"Kosova benötigt eine progressive linke Politik"

Skype-Interview mit Max Brym 

04/2017

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Für eine akademisch studentische Facharbeit wurde der Herausgeber von Kosova-Aktuell von einem Studenten aus Frankfurt am Main per Skype interviewt. In dem Gespräch geht es um die Aufgaben der kosovarischen Diaspora in Deutschland, bezüglich des Kampfes in Kosova gegen faschistoide Praktiken, und des Kampfes für soziale Gleichheit um Selbstbestimmung.  Auch der Fall des am 5. November in Prizren nach Meinung der Redaktion aus politischen Gründen  ermordeten Astrit Dehari ( Aktivist  von VV)  wurde angesprochen. Nach Meinung von Max Brym ist die „ Bewegung für Selbstbestimmung“ eine fortschritliche linke Kraft, sowie die einzige Hoffnung der einfachen Menschen. Nach Max Brym ist VV „der einzige progressiv politische Bezugspunkt in Kosova“. In dem Interview ist Max Brym immer B.

 

J: Hallo Herr Brym, können Sie mich hören?

B: Ja, ich kann Sie hören.

J: Ich habe gerade eben ein Interview geführt, mit dem einen Kollegen, den wir letztens in Frankfurt bei Ihrem Vortrag kennengelernt haben. Es war ein sehr, sehr nettes Gespräch, das hat mir sehr gefallen. Er meinte, sie waren auch im Kosovo.

B: Ja, ich war letzten Monat in Kosova. Zwar  nicht lange, nur 10 Tage, aber das genügt um einige Eindrücke wieder zu kriegen, oder bestimmte Eindrücke wieder zu verfestigen.

J: Ja, so Feldaufenthalte sind sehr hilfreich auch, ja, das habe ich auch festgestellt. Sind Sie auch im Kontakt mit der Kosovarischen Diaspora hier in Deutschland und im deutschsprachigen Raum? Ich habe gehört, dass es hier politische Strukturen von der Diaspora geben soll. Die LDK in Hessen zum Beispiel. Sind Sie damit auch schon in Berührung gekommen hier?

B: Also ich kam mit der albanischen Diaspora in Berührung eigentlich seit Anfang der 80er Jahre. Diaspora heißt nicht einfach Diaspora, sondern auch da gibt es unterschiedliche politische Orientierungen. So, wobei, die Aktivität, ich komme ja aus München, in München nicht sonderlich ausgeprägt ist, in München gibt es nur die Bewegung für Selbstbestimmung, die da regelmäßig etwas macht. Die treffen sich monatlich, die haben ein politisches Schulungsprogramm, wohingegen die Vertreter der Großparteien, die versuchen in der Diaspora Strukturen zu entwickeln eher nur einmal im Jahr hier irgendeine Veranstaltung machen mit einer Musikgruppe und dann kommt ein Gast aus Kosovo, spricht dann 10 Minuten und das war’s. Aber ernsthafte Arbeit macht eigentlich nur die VV in Deutschland. 

J: Ernsthafte Arbeit, sie meinen wahrscheinlich damit, versuchen wirklich so strukturierte Beziehungen aufzubauen zwischen der deutschen Öffentlichkeit, der albanischen Diaspora und der kosovarischen Vetevendosje-Strukturen, ja? 

B: Genau, in dem Rahmen, den sie genannt haben, ja.

J: Das heißt, es gibt auf jeden Fall schon Beziehungen wird schon bewusst herbeigeführt durch Vetevendosje, ne? 

B: Ja, also VV wendet sich zum Beispiel immer wieder an Abgeordnete, an Mandatsträger unterschiedlicher Couleur, ja. Wobei es schon begrenzt ist, also VV definiert sich ja als linksdemokratisch. Da spricht man einzelne Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei an, auch ein paar Abgeordnete von der Partei die Linke. Mit rechten politischen Bewegungen will die Partei nichts zu tun haben. 

J: Würden sie auch meinen, es gibt Potential zur Vernetzung noch in der Zukunft? Also in welchen Bereichen gibt es Potential zur Beziehungssteigerung also Visar meinte, die Überweisung von Geld spielt eine Rolle, gibt es eine andere Möglichkeit, wie man die Vernetzung vielleicht steigern könnte? 

B: Es ist so, es ist ja Standard, dass die albanische Emigration, das sind ja über 300 000 in Deutschland, die Familienangehörigen in Kosova ernährt. In Kosova gibt es keine Krankenversicherung, keine Arbeitslosenversicherung. Die Einkommen eines Arbeiters, selbst wenn er Arbeit hat, liegt so bei 150€-200€ in der privatisierten Industrie. Vier Hundert, wenn er Glück hat, wenn er noch im Staatsdienst sich befindet, sorgt mit einer Preislage, die sich mit der Preislage in Deutschland, der Euro ist dort Landeswährung, in vielen Bereichen durchaus vergleichen lässt. Aber das sind eher so normale individuelle Beziehungen, von Familie zu Familie. Also da nimmt VV es zur Kenntnis und sagt aber, das kann nicht die Lösung für Kosova sein, auf die Dauer. 

J: Und deswegen fordert VV bestimmte politischen Veränderungen im Land?

B: Ja, also sie fordern ein Ende mit dem neoliberalen Privatisierungsprozess, der dort gegenwärtig abläuft. Das heißt Kosova ist in Wirklichkeit ein sehr, sehr reiches Land, es hat enorm viele Bodenschätze, also von Chrom, Nickel, Kupfer, Blei bis hin zu Gold und Silber, hatte mal in der Vergangenheit eine verarbeitende Industrie und ist jetzt dagegen, dass die Reichtümer des Landes schlicht und ergreifend verschleudert werden. Zum Beispiel wurde die Stromversorgung kürzlich erst privatisiert und das Ergebnis war, wie bei fast jeder Privatisierung, dass 50% der Arbeiter entlassen wurden. Die Preise für die Stromabnehmer in Kosova stiegen sofort am Anfang gleich um 100%. Dann hat das Unternehmen auf Grund von Protesten das zurück genommen,  es gab eine Preissteigerung von 20%, seit drei Jahren steigt die Stromrechnung pro Jahr um 20%. Vetevendosje sagt nee, wir brauchen einen starken gesellschaftlichen Sektor und der muss entscheidend sein für den Aufbau des Landes. Wir haben nichts gegen 90% der Selbständigen in Kosova, weil viele auf Grund der Notsituation, die es dort gibt, plötzlich versucht haben, irgendwo Kleingeschäfte zu eröffnen. Auch mittels von Krediten aus der Diaspora, gegen die haben wir nichts, aber wir haben etwas gegen große ausländische Investoren und gegen Leute aus unserer politischen Mafia, die versuchen, ihr Geld zu legalisieren in dem sie irgendetwas privat erwerben. 

J: Das heißt, auch für die Aktionen von VV selbst, die sie dann macht und durchführt im Kosovo, spielt die Diaspora schon eine große Rolle? 

B: Das Problem ist, dass die kosovarischen führenden Parteien, die die Regierung bilden immer die Wahlen so ansetzen, dass die Diaspora eigentlich keine Chance hat, an ihnen teilzunehmen. Also man setzt die Wahlen nicht in die typischen Urlaubszeiten, sondern irgendwann, wann die Diaspora eben in der Diaspora ist und nicht zuhause. In Deutschland dann zu wählen, ist eine irre bürokratische Prozedur. Da muss man einen Wahlschein zig Wochen vorher beantragen, bei einer kosovarischen Stelle und wie sie dann diesen Antrag bearbeitet ist ihre Sache. In aller Regel kriegen die gar keine Wahlunterlagen zugestellt. Also ich habe in Deutschland über 300 000 Kosovaren, man schätzt es könnten auch 400 000 sein. Es wird der Versuch gestartet, sie von den Wahlen fern zu halten. Weil man das Wahlverhalten der Diaspora ja nicht kontrollieren kann. In dem kosovarischen Dorf kann ich das unter Umständen kontrollieren. Da ist jemand bei der Stadt angestellt, bei einer kleinen Gemeinde, er hat zwanzig Familienangehörige und dann wird ihm gesagt, bring bitte 20 Stimmen, aus dieser Straße, wo deine Familie wohnt, wenn du das nicht bringst, dann vergiss deinen Job. Das könnte ich mit der Diaspora nicht machen, ja? Darum sagt VV, auch die Diaspora muss die Chance haben, an den Wahlen teilzunehmen, Wir müssen sie vorher auch politisch aufklären. 

J: Ich habe heute erfahren, dass solche Strukturen in Deutschland auch zurzeit geschaffen werden. Visar zum Beispiel war lange Jahre bei LDK hier in Hessen aktiv, ganz stark, und dann hat er gesagt, dass er sich nicht mehr von den LDK-Strukturen vertreten fühlt und deshalb ausgetreten sei. Er sympathisiert aber auch ganz stark mit VV und meint, dass er es begrüßen würde, wenn VV in Deutschland auch organisierte Strukturen aufbauen würde. Würden Sie die Einschätzung auch teilen? 

B: Die Einschätzung würde ich teilen, also man hat vor kurzem erst die Diaspora Bundesleitung für Deutschland gewählt. Da wurden alle Ortsgruppen dann beteiligt, von München bis Hamburg, die es gibt. Ich weiß jetzt nicht genau, wie die Struktur in Frankfurt ist, aber in München zum Beispiel ist sie relativ gut mittlerweile. Im Ruhrgebiet ist sie relativ gut. Also man hat eine nationale Diaspora-Leitung gewählt. Jede Stadt hat einen eigenen Vorstand, der auch gewählt wird und es finden regelmäßig Veranstaltungen statt. Auf Anregung von einigen Leuten, darunter auch von mir wird VV in naher Zukunft dazu übergehen, auch viele Veranstaltungen in deutscher Sprache, für ein deutschsprachiges Publikum dort zu führen. So zusagen, es bringt wenig, wenn wir immer nur unter uns diskutieren, also die albanische Diaspora und die deutsche Öffentlichkeit und die Menschen in Deutschland unter denen wir ja wohnen, kriegen von unseren Problemen gar nichts mit. Das war ja eher so die alte Methodik der LDK zum Beispiel, die haben sich immer selbst getroffen, untereinander irgendwas diskutiert und dann ging man nachhause. So und VV sagt, so kann das nicht laufen, also ich muss hier Kontakte aufbauen zu Journalisten, zu politischen Organisationen. Zum Beispiel hat VV in Deutschland den Beschluss gefasst, dass jedes Mitglied, sofern es irgendwo abhängig beschäftigt ist, die Pflicht hat, Mitglied der Gewerkschaft zu werden. Da nicht nur eine Arbeit in Bezug auf Kosova, sondern, sich an der normalen gewerkschaftlichen Arbeit zu beteiligen. 

J: Daran sieht man die linke Perspektive von VV ganz stark.

B: Sieht man besonders deutlich in der Schweiz. Da gibt es ein Vorstandsmitglied in der Gewerkschaft Unia, das ist sozusagen das, was der deutsche DGB ist. Er kommt aus der Albanischen Diaspora, ist VV-Mitglied, macht dort die Arbeit für die Diaspora insgesamt für die Gewerkschaft, beantwortet monatliche Zeitungen in Türkisch, in Serbokroatisch, in Albanisch, also als Gewerkschaftsszeitung, ne? VV hat für mich so die Orientierung, dass sie sagen, wir müssen arbeiten für und um Kosova. Klar, ja? Aber auch dort, wo die Menschen leben, müssen sie sich an allen progressiven Bewegungen beteiligen. So in England, da kann man sich jetzt streiten, da haben ein paar Radikaltrotzkisten was dagegen. In England haben sie beispielsweise den Beschluss gefasst, die Strömung um Corbyn, innerhalb der Labour-Party zu unterstützen. Das denke ich, ist ein Beleg für die linke Orientierung. Oder relativ linke Orientierung, es gibt natürlich immer Leute, denen das nicht radikal genug ist. 

J: Wie würden Sie den Nationalismus-Vorwurf einschätzen, den man oft an VV hierzulande in den Medien finden kann? 

B: Diesen Vorwurf würde ich zurückweisen, weil er nicht unterscheidet, zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation. Also wenn man ein bisschen in die Geschichte zurück geht und sich mit der Frage beschäftigt, wie hat Marx die Beziehungen zwischen den englischen und den irischen Arbeitern analysiert, dann kam er zunächst, wie er frisch in England war, zu der Einschätzung, dass englische und irische Arbeiter einfach gemeinsam kämpfen müssen. An der Orientierung hat er auch immer festgehalten. Später kam er zur Meinung, dass Irland das Recht auf Unabhängigkeit erhalten muss und die englischen Arbeiter müssen das unterstützen. Weil, wenn sie das nicht tun, wird sozusagen der englische Arbeiter immer im Boot mit seinem Großbürgertum sitzen, was eben sagt, Irland gehört annektiert, Irland, das ist irgendetwas minderwertiges. So, wenn ich das habe, diesen Rassismus gegenüber den Iren, dann sagt schon Marx, das ist der nationale Reflex bei den Iren, zu sagen, Ich wehre mich gegen diese Unterdrückung auch mit starken progressiven Inhalten behaftet, im Gegensatz zu dem Nationalismus der anderen. So, und Vetevendosje argumentiert auch sehr stark mit dem Beispiel Norwegen-Schweden. Also bis 1905 gehörte ja Norwegen zu Schweden, da gab es eine Unabhängigkeitsbewegung und es war ziemlich unproblematisch, dass Norwegen unabhängig wurde. Weil die schwedischen Arbeiter haben sich nicht dazu verleiten lassen, gegen norwegische Unabhängigkeit Stellung zu beziehen, bzw. ihren König zu unterstützen. Seit dem gibt es eigentlich ein gutes Einvernehmen zwischen Norwegern und Schweden. VV sagt ja, wenn die Selbstbestimmung Kosovas jetzt in Serbien akzeptiert werden würde, das wäre ein Weg dazu, um das Verhältnis zwischen den Albanern und Serben wieder auf ein vernünftiges Level oder auf ein normales Maß zu heben. Der einzige Weg, ja? Also nur wenn Massen in Serbien sagen, die haben das Recht auf Eigenstaatlichkeit, wenn das passiert, dann ist der serbisch-albanische Konflikt - Geschichte. Von daher ist eben Nationalismus eben nicht gleich Nationalismus. Man wirft ja auch nicht den Kurden vor, ja, dass sie nationalistisch wären, sondern sie wehren sich gegen nationale Unterdrückung durch das Erdogan-Regime. 

J: Ja. Okay, jetzt ganz allgemein gefragt: Was ist für Sie die größte Bedrohung für die politisch-gesellschaftliche Integrität im Kosovo, zurzeit?

B: Es ist schwierig diese Frage zu beantworten, weil es gibt mehrere Bedrohungsszenarien. Es gibt ein Szenario von innen und eines von außen. 

J: Von innen?

B: Die herrschende, regierende Clique sage ich mal. Es ist so, im Kosovo leben ca. 6% der Bevölkerung im extremen Luxus und in einem extremen Reichtum. So, es ist so. Diese Gruppe von Menschen, das kann man identifizieren, ist verbunden mit den führenden politischen Positionen des Landes. Das heißt, man benutzt den Privatisierungsprozess dazu, es ist auch das Phänomen der Korruption, um sich selbst zu bereichern. Die Masse des Volkes lebt in Armut, also 36% leben offiziell in Armut, das heißt von weniger als 2€ am Tag. 18% in extremer Armut von weniger als 1€ am Tag, es gibt keine Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, in der privatisierten Industrie überhaupt keinen Kündigungsschutz, wenn man genau hinschaut. Das ist natürlich ein Bedrohungsszenario, diese zunehmende soziale Ungleichheit. Da wird nichts besser, sondern das verschlimmert sich alles. Es deutet sich ein Konflikt an zwischen oben und unten in Kosova. Gegenwärtig versucht die herrschende Clique oder Kaste, weil eine richtige Klasse ist es noch gar nicht. Es ist eher so eine Mafiokratie. Versucht jeden Widerstand mittels polizeilicher Provokationen, mittels Provokationen auch in den Medien, die im Wesentlichen von den Geldern der Regierung auch leben und dann Hofberichterstattung betreiben. Die identifizieren VV meistens mit Chéguevarrismus. Kürzlich sagte ein Minister für kommunales, so was gibt’s in Kosova, Albin Kurti, der bekannteste Politiker von VV, hätte vor, in Kosova rote Brigaden aufzustellen, also bringen sie in Bezug zu den roten Brigaden in Italien. Es werden immer mehr Leute von VV verhaftet. Also, man ist schnell dabei, irgendeine Sache, du hast einen Stein geworfen am so und so vielten. Das stimmt gar nicht, aber er hat ihn angeblich geworfen. Er sitzt monatelang im Gefängnis oder sitzt im Hausarrest. Sechs Leute wurden Ende August wegen einem angeblichen Terroranschlag auf das Parlament. Alle 6 gaben freiwillig ihre DNA ab, es gab keine Filmaufnahmen, keine Zeugen, gar nichts. Einer von diesen Sechs verstarb im Gefängnis und alle Experten sind der Meinung, das war nicht einfach nur ein Todesfall, sondern bewusster politischer Mord. 

J: Das ist das mit der Plastikflasche? 

B: Das ist das mit der Plastikflasche. Es ist ein 26-jähriger Mensch, den ich persönlich auch kannte, der hervorragend Deutsch sprach, ein ausgezeichneter Medizinstudent, ja geht mit so einem Konstruierten Vorwurf, der Staatsanwalt hatte nicht einen Beweis, ins Gefängnis. Soll sich dann selbst im Gefängnis mit einer kleinen Plastikflasche im Gefängnis ermordet haben, was überhaupt nicht geht, sagt jeder Arzt. Ja, weil du sozusagen auch Reflexe hast. Du dann die Flasche wieder ausspuckst. Und dann hat eine unabhängige Untersuchung festgestellt, der Junge hatte am Körper zig Druckstellen und oben eine angebrochene Rippe und auch Verletzungen am Hals. Was für Selbstmord? Aber die Regierung hält an dieser Selbstmordthese fest und jeder weiß, das war kein Selbstmord. Aber es ist ein Bedrohungsszenario für die Leute, also wenn du Widerstand leistest, kann dir so etwas passieren. Fatal ist es, weil es keine kosovarische Geschichte ist, oder irgendeine Balkan-Angelegenheit, sondern in Wirklichkeit eine EU-Geschichte. Im Kosovo habe ich eine EU-Mission, EULEX, das ist eine Rechtstaatsmission vom Namen her. Nur sie handelt nicht. Sie hat nach dem Fall Astrid Dehari ihr vollstes Vertrauen in die kosovarischen Behörden bekundet. Also ich habe das jetzt wirklich zitiert, ja? Das ist jetzt wirklich ein Bedrohungsszenario. Natürlich gibt es Bedrohungsszenarien von außen. Also immer, wenn es in Serbien eine Krise gibt, also einen sozialen Konflikt im inneren, in Serbien wird ja auch sehr viel Privatisiert. Man geht gerade daran, die Renten in Serbien zu kürzen. Also in so einer Situation, fängt man an, irgendwo den Kosovo-Mythos zu besingen und lässt einen Zug nach Mitrovica fahren, mit der Aufschrift "Kosovo ist Serbien". Natürlich lässt man ihn da nicht durchfahren, aber dann heißt es "hoppla!". Ja, wir müssen ja kämpfen um unser heiliges Land! Also nehmt gefälligst die Rentenkürzungen hin, nehmt die Privatisierungen hin, das ist sozusagen die Funktion des serbischen Nationalismus, die aber auch von außen her immer wieder im Kosovo interveniert, er braucht das auch, um seine eigenen kriminellen Strukturen und ein günstiges Investitionsfeld für ausländische Kapitalinvestoren zu garantieren. Also ich führe es immer wieder auf die Ökonomie zurück also. 

J: Meinen Sie, die Interventionen der Regierung, die ihnen zu folge versucht, VV abzuschrecken, stößt auf Erfolgt oder mobilisiert das eher die Menschen? 

B: Also gegenwärtig sagen alle Wahlumfragen in Kosova, die die Regierung in Auftrag gegeben hat, die bestimmte Presseorgane in Auftrag gegeben haben, dass VV, die Chance hat, die stärkste Partei in Kosova zu werden. Ist so, ja? Kosova hat eine verdammt junge Bevölkerung, also jeder zweite ist unter 27 Jahren und der Wunsch nach Veränderungen ist groß. Weil dem so ist, befürchte ich eine Provokation durch die kosovarische Regierung, in absehbarer Zeit. In dem man versuchen wird, VV mit terroristischen Akten in Verbindung zu bringen, in dem man Verhaftungswellen durchführt, am Ende sogar eine Abart von faschistischer Diktatur errichtet. Ich schließe es sogar nicht aus, dass die Regierung sogar probieren wird, weil die Wahlumfragen kennen sie, VV zu illegalisieren. Normalerweise ist so etwas nicht lustig, sorry, wenn ich ein bisschen grinse. 

J: Sie sind ja auch bei Facebook aktiv und sind ja auch ziemlich gut vernetzt. Die Facebook-Seite von VV hat zurzeit über 200 000 "likes". In einem Land mit 1,9 Millionen Einwohnern ist das schon ziemlich beachtlich. Wenn Sie ihre Pinnwand anschauen, posten da viele Menschen Inhalte, die auf VV zurückgeführt werden können? 

B: Es posten sehr, sehr viele Leute aus der Diaspora. Die führenden Funktionäre oder Politiker, die haben ihre eigene Pinnwand. Die posten nicht woanders hin. Es wird nur sehr viel geliked, wenn ich Berichte aus Kosova einstelle. Aus der albanischen Diaspora relativ viel. 

J: Wird dann das, was sie einstellen, auch wahrgenommen und weitergetragen?

B: Es ist auch so, ich gebe ja die Zeitung Kosova-aktuell heraus. Ich stelle hin- und wieder amüsiert und leicht ärgerlich fest. In Kosova passiert irgendwas und dann lese ich ein Artikel von mir am nächsten Tag in irgendeinem großbürgerlichen Organ. Weil das so abläuft, irgend ein Journalist denkt, hoppla, da fährt ein Zug nach Mitrovica, schreibt mal schnell eine halbe Seite dazu, was macht er jetzt? Das ist für die kein Thema, der geht ins Internet. Ah da gibt es Kosova-Aktuell, in aller Regel lässt er die Einleitung eines Redakteurs von Kosova-Aktuell weg, oder meine Schlussfolgerungen, übernimmt dann den reinen faktischen Teil und nebenbei übernimmt man zum Teil direkt die Kommafehler und macht sich nicht einmal die Arbeit, das umzuformulieren. 

J: Sie haben ja auch einen offenen Brief an die Regierung glaube ich verfasst, ne? Im Namen von VV glaube ich, ne?

B: Ich persönlich habe keinen offenen Brief im Rahmen von VV verfasst, sondern im Namen der Redaktion von Kosova-Aktuell. Es ist nicht gleichzusetzen, Kosova-Aktuell und Vetevendosje. Kosova-Aktuell ist so ein Gremium, wo Albaner aus der Diaspora auch sehr aktiv sind. Ich verantworte das Ganze, auch noch ein deutscher dabei ist, na aus dem Ruhrgebiet. Man arbeitet da so zusammen. Offiziell in Erscheinung trete nur ich. Also man hat verschiedene Namen, diese Personen gibt es alle auf Kosova-Aktuell. Nur hin und wieder sind diese Namen auch Pseudonyme. Ich habe nicht umsonst vorher von der Repression in Kosova gesprochen. Also, weil es gibt Leute, die haben Familienangehörige dort oder so was. Ich habe das auch selber gemerkt. Bei meinem Letzten Besuch. Ich komme nach Kosova am Sonntagmittag, gehe um zwei Uhr Kaffee trinken, kommen zwei Herren im Café in Pristina an meinen Tisch. Zuerst in Albanisch, also ich kann so halbwegs albanisch, fragen ob was frei ist. Ich habe mich schon ein bisschen gewundert, weil die machen das normalerweise nicht, fragen ob was frei ist. Dann nach fünf Minuten sagen sie plötzlich in glänzendem Deutsch, ah, Herr Brym, sie sind gerade in Pristina gelandet, sehr interessant, wir haben das registriert, merken Sie sich das, auf Wiedersehen. Da passiert dir nichts, aber es wird dir signalisiert, du hast bei uns eine gewisse Wichtigkeit, wir beobachten dich, pass auf. Also das ist ein Teil dieser Repressionsstrategie. Da ist man natürlich als Deutscher mit deutschem Pass relativ sicher, aber jemand, der keinen deutschen Pass hat und meinen Bekanntheitsgrad hätte, da kann was anderes passieren. 

J: Wenn sie an die Diaspora, die sie kennen denken, was würden Sie sagen, wie groß ist der Anteil der Menschen, die mit den Narrativen von VV einverstanden sind?

B: Ich denke, dass VV speziell in der Hauptstadt eine ziemliche Verankerung hat innerhalb der Jugend. Speziell innerhalb der Studenten. Eine starke Verankerung zum Beispiel bei der Bauerngewerkschaft. Diese Gewerkschaft verwahrt sich beispielsweise dagegen, dass Serbien systematisch Artikel nach Kosovo schickt, diese mit großen Geldsummen bezuschusst, diese sind in Serbien um einiges teurer, als in Kosova. Das Problem ist dann, dass der kosovarische Bauer nicht mehr konkurrenzfähig wird. Gegen diese offenen und massiven Importe von landwirtschaftlichen Produkten aus Serbien. Da ist eine Verankerung relativ groß. Dann habe ich ansatzweise Verankerung bei noch existierenden Teilen der Arbeiterschaft. Die Arbeiter bei der Post und Telekommunikation, die wollte man ja auch privatisieren. Die sagen, wir streiken bis zum Ende, das kommt überhaupt nicht in Frage. Natürlich die einzige Kraft, die sich positiv, auf diese Streikandrohungen bezogen hat, war VV. Das hat natürlich eine gewisse Rückkopplung. Aber das heißt nicht ... Kosova ist immer noch landwirtschaftlich geprägt. Dass die Masse der Bauern, Bauerngewerkschaft hin, Bauerngewerkschaft her, so ganz einfach hinter VV stünden. In Kosova ist es so, dass viele Leute nur damit beschäftigt sind, ihr tägliches Überleben zu garantieren. Dass man im Kosovo, obwohl es viele Zeitungen gibt, die Menschen keine Zeitungen lesen. Die Hauptinformationsquelle ist das örtliche Fernsehen. So, das wird kontrolliert und wenn ich dort bestimmte Inszenierungen drin habe, eine systematische Befassung mit Politik vorhanden ist, kann es sein, dass die Stimmung kippt. 

J: Und bei der Diaspora ist es wahrscheinlich anders mit den Medien, ne? Wenn man jetzt eine These überlegen würde, die Diaspora lebt ja getrennt vom Kosovo aber viele sind auch auf den sozialen Netzwerken aktiv und rezipieren auch wahrscheinlich andere Quellen und sind vielleicht auch für die Narrative von Vetevendosje offener. 

B: Sind sie mit Sicherheit, wobei eine grundsätzliche Verallgemeinerung kann man auch hier nicht machen. Wenn ich sage, es gibt um die 400 000 in Deutschland, da gibt es auch sehr unterschiedliche Kräfte. Ich bin ja immer dafür Optimist zu sein, aber ein gewisser Realismus sollte dabei sein. Ich denke, dass viele auch rund um die Uhr in Deutschland arbeiten. Also es gibt viele, die sind in den sozialen Netzwerken aktiv und es gibt Leute, die sind es überhaupt nicht. Die arbeiten rund um die Uhr, weil sie ihre gesamte Familie und es sind oft 100 Leute, zu ernähren haben. Da ist dann die Befassung mit Politik zeitlich reduziert. Auch in der Diaspora hat man zum Teil keine Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen. Es gibt eine diffuse Unzufriedenheit und der Druck und die Belastung ist da. Aber es heißt nicht automatisch, dass ich Bücher lese oder in den sozialen Netzwerken aktiv bin. Ich habe mittlerweile eine sehr gute Erfahrung gemacht. In Kosovo versteht es der Albin Kurti, von der Bewegung der Selbstbestimmung in verschiedenen Sprachen, sich mitzuteilen und zwar so, dass die Informationen an die Zielgruppe angepasst vermittelt werden. Ich habe ihn mal in Pristina erlebt im Wahlkampf, an einem Tag machte er vier Veranstaltungen, vormittags an der Uni, da hat er sich selbst intellektuell ausgedrückt, auch mal Slavoj Zizek zitiert. Am Nachmittag bei Arbeitern, von der Programmatik her, dasselbe gesagt aber anders gesprochen, einfach, witziger. Gegen Abend dann eine Veranstaltung in einem Hochgebirgsdorf, wo er raufklettern musste. Lauter Bäuerlein mit ganz dicken Händen, sehr einfache Menschen. In einer Schulklasse fand die Veranstaltung statt, dann hat er ihnen anhand von Zeichnungen an der Tafel erklärt, wie negativ die Rolle der privaten Banken in Kosova ist. Er hat natürlich völlig anders gesprochen, wie an der Uni am Vormittag. Die Leute leben alle gefährlich. Also ich habe die Befürchtung, dass das Regime in Kosova, wenn das so weiter geht, wenn sie weiter sehen, dass ihr Einfluss schwindet, nicht davor zurück schrecken wird, ins Gefängnis zu stecken und Konkurrenten als Terroristen abzustempeln und zu inhaftieren. Ich sehe diese Möglichkeit. Ich befürchte noch Provokationen seitens der Regierung. Wie gesagt, es geht bei denen um Millionen und um die Frage, ob sie weiterhin im Luxus leben oder am Schluss sogar im Gefängnis landen. Es ist ja ein reales Bedrohungsszenario und da versucht man, sich was einfallen zu lassen. VV ist da sehr vorsichtig, achtet auf jeden Versuch einer Provokation und so weiter. Das muss man auch. 

J: Wie ist eigentlich die Nutzerzahl von Kosova-Aktuell, wie viele Klicks haben Sie am Tag? 

B: Das ist äußerst unterschiedlich. Von 500 geöffneten Artikel. Dass die Seite öfters betrachtet wird, ist klar. Dann gibt es Tage, wo bestimmte Artikel 20 000 Mal geöffnet werden, am Tag. Die Besucherzahl dürfte so bei 30 000 am Tag liegen, Das sind nicht diejenigen, die die Artikel öffnen. Es schwankt zwar, aber Kosova-Aktuell ist auch für die albanische Diaspora ein festes Ding. Es wird auch in der albanischen Presse beobachtet. Hin und wieder wird es auch zitiert. 

J: Werden Sie manchmal auch interviewt?

B: Ich hatte Interviews in bestimmten Fernsehanstalten Kosovas. Als Herausgeber von Kosova-Aktuell. Ich habe jahrelang als Dozent für Philosophie und Geschichte an der Uni in Pristina gearbeitet. Da kriegt man seine Einladungen in bestimmte Fernsehdebatten. Ich habe Artikel veröffentlicht in verschiedensten Tageszeitungen des Landes, wo die mich hin und wieder auch auffordern, Artikel zu schreiben. Sie sagen Herr Brym, schreiben Sie das auf Deutsch, sie können zwar relativ gut albanisch aber wir machen's dann Perfekt. Okay. Ja? (lacht) Das passiert so einmal im Monat, dass dann ein Artikel von mir in der Tageszeitung dort landet. Jetzt am 17. Januar war so eine Gedenkveranstaltung in Kosova, an die Ermordung von 3 albanischen Emigranten vor 35 Jahren in Deutschland. In der Nähe von Stuttgart. Ich nahm an der Veranstaltung teil, der ehemalige Staatspräsident nahm auch daran teil. In Erinnerung an 1983. Ich durfte auch einen Redebeitrag halten, weil ich kannte die 3 Ermordeten noch. Als ganz junger Kerl habe ich die Mal interviewt und sie waren sehr linksradikal. Werden heute von allen Seiten als Nationalhelden verehrt, aber die wenigsten betonen, dass sich diese 3 Ermordeten als radikale Marxisten begriffen haben. Man versucht sie nur in's Nationale zu schieben. 

J: Herr Brym, vielen Dank für das Gespräch, das war ein sehr aufschlussreiches Interview.

B: Gern, schicken Sie mir doch bitte dann auch die Audio-Datei und das Transcript.

J: Das kann ich gern machen. 

Audio Datei

https://drive.google.com/file/d/0B1sN6-GEXuHVRVU5RjAzSkFyeTQ/view?usp=sharing  

 

Quelle: Zusendung per Email durch Max Brym