Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Front National
Französische Eliten und internationales Kapital ziehen erstmals eine Beteiligung der neofaschistischen Partei an der Staatsmacht ernsthaft in Erwägung

04/2017

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Ein „schwarzes Szenario“ über die ersten einhundert Tage einer, vorläufig noch imaginären, Regierung des Front National (FN) malte am Mittwoch, den 15. März 17 das Wochenmagazin L’Obs – früher Le Nouvel Observateur – in seiner Titelstory aus. Das romanähnliche Szenario sieht vor, dass Marine Le Pen im Mai dieses Jahres mit einer „knappen“ Mehrheit gewählt wird. Demonstrationen finden statt, doch werden nach einigen Tagen verboten, und ein Treffen der neuen französischen Präsidentin mit Angela Merkel verläuft „eiskalt“. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 erhält die extreme Rechte demnach keine Mehrheit. Doch mittels einer Volksabstimmung Anfang Juli d.J. zum Thema „Inländerbevorzugung und Verbot von Parallelgesellschaften“ führt die rechtsextreme Regierung einen, so sieht es das Drehbuch vor, „Referendumsputsch“ am Parlament vorbei durch.

Dass es so oder ähnlich kommt, ist bislang allerdings noch unwahrscheinlich. Allerdings nicht länger unmöglich, zumal die extreme Rechte faktisch erheblich von der tiefen Krise der französischen Konservativen profitieren und Nahrung aus ihr schöpfen wird. Letzteren wird es nunmehr definitiv nicht mehr gelingen, ihren notorisch korrupten Präsidentschaftskandidaten François Fillon abzuservieren, denn der Anmeldeschluss für Bewerber/innen zur Präsidentschaftswahl von Ende April und Anfang Mai 17 ist nun am Freitag, den 17. März 17 verstrichen. Auch in Teilen der französischen Eliten macht man sich darüber Gedanken, was denn los wäre, wenn...

In französischen Diplomatenkreisen werden einige Stimmen laut, die verkünden, sie würden unter einer FN-geführten Regierung „Frankreich nicht länger dienen wollen“. Der amtierende französische Botschafter in Japan etwa im Laufe der ersten Märzwoche 2017 seine Entscheidung öffentlich, in seinem solchen Fall den Dienst zu quittieren. Umgekehrt machen die Diplomaten mancher sonstigen Staaten Anstalten dazu, sich zumindest – auch in offizieller Form – anzuhören, was der FN an der Regierung denn so zu bieten hätte.

Der kubanische Botschafter in Paris war dort. Die Botschafter Saudi-Arabiens, Kambodschas, Vietnams und Taiwans auch, jener von Albanien soll ebenfalls anwesend gewesen sein. Aus den USA und China waren Diplomaten unterhalb des Botschafterrangs gekommen. Insgesamt sollen „Vertreter von 42 Ländern“ dabei gewesen sein, unter ihnen Singapur und El Salvador, als die Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen am 23. Februar d.J. bei einer Konferenz ihre „Vision der internationalen Beziehungen“ vorstellte. In französischen Medien wurde darüber vor allem in Form einer längeren AFP-Meldung berichtet; dagegen berichtete der für seine Propagandajauche bekannte russische Sender RT (Russia Today) in französischer Sprache ausführlich über die Veranstaltung der französischen extremen Rechten.

Inhaltlich sprach Marine Le Pen insbesondere einer Aufwertung der Beziehungen zu solchen Staaten, die Migrationsbewegungen in Richtung Europa verhindern können oder sollen, das Wort. Ägypten unter Marschall-Präsident ’Abdelfattah Al-Sissi bezeichnete die Chefin des französischen Front National (FN) in dieser Hinsicht wörtlich als „Wachturm, welcher uns gegen die Migranten verteidigen wird“. Die Tochter und politische Erbin des langjährigen Vorsitzenden der neofaschistischen Partei, Jean-Marie Le Pen, begrüßte ferner den Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump als angeblichen Hoffnungsschimmer und bezeichnete erwartungsgemäß Wladimir Putin als „Verbündeten“. Marine Le Pen schwang sich in ihrer Rede zu einer Vorreiterin einer „multipolaren Welt“ auf.

Die französischen Rüstungsausgaben sollen sofort auf zwei, bis zum Ende der regulären Amtszeit des nächsten französischen Staatsoberhaupts (die von Mai 2017 bis 2022 läuft) gar auf stattliche drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben werden; dieses Ziel soll zudem in Verfassungsrang erhoben und im französischen Verfassungstext festgeschrieben werden. So will es der FN, dessen Kandidatin am Dienstag und Mittwoch, den 21. und 22. März 17 in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena die französische „Barkhane“-Streitmacht für die Sahelzone besuchte. Dabei erhielt sie auch eine Audienz beim Präsidenten des Tschad, Idriss Déby, dem seit dem 1. Dezember 1990 amtierenden Machthaber – einem Schlächter, dessen Regentschaft vom französischen Neokolonialismus in der Region unterstützt wird. Es handelt sich bei ihm, nach dem libanesischen Staatsoberhaupt Michel Aoun (mit ihm traf Marine Le Pen am 20. Februar dieses Jahres zusammen) um den zweiten amtierenden Staatschef, den Marine Le Pen treffen konnte, um ihre Rolle als „Staatfrau“ auf internationaler Ebene zu unterstreichen und aufzuwerten. Der dritte Präsident im Bunde folgte dann am Freitag, den 24. März 17: Anderthalb Stunden lang wurde Marine Le Pen durch einen bereits bislang als mit ihr verbündet geltenden Politiker empfangen, Russlands Oberdemokraten Wladimir Putin. Die Audienz im Kreml war im Vorfeld russischen regimenahen Medien bekannt gewesen, doch der internationalen Presse nicht angekündigt worden.

Was die Europäische Union betrifft, so proklamierte Marine Le Pen, es gelte „ihr ein Ende zu setzen“. Auf diese Weise hat sie ihren Diskurs erneut radikalisiert, seitdem der FN bei einem Strategieseminar im Februar 2016 das zuvor explizit formulierte Ziel eines Austritts aus der Euro-Währung zu relativieren schien. Es war innerparteilich in Frage gestellt worden, weil sich herausstellte, dass die umworbenen potenziellen Wechselwähler, die zwischen Konservativen und FN stehen, aber auch um ihre Ersparnisse fürchtende Rentner und Kleinunternehmer eher gegen diese Forderung eingestellt sind.

Darin liegt auch eines der Motive, warum Teile des französischen Kapitals seinerseits nach wie vor Bedenken dagegen geltend machen, dass der FN in die Nähe einer so genannten Regierungsverantwortung rücken könnte. Der aktuelle Chef des stärksten Arbeitgeberverbands MEDEF, Pierre Gattaz, setzte allerdings einer Praxis seiner Vorgängerin in den Jahren 2005 bis 2013, Laurence Parisot, ein Ende: Unter ihr kam es nicht in Frage, dass die Unternehmerverbände mit dem FN reden. Gattaz hingegen entschied, neben anderen Präsidentschaftsanwärtern auch Marine Le Pen offiziell beim MEDEF anzuhören.

In einem Beitrag beim Webportal Orange Finance vom Montag, den 20. März kamen unterdessen mehrere unterschiedliche Stimmen aus dem Arbeitgeberlager zu Wort, was die Aussichten auf eine hypothetische Regierung mit FN-Beteiligung betrifft. Mehrere der Befragten machen sich Gedanken über die negativen Auswirkungen einer „wirtschaftlichen Blockade“ im Falle einer solchen Konstellation. Hingegen erklärt etwa die Kleinunternehmerin Alexandra Frantz: „Ich wüsste nicht, was schlimmer kommen sollte als heute, in Sachen Staatsbürokratie und Abgaben.“ Generell zeigen sich die exportorientierten multinationalen Firmen kritischer gegenüber Marine Le Pen und ihrem Programm als so genannte mittelständische Unternehmen. Wie die linksliberale Zeitung Le Monde in ihrer Wirtschaftsbeilage vom Dienstag, den 21. März 17 schreibt, führten unterdessen vor allem anglo-amerikanische Banken und Investmentfonds in den vergangenen Monaten bereits Gespräche mit dem FN, um dessen Absichten zu sondieren. Die Fondsgesellschaft BlackRock und die britische Agentur CheckRisk bestätigten etwa entsprechende Meldungen, während Barclays oder die schweizerische Bank UBS Informationen der Wirtschafts-Nachrichtenagentur Bloomberg dazu nicht kommentieren mochten.

Amtsinhaber François Hollande seinerseits zeigt sich in der Öffentlichkeit beunruhigt. Im privaten Kreise zeige er sich „überzeugt, dass Marine Le Pen in den Vorwahlumfragen unterschätzt wird“, berichtete die linksliberale Pariser Abendzeitung Le Monde am 06. März 17; und ihr Herausforderer in der Stichwahl könnte, fügte Hollande demnach hinzu, „Mühe zu haben, unterschiedliche Kräfte zu bündeln“, um einen Wahlsieg Marine Le Pens sozusagen mit vereinten Kräften zu verhindern. Und wie das Wochenmagazin L’Obs am 02. März auf seiner Webseite berichtete, lud Hollande fünf bekannte Politikwissenschaftler/innen, die samt und sonders in Sachen Beobachtung des FN einen guten Namen haben - unter ihnen Nonna Meyer und Alexandre Dézé -, zu einem gemeinsamen Mittagessen ein. Behandelt werden sollte dabei folgende Frage: „Und was, wenn Marine Le Pen gewinnen würde…?“

Sicherlich, bei diesen Äußerungen und Positionierungen seitens von François Hollande handelt es sich auch um einen politischen Akt: Der nur noch für wenige Wochen amtierende Staatschef fragt sich zweifellos, wie er nach einer fünfjährigen Amtszeit mit einer - besonders in sozialer Hinsicht - jämmerlichen Bilanz noch etwas Profil in den Augen der Nachwelt gewinnen kann, und sei es als Mahner und Warner. Und bestimmt erhielt Le Monde, als eine Zeitung, die der französischen Sozialdemokratie relativ nahe steht, eher nach politischen Kriterien ausgewählte Informationen denn wahrhafte innere Überzeugungen mitgeteilt. Nichtsdestotrotz gilt: Die für viele Beobachter/innen überraschend kommende Brexit-Entscheidung vom Juni 2016 und die Donald Trump-Wahl in den sprechen in den Augen vieler Kommentatoren trotz allen Wahrscheinlichkeitskalkülen dafür, dass böse Überraschungen nicht absolut ausgeschlossen werden können.

Ein Hauch von Nazismus liegt noch immer in der Luft, wenn manche Protagonisten des FN sich zu Wort melden, auch wenn die Parteiführung tunlichst bemüht ist, einen an die bürgerliche Demokratie angepassten Eindruck zu erwecken. Nachdem am 15. März 17 der Holocaustleugner Benoît Loeuillet, Regionalparlamentarier des FN und Buchhändler in Nizza, infolge einer Fernsehsendung aufflog – er wurde prompt von den Mitgliedsrechten suspendiert -, wurden kurz darauf zu allem Überfluss noch Aussprüche eines Kommunalparlamentariers der Partei aus dem Umland von Grenoble bekannt. Franck Sinisi schlug vor, „den Aufenthalt von Roma zu finanzieren“, indem man ihnen „die Goldzähne zieht“. Ein Vorschlag, der viele Kommentatoren an Auschwitz erinnerte. Parteilinie ist es nicht, solche Vorstellungen zu verbreiten oder mit ihnen zu scherzen. Aber ist es auch kein Zufall, dass sich entsprechende Figuren gerade in dieser Partei befinden.

Editorischer Hinweis

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.