Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Protest gegen Polizeigewalt in Paris
Mobilisierung in der chinesischen Community schafft neue Konstellationen

04/2017

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Oder: Wie eine vormals von staatlicher Seite als „ruhig“ eingestufte Community zum Protest aufruft; und ihre Jugend sich Straßenkämpfe mit der Parier Polizei liefert...
Eine solche Mischung trifft man bei Kundgebungen und Demonstrationen in Paris eher selten an. Eine Handvoll stadtbekannte Autonome, Aktivist/inn/en gegen Polizeigewalt, junge Frauen afrikanischer Herkunft mit muslimischen Kopftüchern und zahlreiche chinesische Staatsangehörige, von denen viele nur gebrochen Französisch sprechen - so sieht die Mischung von mehreren Hundert Menschen aus, die an diesem Donnerstag Abend (den 30. März 17) auf der Pariser place de la République demonstrieren. 

Voraus ging am vorigen Sonntag, den 26. März 17 am Abend der Tod des 56jährigen chinesischen Staatsbürgers Shaoyo Liu. Es handelt sich um einen Familienvater mit vier Kindern im Alter von 15 bis 21 Jahren. Er wurde in seiner Wohnung durch die Polizei erschossen. Diese war zuvor durch einen Nachbarn - den Zeugenberichte als geistig verwirrt darstellen - herbeigerufen worden, er hatte in seinem Anruf von einem Familienstreit gesprochen. Liu hatte die Tür zu seiner Wohnung nicht geöffnet, da er nicht wusste, es mit Polizeibeamten zu tun zu haben, die da an die Eingangstür hämmerten. Die Sicherheitskräfte brachen die Tür daraufhin auf. Shaoyo Liu hielt zu diesem Zeitpunkt eine Schere in der Hand, um Gräten und Flossen aus einem Fisch damit herauszuschneiden, wie es in der chinesischen Küche sehr üblich ist. Einer der eingesetzten Beamten fühlte sich „bedroht“ und setzte seine Schusswaffe ein; der Schuss traf direkt ins Herz.

Bereits am Montag Abend (27. März d.J.) hatten chinesische Staatsangehörige und AnwohnerInnen vor einer Polizeiwache im 19. Pariser Bezirk ihren Unmut kundgetan. Dabei brannte auch ein Polizeiauto aus. Unmittelbar danach kam es in den folgenden Stunden zu 35 Festnahmen, später nochmals zu zehn weiteren. Am Dienstag, den 28. März wiederholten sich Reibereien und Auseinandersetzungen vor dem Pariser Rathaus, wo Angehörige, Landsleute des Toten - dessen Familie daraufhin zu Ruhe und Besonnenheit aufrief - sowie Aktivisten gegen Polizeigewalt demonstriert. Zwei Demonstrationsteilnehmer wurden verletzt, angeblich auch sechs Beamte.

An diesem Donnerstag Abend nun drängen sich mehrere Hundert Menschen um eine Megaphonanlage, die von der am selben Ort am 31. März 2016 entstandenen Nuit Debout-Bewegung - diese versucht just in diesen Tagen ein Revival - stammt und wegen schwächelnder Batterien jederzeit den Geist aufzugeben droht. Viele Reden werden aus dem Chinesischen ins Französische übersetzt. Familienmitglieder des Toten fordern ,Aufklärung und Gerechtigkeit' über den Fall Shaoyo Lius und fragen, wie die Polizeileitung in einer solchen Lage noch von einer wahrscheinlichen ,Notwehrsituation' sprechen könne. Sie erklären, keine Rache und keine Unruhe zu wollen, aber die Sache dürfe nicht auf sich beruhen. Einige andere Redebeiträge, die zuerst auf Chinesisch gehalten werden, kritisieren hingegen weit weniger die Polizei, sondern stellen vielmehr darauf ab, in Frankreich grassiere die ,Unsicherheit' und halte chinesische Touristen zunehmend fern. Ein Redner stellt dabei sogar explizit auf Schwarze und Araber ab, deren Gewalt Chinesen bedrohe. Konsens ist das mitnichten, und viele Angehörige der genannten Gruppen befinden sich auch unter den Kundgebungsteilnehmer/inne/n.

Am darauffolgenden Sonntag, den 02. April 17 folgt nun eine sehr massive Mobilisierung der chinesischen Community in Paris und Umland. Von 14 bis 17 Uhr am Sonntag Nachmittag ist eine Protestkundgebung auf der Pariser place de la République angemeldet. Es wird richtig voll, die französische Nachrichtenagentur AFP spricht daraufhin von 6.000 Teilnehmer/inne/n – was bedeutet, dass real zwischen 5.000 und 10.000 Menschen anwesend waren. Die Protesteilnehmer/innen werden durch die Polizei daran gehindert, sich von dem Platz aus zu einem Demonstrationszug zu formieren. Im Anschluss an die Kundgebung kommt es – während ein Teil der zuvor anwesenden Familien sich zerstreut - zu mehr oder minder massiven Zusammenstößen zwischen jungen Chinesinnen und Chinesen und den, mit mehreren Dutzend Polizeibussen und Mannschaftswagen aufgefahrenen Einsatzkräften. Junge Menschen chinesischer Herkunft laufen mit Atemmasken über den Platz, um sich vor Tränengas zu schützen, und liefern sich an der Ecke place de la République / boulevard Magenta über eine Stunde lang heftige Scharmützel mit der Polizei. Letztere wird mit Blumentöpfen, Mineralwasserflaschen und anderen Wurfgegenständen eingedeckt. Wer vom Platz herunter möchte, wird nach Ethnic profiling-Kriterien sortiert – an einem anderen Platzausgang (in Richtung boulevard Saint-Martin) werden „Weiße“ und „Schwarze“ durch die Polizei widerstandslos vom Platz gelassen, ja sogar vom Platz geschubst, asiatisch aussehende Menschen dagegen abgewiesen und zurückgeschickt.

Gegen 18 Uhr hat sich dann die Lage beruhigt. Im Anschluss nehmen mehrere chinesischstämmige Menschen, auch als Redner/innen, an der Platzkundgebung des Nuit debout-Revivalversuchs teil. Vor genau einem Jahr, am 31. März und 1. April 2016, war auf der Pariser place de la République die Platzbesetzerbewegung unter dem Namen Nuit debout entstanden, und an diesem Wochenende des 1./2. April 17 wird eine Wiederbelebung versucht. Daran nehmen rund 500 Menschen teil. (Von einem stärkeren Wiederaufflammen dieser sozialen Bewegung kann damit wohl nicht die Rede sein. Abzuwarten bleibt hingegen der Erfolg eines Aufrufs für einen premier tour social oder „ersten Wahlgang auf der Straße“, zu welchem für den Samstag, 22. April – den Vortag des ersten Durchgangs der französischen Präsidentschaftswahl – am selben Ort aufgerufen wird. Daran nehmen auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen teil.)


Paris 30.3.2017




Paris 2.4.2017

Bemerkenswert ist, welche Mischung diesen Sonntag auf der Pariser place de la République prägte; im Vorjahr nahmen dort beispielsweise kaum, oder eher: gar keine, Menschen aus der chinesischen Community an der damaligen Platzbesetzerbewegung teil.

Einordnung und Bedeutung

Dass eine Protestmobilisierung - mit einer solchen Mischung von Anwesenden -überhaupt stattfindet, ist ein bemerkenswertes Novum. In der Vergangenheit hatte die chinesische Community in Frankreich oft als eher politisch inaktiv und ,nach innen gekehrt' gegolten, viele ihrer Angehörigen arbeiten in Betrieben - etwa in der Gastronomie - mit familiärem Hintergrund. Erstmals brach diese scheinbare politische Abgeschottetheit jedoch mit der Bewegung der Sans papiers, der ,illegalisierten' Migranten, 1996 auf. Im Frühjahr jenes Jahres schrieb die Boulevardzeitung France Soir, es sei neu, neben Einwanderern aus früheren französischen Kolonien - die eher für ihre politische oder soziale Aktivität bekannt sind - auch chinesische Zuwanderer auf den Pariser Boulevards für ihre Rechte demonstrieren zu sehen.

In den letzten Jahren wuchs jedoch die Frontstellung zwischen der chinesischen und anderen Einwanderergruppen. Da ChinesInnen als eher arbeitsam gelten und weil Geschäftsleute aus dieser Community in der Vergangenheit mitunter reichlich Bargeld bei sich trugen - Bankverkehr wurde unter ihnen lange Zeit nicht sonderlich geschätzt -, kam es in einigen Stadtteilen zu Übergriffen auf Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe. Bereits 2010 und 2011 kam es, nach jungen Schwarzen zugeschriebenen Übergriffen, im östlich gelegenen Pariser Stadtteil Belleville zu Protestdemonstrationen. Anfang September 2016 demonstrierten dann rund 20.000 Menschen, überwiegend aus der chinesischen Community, infolge eines brutalen Raubüberfall im Vorort Aubervilliers auf der Pariser place de la République. Dabei hatten auch französische konservative Kreise die Kundgebung im Vorfeld mit vorbereitet, und diese nahm einen starken Law and Order-politischen Charakter an, auch wenn daneben antirassistisch Organisationen sie ebenfalls unterstützten und einen anderen Charakter hineinzubringen versuchten.

Die jüngste Mobilisierung bricht diese alten Fronten jedoch auf. Gleichzeitig forderte die Regierung in Peking am Dienstag, den 28. März d.. ihre französischen Amtskollegen dazu auf, ihre Staatsbürger/innen in Frankreich „besser zu schützen“, und legte eine offizielle Protestnote ein. Eine Sprecherin des Außenministeriums, Hua Chunying, forderte zugleich die französischen Behörden dazu auf, vollständig „Licht“ in die Affäre um den Tod von Shaoyo Liu zu bringen. Solches Vorgehen war man bislang eher von früheren afrikanischen Kolonien Frankreichs gewohnt. 

 

Editorischer Hinweis

Text und Fotos erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.