-cheminots-652943 )

Studierendenprotest

Neben den übrigen öffentlichen Diensten, die sich unter anderem gegen die Einführung eines „Karenztags“ – unbezahlten Krankheitstags – und gegen Personalmängel in Krankenhäusern und Pflege sowie den geplanten Abbau von 120.000 Arbeitsstellen wehren, geraten derzeit auch Teile der Studierendenschaft in Bewegung. Dort geht es um die Neueinführung von Aufnahmehürden für Universitäten, die bislang mit dem Abitur jedenfalls im ersten Studienjahr für Alle zugänglich waren. Ein Gesetzentwurf im Spätherbst 1986, welcher dem ein Ende setzen wollte, die Loi Devaquet - der gleichnamige Minister verstarb kürzlich // vgl. https://www.francetvinfo.fr/politique/l-ancien-ministre-alain-devaquet-pere-d-une-reforme-de-luniversite-abandonnee-apres-une-forte-contestation-en-1986-est-mort_2572911.html // - musste im Dezember jenes Jahres infolge aufflammender Proteste und nach dem spektakulären Tod des Demonstranten Malik Oussekine ersatzlos zurückgenommen werden.

Dies ändert sich nun durch die Einführung des neuen Einschreibportals „Parcourssup" und den Gesetzentwurf unter dem Titel ORE // vgl. http://www.assemblee-nationale.fr/15/projets/pl0391.asp // , wobei - je nach Studiengang - neben dem Abitur zusätzliche Anforderungen eingeführt werden. Auf nationaler Ebene, wo es erstmals im Januar dieses Jahres Demonstrationen dazu gab, die jedoch zunächst relativ schwach besucht waren (knapp 2.000 Teilnehmer/innen in Paris), kommt eine Bewegung dazu bislang nur schleppend in Gang. Bei der gemeinsamen Demo von Eisenbahner/inne/n und öffentlichen Diensten am vorigen Donnerstag, den 22. März 18 war jedoch die studentische Komponente etwa in Paris deutlich sichtbar vertreten.

Örtlich hat die Streikbewegung der Studierenden jedoch begonnen, Fuß zu fassen. In Montpellier besetzten mehrere Hundert von Ihnen am vorigen Donnerstag Abend (22.03.18) einen Hörsaal, zum Abschluss einer Vollversammlung zum Streik. Es ging dabei zunächst darum, zu verhindern, bei einer für den folgenden Tag ab 08 Uhr geplante nächsten Vollversammlung ausgesperrt zu bleiben.

Gegen null Uhr in der Nacht zum Freitag (23.03.18) wurden die rund fünfzig, zu dieser nächtlichen Stunde anwesenden Studierenden durch ein Dutzend vermummter, mit Knüppeln, von Nägeln durchsetzten Brettern und Elektroschockern bewaffneter Männer attackiert und vertrieben. Sicherheitspersonal soll ihnen applaudiert haben. Mehrere Studierende wurden ernsthaft verletzt. Der Dekan der - an der Universität Montpellier-1 mit soliden reaktionären Traditionen ausgestatteten - juristischen Fakultät, Philippe Pétel, soll ihnen Zeugenaussagen zufolge Zugang zum Hörsaal verschafft sowie ihnen applaudiert haben. Dies gab etwa der Augenzeuge „Octave“ gegenüber der Tageszeitung Libération zu Protokoll. // Vgl. https://liberation.checknews.fr/question/51951/le-doyen-de-la-fac-de-droit-de-montpellier-a-t-il-fait-rentrer-des-militants-cagoules-pour-tabasser-les-bloqueurs // In einem Interview hatte Pétel selbst angegeben, seine anständigen Jurastudierenden sei es, die sich gegen die Besetzung „gewehrt" hätten, und er sei „klar stolz" auf diese seine Studierenden. Als Eindringlinge stellte er nicht die militanten Faschisten - mutmaßlich aus dem Umfeld der gewalttätigen und v.a. aus Studierenden bestehenden Organisation GUD, Groupe Union Défense - dar, sondern die „fakultätsfremden" Studierenden von der sozialwissenschaftlichen Universität Montpelliers. Auch wollte explizit "nicht ausgeschlossen (wissen), dass ein Lehrer der Hochschule" sich unter den Angreifern befunden habe. Am Samstag, den 24. März 18 musste er daraufhin zurücktreten. Das Dekanat der Gesamtuniversität hat Strafanzeige gegen die faschistischen Angreifer erstattet. Mittlerweile hat die Hochschulministerin angekündigt, Pétel und ein Hochschullehrer seiner Fakultät, welcher offensichtlich tatsächlich an dem Schlägereinsatz unmittelbar beteiligt war, würden vom Dienst in der Lehre suspendiert. Gegen beide läuft nun ein Strafverfahren.

Am Sonntag, den 25. März 18 kam es daraufhin zu einem angespannten Gegenüber zwischen mehreren Hundert antifaschistischen Demonstranten in Montpellier und rund dreißig Aktivisten der zur „identitären Bewegung" zählenden Ligue du Midi („Liga des Südens") unter Richard Roudier, die ebenfalls beschuldigt wird, an dem Kommandoangriff beteiligt gewesen zu sein.

Unterdessen riefen Studierende aus dem nordfranzösischen Lille, auch auf dem Hintergrund der Vorfälle in Montpellier, ihre Mitstudierenden für Mittwoch, den 28. März 18 zu einem frankreichweiten Aktionstag auf. // Vgl. http://www.lefigaro.fr/ // An der Fakultät Tolbiac, einer Außenstelle der Sorbonne, stimmte eine studentische Vollversammlung von 700 Personen am Montag früh (26.03.18) für einen Streik mit Besetzung. Mittlerweile ist auch eine studentische Koordination gegründet worden, die zu einer frankreichweiten Demonstration am 14. April d.J. aufruft, mit einer zentralen Mobilisierung in Montpellier. // Vgl. http://www.lefigaro.fr/ //

Sektorenübergreifende Sozialprotestdemo(s) ?

Ferner plant die CGT zu einer gemeinsamen Demonstration aller laufenden sozialen Protestbewegungen am 19. April d.J. aufzurufen. Am Montag, den 26. März erklärte jedoch Force Ouvrière (FO) – der drittstärkte, politisch schillernde gewerkschaftliche Dachverband in Frankreich, der seit 1995 an der Mehrzahl der Streikbewegungen teilnahm, jedoch aufgrund wechselnder Interessenlagen seines Apparats oft unberechenbar auftritt -, es sei nicht einzusehen, warum man daran teilnehmen soll. Auch die CFDT als stärkster oder zweitstärkster Dachverband – ungefähr gleichauf mit der CGT - sieht „keinerlei Grund“, daran teilzunehmen.
 

Neben den eher regierungsfreundlichen Positionen dieser beiden Dachverbände bzw. ihrer Spitzen in den jetzigen Auseinandersetzungen (sowie, was FO betrifft, ihrem kurz bevorstehenden Kongress) kommt hinzu, dass die Leitung der CGT bei der Ankündigung des Mobilisierungstermins offensichtlich auf Bündnisgespräche keinerlei Rücksicht genommen hat – und dadurch selbst den grundsätzlich teilnahmewilligen, linken Gewerkschaftszusammenschluss Solidaires vor den Kopf stieß. Allem Anschein nach handelt die CGT-Führung derzeit eher, um interne Gleichgewichte auszutarieren, als um handlungsfähige Bündnisse nach außen hin zu bilden. (Vgl. in der bürgerlichen Presse dazu auch, allerdings in der ohnehin CGT-feindlichen und eher CFDT-freundlich gesonnenen, keinesfalls neutralen Pariser Abendzeitung Le Monde: http://www.lemonde.fr/ )

Die gewerkschaftliche Spaltung vertieft sich derzeit gegenüber den Vorjahren tendenziell. Zwar könnte es zu einigen nötigen inhaltlichen Klärungen in der Gewerkschaftslandschaft sein, gleichzeitig ist dieser Zustand dennoch ein Hemmfaktor für die Ausweitung der Mobilisierung.

Hinzu kommt nun noch der Linkssozialdemokrat und Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon: Letzter insistiert darauf, nun in naher Zukunft für einen Samstag zum Sozialprotesttag aufzurufen – mit dem Argument, die Gewerkschaften wie die CGT verträten jeweils Beschäftigtenkategorien, an die sich ihre Streikaufrufe richteten. Er (Mélenchon) und die Seinen verträten jedoch „das Volk“, das eine übergreifendere Kategorie darstelle und deswegen auch nicht lohnabhängig arbeitende Sektoren umfasse, so dass es eher an einem Wochenende zu mobilisieren sei. (Vgl. dazu Mélenchon glasklar in dieser Ausgabe seines wöchentlichen Videos, ab circa 9 Minuten und 35 Sekunden: https://melenchon.fr/ )

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.