Verkürzung allerorten
Über den Kampfbegriff des „regressiven Antikapitalismus“von Kollektiv "Autonomie Magazin"
04/2017
trend
onlinezeitung„There’s class warfare, all right, but it’s my class,
the rich class, that’s making war, and we’re winning.“
Warren Buffett, Unternehmer und GroßinvestorEinem Wanderzirkus gleich tingelt eine Handvoll Menschen duch die Lande, um die Kunde von einem „regressiven Antikapitalismus“ und einer „verkürzten Kapitalismuskritik“ zu verbreiten.Verkürzung und Regression sehen sie aller Orten und weil sie über das Übel dieser Phänomene Bescheid wissen ist es ihnen ein Anliegen, nicht nur in Artikeln, sonder mit einer endlosen Reihe von Vorträgen auf dieses Übel hinzuweisen. Die Heinrich Böll Stiftung und andere fragwürdige Institutionen bezahlen das gerne.
Viele der Grundlagen für die Argumentation dieser umtriebigen AufklärerInnen wurden vor einigen wenigen Jahrzehnten hauptsächlich in Nürnberg und Erlangen von der Gruppe „Krisis“ entwickelt. Neu ist die Botschaft also durchaus nicht. So häufig wie in jüngster Zeit ist uns aber das Schlagwort vom „regressiven Antikapitalismus“ noch nie begegnet. Dies war uns Anlass, uns mit dem Vorwurf der verkürzten Kapitalismuskritik auseinanderzusetzen.
Nach dem Vortrag eines im Metier der Antikapitalismuskritik besonders bewanderten Referenten im Rahmen eines Antifa-Kongresses 2016 in Nürnberg zog ein junger Mann aus der ZuhörerInnenschaft, der sich durch einschlägige Insignien als „Antideutscher“ zu erkennen gab, seine Schlüsse aus dem zuvor Gehörten. Wie immer seine Gedankengänge auch gewesen sein mögen, sie führten ihn zu der Frage, ob es denn angesichts all der gefährlichen Regression nicht geboten sei, gegen den revolutionären 1. Mai in Nürnberg vorzugehen. Der Referent wollte dies freilich nicht beantworten. Die Verantwortung für politische oder handgreifliche Maßnahmen gegen 3000 gutgelaunte AntikapitalistInnen überlässt er sicher lieber dem Fußvolk.
Grundzüge der Argumentation
Viele Argumentationsmuster und Behauptungen kehren in der Antikapitalismuskritik immer wieder. Wir listen zunächst einige davon auf:
Am häufigsten begegnet uns der Dreh, Antikapitalismus, Kritik am bestehenden Kapitalismus und jedwedes Mäkeln an den Zuständen in Eins zu setzen, also auch Erscheinungen „Antikapitalismus“ zu nennen, welche mit einem solchen nichts zu tun haben.
Desweiteren bezeichnen die KämpferInnen gegen Regression auch antikapitalistische Strömungen als „regressiv“, welche nicht zu der mittlerweile verschwindend kleinen Minderheit gehören, die zu einer vorkapitalistischen Gesellschaftsformation zurück will. Der Begriff wird meist pauschal und ohne jede Erklärung gesetzt, was denn jeweils das Regressive sei. Sofern sich die AntikapitalismuskritikerInnen auf Marx beziehen, negieren sie die in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zentralen Punkte Klassenkampf und Mehrwerttheorie. „Verkürzt“ nennen sie dann allerdings ausgerechnet die Ansichten von MarxistInnen, die sich am gesamten Theoriegebäude von Karl Marx orientieren. Den kritisierten AntikapitalistInnen werden noch weitere Schwächen und Unzulänglichkeiten unterstellt. Unter anderem, sie wollten oder könnten die Welt nur anhand von Oberflächenphänomenen deuten, durchschauten den Fetischcharakter von Wert und Ware nicht und hätten eine „Aversion gegen die Abstraktion“.
Verunglimpft wird unter dem Vorwand der Kritik an Verkürzung alles, was über rein abstrakte Ablehnung des Kapitalismus hinausgeht und darauf abzielt, ihn praktisch und konkret zu überwinden. Die Forderung, gesellschaftliche Verhältnisse (und ihre Mechanismen, die als „Sachzwänge“ daherkommen können) in ihrer Totalität zu begreifen wird dabei benutzt, um konkreten Akteuren persönliche Verantwortung für das eigene Handeln abzusprechen. Auch Interessen seien nur sytemimmanent vorhanden und nur als solches zu verstehen. Ein antagonistischer Klassenwiderspruch wird negiert. Alle werden als bloße TeilnehmerInnen in der Veranstaltung namens „Verwertung“ gesehen.
Ein weiterer Dauerbrenner der AntikapitalismuskritikerInnen funktioniert in etwa so: Kommunistische oder anarchokommunistische ArbeiterInnen sehen sich in einem Kampf gegen die herrschende Klasse (eine Menschengruppe), die Nazis sahen sich im Kampf mit „dem internationalen Judentum“ (eine imaginierte Menschengruppe, von den Nazis identifiziert mit den Juden). Menschengruppen die Schuld an etwas zu geben ist letztlich antisemitisch, ergo ist Klassenkampf mindestens tendenziell und strukturell antisemitisch. Oder: Lenin, viele anarchistische KritikerInnen der politischen Ökonmie und die zeitgenössische Linke reden von Finanzkapital. Die Nazis reden auch von Finanzkapital. Daraus schließen die AntikapitalismuskritikerInnen messerscharf: Die Kapitalismuskritik der Linken ist im Wesentlichen identisch mit dem, was Nazis und sonstige VolksgemeinschaftlerInnen unter Kritik am Kapitalismus verstehen. Die Darstellungen und Analysen der Linken braucht man sich demnach auch gar nicht im Einzelnen anzusehen. Der Vorwurf „wie die Nazis“ gilt pauschal.
Von Marx´Empfehlung, die in Konkurrenz gehaltenen Ausgebeuteten (und diejenigen, die keine AbnehmerInnen für ihre Arbeitskraft finden und daher für die Verwertungsmaschinerie überflüssig sind) sollten sich solidarisch zusammentun, um für ihre gemeinsamen Interessen einzutreten, halten die sehr wertkritischen AufklärerInnen nichts. Ihr Job ist es, interessegeleitete Kämpfe der ArbeiterInnenklasse zu diffamieren. Hierbei rekurrieren sie imer wieder auf „bürgerliche Errungenschaften“, Individualismus, den „Pursuit of happiness“, die „Freiheit“ der Einzelnen, also genau auf die uneinlösbaren Heilsversprechen des herrschenden Systems. Diese sehen sie durch Klassenbewusstsein und Klassenkampf arg bedroht und vollziehen damit eine falsche Dichotomie der herrschenden Ideologie nach. Dies tun sogar noch diejenigen der AntikapitalismuskritikerInnen von denen wir wissen, dass ihnen das Marxsche Konzept der Dialektik bekannt ist.
Auf mehr oder etwas anderes als eine völlig abstrakte „Kritik“ am Kapitalismus zielen sie nie ab. In der Praxis widmen sie sich ohnehin lieber der „Kritik“ und dem Diffamieren von AntikapitalistInnen.
Antisemitismus als Geisteskrankheit – Antikapitalismus auch
Die PsychiaterInnen vom LAK Shalom Bayern haben gar herausgefunden, dass es sich bei Antisemitismus oder „regressivem Antikapitalismus“ nicht um richtige oder falsche Einstellungen und Deutungen der Wirklichkeit handelt, sondern um psychische Krankheiten. Wir sind zwar in den Standard-Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 nicht fündig geworden, als wir die Diagnosekriterien für die vom LAK Shalom konstatierten Leiden nachschlagen wollten, aber diese Machwerke halten wir ohnehin für höchst kritikabel. Sehen wir uns also an, was der bayerische Arbeitskreis uns zum Thema zu sagen hat:
„Antisemitismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und regressiver Antikapitalismus sind keine Alleinstellungsmerkmale einer bestimmten politischen Richtung, sondern in der gesamten Gesellschaft verbreitete Geisteskrankheiten, deren Symptome zwar vielfältig sind und sich immer auch, man verzeihe uns die blöde Phrase, „ein Stück weit“ nach dem Weltbild der befallenen Person richten, jedoch immer die gleiche Wahnvorstellung vermitteln: ein Unvolk parasitärer, global agierender Wesenheiten, das für sich die Weltherrschaft beanspruche und unschuldige Völker ihres Blutes, ihres Bodens und ihrer Reichtümer beraube. Der Antisemitismus ist dabei auf Juden fixiert, der Antizionismus auf den Judenstaat und dessen Unterstützer, der Antiamerikanismus auf die USA und deren Unterstützer und der regressive Antikapitalismus auf „raffende Kapitalisten“, neudeutsch: Heuschrecken, also wandernde Schädlinge.“ (LAK Shalom: Antisemitismus, Antiamerikanismus und die Linke, 16.5.2011 bei ruhrbarone.de)
Dabei kann einem ein wenig Bange werden. Es ist ja bekannt, was in alter deutscher Tradition so alles mit „Geisteskranken“ angestellt wird. Ob den AutorInnen vom LAK Shalom irgendwann aufgefallen ist, dass sie es mit ihren Aussagen geschafft haben, psychisch Kranke anzupissen und gleichzeitig die Ideologie des Antisemitismus auf unsäglichste Weise zu verharmlosen und deren TrägerInnen zu entschuldigen? Tatsächlich wirft der Text noch weitere Fragen auf:
„Noch allzu frisch ist die Erinnerung an RAF-Angehörige, die sich in Lagern der damals noch eindeutig terroristischen PLO für den bewaffneten Kampf ausbilden ließen, noch allzu frisch die Erinnerung daran, dass es linke Terroristen – die „Revolutionären Zellen“ in Entebbe – waren, die erstmals nach 1945 wieder Juden von Nichtjuden selektierten, und allzu selten fand sich eine linke Stimme, die in diesen Verschwisterungen Linker mit völkischen und antisemitischen Bewegungen mehr sah als nur unschöne Auswüchse einer an sich gerechten Sache. Wenn das Schaf auch gerne mal den Mond anheult, muss es sich nicht wundern, wenn es für einen Wolf gehalten wird. Einen Werwolf, besser: Schafwolf. Oviswolf. Schafe sollten nicht heulen. Heult ein Mitglied ihrer Herde, sollten sie sich weder einstimmen noch sich wegdrehen, sondern prüfen, was da los ist. Und genau das tun sie viel zu selten, die roten Schafe.
An dieser Stelle werden viele Linke empört aufschreien, was uns einfalle, sie dermaßen zu diffamieren. Wir müssten doch wissen, dass die Linke ohne Makel sei, und dass jeder Makel, der sich dennoch zeige, entweder auf einer Lügenkampagne der kapitalistischen Medien basiere oder auf die Umtriebe eingeschleuster Agenten zurückzuführen sei. (…) Das größte Problem der Linken also, wie schon angedeutet, ist ihr manichäisches Weltbild. Gut und Böse sind klar definiert, und da alles, was das Gute tut, gut sein muss und alles, was das Böse tut, böse, kann vom Guten nichts Böses und vom Bösen nichts Gutes ausgehen. „ (LAK Shalom, ebda.)
Welcher Subspezies von roten Oviswölfen unterstellen die UrheberInnen ein solches Denken? Beschrieben wird mit dem „manichäischen Weltbild“ allerdings ganz gut die Ideologie und das Selbstbild von „antideutschen“ AntikapitalismuskritikerInnen. Der Artikel von LAK Shalom lädt wirklich zum Psychologisieren ein. Wir geben der Versuchung aber nicht nach.
Wem wird der Vorwurf der verkürzten Kapitalismuskritik gemacht?
So ziemlich allen, die etwas an den herrschenden Verhältnissen auszusetzen haben. Nazis, die „sozial geht nur national“ propagieren, wird fälschlicherweise Antikapitalismus unterstellt. Menschen, die aus den verschiedensten Gründen gegen Stuttgart21 protestiert haben, werden ebenso pauschal verunglimpft wie Occupy-AktivistInnen oder SyndialistInnen.
Besonders umtriebig sind die AntikapitalismuskritikerInnen in Bezug auf die Linkspartei. Zugleich ist die Partei „Die Linke“ häufig sowohl Betätigungsfeld als auch Zielscheibe der angeblichen KritikerInnen eines verkürzten Antikapitalismus. „Die Linke“ ist eine Organisation, in welcher z.B. die der Linksjugend zugehörenden Arbeitskreise Shalom überall Antisemitismus zu entdecken glauben. Weshalb sie einer Partei nahe sein möchten in der es von AntisemitInnen nur so wimmelt bleibt ihr Geheimnis. Dass „Die Linke“ in höherem Maße von AntisemitInnen durchsetzt ist als etwa die CDU oder die SPD scheint uns nicht plausibel. Außer natürlich, wenn man jede Maßnahme staatlicher Umverteilung zuungunsten der KapitalistInnen für antisemtisch hät. Genau dies tun etliche KritikerInnen des „regressiven Antikapitalismus“. Die Forderung nach mehr staatlicher Regulierung oder die Schaffung von Steuern für Finanztransaktionen gilt ihnen als Angriff auf bürgerliche Errungenschaften und als mindestens strukturell antisemitisch.
Was die AntikapitalismuskritikerInnen der Linkspartei tatsächlich zum Vorwurf zu machen scheinen ist ihr Eintreten für die Reduzierung sozialer und ökonomischer Ungleichheit und ihr Engagement gegen Angriffskriege und andere staatlichen Verbrechen selbst dann, wenn der Täter eine rechte israelische Regierung ist.
Das Argumentationsmuster der Antikapitalismuskritiker taugt dazu, noch jedes Verbrechen der Herrschenden zu affirmieren und Kritik an den VerbrecherInnen oder gar Maßnahmen gegen sie als antisemitisch zu diffamieren. Eine Ausnahme hierbei bilden antisemitische Verbrechen. Um ihre krude Argumentation etwa auch noch auf den Holocaust anzuwenden müssten die KritikerInnen darauf verzichten, das Elend der Welt und des menschlichen Bewußtseins im Kapitalismus letztlich immer wieder allein am Antisemitismus festzumachen. Dieser ist bei vielen von ihnen jedoch offenbar nicht ein (vielleicht wesentliches) gesellschaftliches Übel, sondern Dreh- und Angelpunkt ihrer Welterklärungen.
Kapitalismus ist Raub
„Obwohl Karl Marx die Grundlagen einer reflektierten Kapitalismuskritik geschaffen hat (die von den meisten Marxistinnen gerne übersehen werden), war er nicht immer frei von problematischen Verkürzungen. Leider nutzten Massenmörder wie Stalin, Mao u.a. sein unglückliches Diktum von einer „Diktatur des Proletariats“, um sich auf ihn zu berufen. Noch heute verachten vermeintlich besonders rrrrrrrevolutionäre Kämpfer*innen „für die Sache der Arbeiterklasse“ die Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Revolution und streben eine Parteidiktatur an.“ (Emanzipation und Friede, „Was ist regressiver Antikapitalismus?“, 18.12.2015)
Das Privateigentum der KapitalistInnen basiert auf der Ausbeutung jener, die den Reichtum überhaupt erst schaffen und selbst so eigentumslos gehalten werden müssen, dass sie weiterhin gezwungen sind, ihre Arbeitskraft auf dem Markt als Ware zum Kauf anzubieten. Mit der Entlohnung, das heißt dem Kauf der Arbeitskraft erhalten die KapitalistInnen die Möglichkeit, sich den Wert unbezahlter Arbeit anzueignen – den Mehrwert. Eine Transaktion unter Gleichen ist der Tausch von Lohn gegen Arbeit nur unter dem Gesichtspunkt der bürgerlichen Rechtspechung. Diese verbietet ja auch bekanntlich dem Milliardär und dem Obdachlosen gleichermaßen, im Supermarkt Brot zu klauen. Der Staat und seine Organe treten hier als ideeller Gesamtkapitalist und Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse auf. Eine der Aufgaben des Staates ist es, eine Rechtsordnung aufrechtzuerhalten und durchzusetzen, durch welche die Ausbeutung gesichert wird und das Privateigentum der KapitalistInnenklasse geschützt wird. Privater Reichtum stellt reale Macht dar und beruht auf Gewaltverhältnissen.
Die Ausgebeuteten mögen zwar auch etwas eignen (ein Auto oder eine Immobilie etwa, vielleicht ein paar Euro auf dem Konto) – jedoch stellt dies kein Kapital dar, da dieses „Vermögen“ nicht dazu dient Arbeitskraft zu kaufen, um erneut Mehrwert und damit Profit zu generieren.
Einem Gernot Gellwitz vom BAK Shalom der Linksjugend ist diese Unterscheidung nicht bekannt oder wurscht. Er argumentiert in „Projektion der Schuld – Erläuterungen zum Begriff des regressiven Antikapitalismus“: „Oft reicht schon die Fantasierung einer Gruppe, z. B. der Spekulant_innen, um zu implizieren, dass jene das Wohl der Welt in ihren Händen hielten. Gerade bei diesem Beispiel wird oft vergessen, dass jede juristische oder private (sic!) Person, die handelt – nicht nur am Aktienmarkt – ein_e Spekulant_in ist. Die prozentual größten Gruppen sind hierbei die Pensionsfonds, die auch in Deutschland, dank Einführung der Riesterrente, also einer Rentenversicherung per Kapitaldeckung, in der jeder Mensch sein Geld für seine eigene Rente anlegen muss, stark an Größe zugenommen haben. Ein_e jede_r spekuliert auf den Gewinn ihres_seines Rentenfonds und ist somit Teil des kapitalistischen Kreislaufs.“
Das muss eben jener quasi natürliche Kreislauf sein, von dem wir schon in der Schule gelernt haben wie schön er funktioniert und dass wir uns alle – die Deutsche Bank und die Pfandflaschen sammelnde Rentnerin – gleichermaßen und einander ergänzend in ihm befinden. Dem BAK Shalom ist dafür zu danken, dass er darauf hinweist, dass die größte SpekulantInnengruppe die zukünftigen PfandflaschensammlerInnen sind.
Die Ausbeutung des Lebens und der Fähigkeiten von Menschen über den Kauf ihrer Arbeitskraft geht vonstatten, indem sie durch ihre Arbeit Wert schaffen, der ihnen nicht gehört. Da die Eigentümer der Produktionsmittel die Arbeitskraft der wertschaffenden ArbeiterInnen gekauft haben, gehört ihnen auch der geschaffene Mehrwert. Um die politische Ökonomie und die kapitalistische Gesellschaft zu beschreiben und zu kritisieren haben Marx und Engels dargelegt, dass Wert bzw. Ware nicht das quasi Natürliche oder gar Substantielle sind, als das sie den Menschen im Kapitalismus scheinen, sondern sich in ihnen gesellschaftliche Verhältnisse ausdrücken. Die AntikapitalismuskritikerInnen mögen den Verwertungsprozess nicht als Gewaltverhältnis sehen, das eben nicht durch das falsche Bewußtsein der Lohnabhängigen und KapitalistInnen oder durch die stummen Sachzwänge eines automatischenSubjekts aufrechterhalten wird, sondern sehr häufig mit handfesten und mörderischen Mitteln.
Keine Interessensgegensätze?
Diejenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und mit ihrer Arbeit den privaten Reichtum und damit die Macht der Herrschenden mehren, haben durchaus Interessen, die denen der Herrschenden entgegengesetzt sind. Inwieweit die Beherrschten und Ausgebeuteten die Widersprüche im Kapitalismus erkennen und ob sie sich die Mechanismen des kapitalistischen Wirtschaftens richtig oder falsch oder gar nicht erklären, spielt für die objektive Tatsache des Interessensgegensatzes zunächst keine Rolle.
Ökonomisch (in Folge und vermittelt auch sozial und kulturell) ist die ganze Gesellschaft durch die herrschende Wirtschaftsweise in Klassen gespalten. Statt von „KapitalistInnen“, „ArbeiterInnen“, „KleinbürgerInnen“ usw. zu reden, könnte man freilich auch die jeweilige Stellung im Produktionsprozess und das jeweilige Verhältnis zu den Produktionsmitteln in mehreren Sätzen oder Büchern ausführen. Auf deskriptive Kategorien aber zu verzichten hieße, die gesellschaftliche Realität nur (tatsächlich) verkürzt, verwischt und nebulös darstellen zu können und keine Begriffe mehr zu haben um das Wesentliche dessen beschreiben zu können, was im Kapitalismus geschieht. Beliebig ist der Begriff von gesellschaftlichen Klassen nicht. Er ist festgemacht an der objektiven Stellung im Prozess der gesellschaftlichen Produktion. Schichtenmodelle, „Multituden“ oder „99% vs 1%“ können den Klassenbegriff nicht ersetzen. Sie mögen mehr oder weniger brauchbar sein (wir meinen: weniger!) um gesellschaftliche Phänomene und Zustände zu beschreiben, verbleiben dabei jedoch an der Oberfläche und fassen die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Mechanismen nicht.
Die äußerst verquere Argumentation der AntikapitalismuskritikerInnen wird kenntlich, wenn wir sie versuchswise auf den Kolonialismus anwenden. Gibt es im Kolonialismus keine Täter, keine Opfer? Keine Interessensgegensätze? Der belgische König und ein Kind, dem des Königs Schergen im Kongo die Hände abschnitten, waren schließlich beide TeilnehmerInnen der Veranstaltung „belgischer Kolonialismus“. Da dieser als Notwendigkeit und in seiner Totalität begriffen sein will und es, wie wir gelernt haben, antisemitisch ist, Einzelne oder Gruppen für gesellschaftliche Übel verantwortlich zu machen, dürfen wir Leopold II. und seinen Exekutoren demnach keinen Vorwurf machen… Wir sehen das anders!
Elite mit Durchblick
Die immer wiederkehrende und immer wieder erstaunlich inkohärente „Argumentation“ der AntikapitalismuskritikerInnen bietet ihren AnhängerInnen den Luxus, zur Not auf Argumente gleich ganz verzichten zu könnenund einfach zweieinhalb Behauptungen zu setzen, die leicht auswendig zu lernen sind. Trotz allen Unverständnisses marxistischer Theorie kann man so zu dem elitären Kreis derer gehören, welche Marxens wesentliche Kennzeichnung des Kapitalismus verstanden haben. Tatsächlich behaupten KritikerInnen der „Verkürzung“ extrem häufig einen schlichten Mangel an Einsicht oder Kenntnissen bei denen, die ihren Hypothesen nicht folgen.
„So entsteht immer wieder ein breiter gesellschaftlicher Konsens von „ganz links“ bis „ganz rechts“ gegen vermeintlich „unproduktive Schmarotzer“, der seine Ursache im fehlenden Verständnis für die grundlegenden Zusammenhänge der warenproduzierenden Gesellschaft hat.“
„…so bleibt er doch außerstande, das Wesen des Kapitals zu erfassen, die Krise zu verstehen und eine emanzipatorische Perspektive zu entwickeln.“
„Aus dem unverstandenen Charakter der Warenproduktion resultiert…“
(Alle Zitate aus dem Artikel „Was ist regressiver Antikapitalismus?“, Emanzipation und Friede, 18.12.2015)
Die Ideologie der kapitalismuskritischen AntikapitalismuskritikerInnen stellt ein Identitätsangebot an verlassene und erniedrigte Monaden mit kleinbürgerlichem (und oft akademischen) Hintergrund dar. Sie ermöglicht Zugehörigkeit und die Attitüde des aufgeklärten Checkers, der verstanden hat, was alle anderen, von der katholischen Kirche bis zur DKP und dem Gegenstandpunkt, einfach nicht schnallen.
Nebenher bietet so eine Existenz als KämpferIn gegen schädliche und unheilvolle Kapitalismuskritik nicht nur die Möglichkeit, sich selbst das Etikett der „reflektierten Kapitalismuskritik“ anzuheften, sondern sich auch gleichzeitig im Affirmationsbetrieb einzurichten und ganz sicher nie etwas zu unternehmen gegen das Verbrechen, das der Kapitalismus ist und gegen die vielen Verbrechen, die er hervorbringt.
Als Gratiszugabe kann – im „antideutschen“ Mainstream dieser Ideologie – der eigene Nationalismus projiziert ausgelebt werden, können Rassismus, Tribalismus, Verachtung des Anderen und Vernichtungsphantasien gepflegt werden – alles unter dem Vorzeichen einer als „philosemitisch“ phantasierten Identität. Argumentation und Argumentationsmuster sind schlicht genug und werden von einer Handvoll Leuten auf Vorträgen und in Artikeln ständig wiedergekäut. Ihre Grundzüge kann man sich leicht merken.
Marx muss man also nicht gelesen haben. Seine Wertkritik nachvollziehen können muss man schon gar nicht. Jeder, der die Wörter „regressiv“ und „Antikapitalismus“ hintereinander aussprechen kann gehört zu einem Kreis von Erleuchteten und darf revolutionäre Linke der Unwissenheit zeihen.
Kritik am real existierenden Kapitalismus
Illusionen von einem demokratischen Bankwesen, einer gerechten Tauschwirtschaft und was dergeichen in der Occupybewegung auch (neben vielen anderen Inhalten) zu finden war, machen sie durchaus kritikabel. Wie bei einer Massenbewegung nicht anders zu erwarten, konnte man auch rassistische und antisemitische Äußerungen finden. Es gab gute Gründe, sich von Occupy fernzuhalten und noch bessere, sich mit den richtigen Inhalten einzumischen und VerschwörungstheoretikerInnen und andere verschwurbelte oder bösartige Elemente in der Bewegung zurückzudrängen. Den KämpferInnen gegen Verkürzung und Regression geht es aber freilich um eine pauschale Verunglimpfung einer Bewegung, die mit teils richtigen Fragen und oft falschen Antworten sich immerhin gegen Unrecht und Unterdrückung in Bewegung setzte und Straßen und Plätze zurückeroberte um sie zu politisieren.
Dabei greifen AntikapitalismuskritikerInnen zu dem billigen Trick, sich einzelne Transparente und Parolen herauszugreifen und sie der gesamten Bewegung überzustülpen. Sie tun so, als sei durch die häufig vorkommenden Anschuldigen an gierige BankmanagerInnen und SpekulantInnen darauf zu schließen, dass alle Beteilgten auf eine „faire Marktwirtschaft“ setzen würden und ihnen allen eine komplette Ablehnung des profitwirtschaftlichen Systems fremd wäre.
Die AntikapitalismuskritikerInnen sehen in solch sehr bunten Bewegungen wie Occupy nur Verblendete, die sich als ehrliche aber betrogene Mehrheit wähnen und einen Schuldigen und Sündenbock (ob Bankmanager oder Juden, egal) für ihr eigenes Zukurzkommen suchen.
Tatsächliches Unbehagen und Zorn angesichts Pseudodemokratie, Umweltzerstörung und globaler Schreckensherrschaft ist ihnen lediglich Beleg für latenten Antisemitismus.
Die Sozialdemokratie und Insektenplagen
Ab dem Herbst 2004 bezeichnete der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering anonyme Finanzinvestoren als Heuschrecken. Schwärmen dieser Insekten gleichend würden SpekulantInnen über Unternehmen herfallen, die Landschaft abgrasen und dann weiterziehen.
SPD und Grüne hatten selbst wenige Jahre zuvor Gewinne aus Veräußerungen inländischer Kapitalbeteiligungen im betrieblichen Bereich von der Steuer befreit. Auch Hedgefonds konnten in Deutschland erst nach dem 2003 von SPD und Grünen durchgesetzten „Investitionsmodernisierungsgesetz“ operieren.
Unter anderem DGB-Gewerkschaften griffen die Schädlings- und Parasitenmetaphorik auf. Im Mai 2005 titelte die Zeitung der IG Metall „US-Firmen in Deutschland – Die Aussauger“. Auf dem Titelbild grüßt eine dreist grinsende Stechmücke mit goldenem (Raff-)Zahn die LeserInnen, indem sie ihren mit der US-Flage versehenen Zylinder lüpft. Die Mücke tragt Anzug und hat ihren Aktenkoffer dabei. Ihr Stechrüssel ist natürlich gebogen. Im Heftinneren haben die US-amerikanischen Plagegeister und Blutsauger noch weitere Auftritte.
Versinnbildlicht werden soll mit der Stechmückenmetapher nicht, dass der Kapitalismus Menschen aussaugt, sondern dass gierige und verantwortungslose US-KapitalistInnen das ehrliche, produktive und sozial nützliche deutsche Kapital aussaugen. Dieser positive Bezug auf die deutsche „schaffende“ Ausbeuterklasse ist freilich dumm und widerlich. Sozialdemokratisch eben. Die Verwendung von Parasitenvergleichen (zumal wenn ein dem produktiven Kapital angeblich entgegengesetztes Finanzkapital mit ihnen belegt werden soll) ist zudem auf grauenhafte Art geschichtsvergessen und hat berechtigterweise viele sofort an die Unterscheidung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital und die Darstellung der (natürlich jüdischen) Raffzähne in der nationalsozialistischen Ideologie denken lassen.
Selbstverständlich spricht nichts dagegen, das gesellschaftlich parasitäre Dasein der KapitalistInnenklasse auch parasitär zu nennen. Hierzu braucht man sich aber weder bei der Bildsprache der antisemitischen Massenmörder zu bedienen noch muss man unschuldige Insekten beleidigen.
Which side are you on?
Armut, Kriege, Folter, Vergewaltigung und Zerstörung sind die Folgen des Waltens der herrschenden Klasse und der Durchsetzung ihrer Interessen. Wir sollen warten, bis der Kapitalismus in eine „finale Krise“ gerät oder es sich die Herrschenden und Beherrschten kollektiv anders überlegen? Dies scheint die zynische Empfehlung der hochreflektierten KritikerInnen von Verkürzung und Regression zu sein.
Menschen, die danach trachten, sich in diesem Schlachthaus nett einzurichten, können nicht als Linke betrachtet werden. Das gleiche gilt für diejenigen, welche sich der herrschenden Klasse als PropagandistInnen andienen; für diejenigen, welche jede linke Strömung, die den Klassenkampf führt oder propagiert, als antisemitisch oder antiamerikanisch diffamieren und angreifen.
Es gilt ebenso für alle, die behaupten AntikapitalistInnen zu sein, aber nichts anderes tun, als die Schädlichkeit jeder Maßnahme gegen die herrschenden Verhältnisse zu behaupten. Die ideologischen Sturmtruppen von SPD und Grünen innerhalb der linken Szene sind keine geeigneten AdressatInnen für Überzeugungsversuche. Jedoch lohnt es, mit allen zu diskutieren, welche die pseudolinke Affirmation des Mordens und der Ausbeutung nur fahrlässig mit radikaler Kritik verwechseln. Appeasement und Konfliktvermeidung aber wären fatal.