Oder: Wie eine
vormals von staatlicher Seite als „ruhig“
eingestufte Community zum Protest aufruft; und
ihre Jugend sich Straßenkämpfe mit der Parier
Polizei liefert...
Eine
solche Mischung trifft man bei Kundgebungen und
Demonstrationen in Paris eher selten an. Eine
Handvoll stadtbekannte Autonome, Aktivist/inn/en
gegen Polizeigewalt, junge Frauen afrikanischer
Herkunft mit muslimischen Kopftüchern und
zahlreiche chinesische Staatsangehörige, von denen
viele nur gebrochen Französisch sprechen - so sieht
die Mischung von mehreren Hundert Menschen aus, die
an diesem Donnerstag Abend (den 30. März 17) auf
der Pariser place de la République demonstrieren.
Voraus ging am vorigen Sonntag, den 26. März 17 am
Abend der Tod des 56jährigen chinesischen
Staatsbürgers Shaoyo Liu. Es handelt sich um einen
Familienvater mit vier Kindern im Alter von 15 bis
21 Jahren. Er wurde in seiner Wohnung durch die
Polizei erschossen. Diese war zuvor durch einen
Nachbarn - den Zeugenberichte als geistig verwirrt
darstellen - herbeigerufen worden, er hatte in
seinem Anruf von einem Familienstreit gesprochen.
Liu hatte die Tür zu seiner Wohnung nicht geöffnet,
da er nicht wusste, es mit Polizeibeamten zu tun zu
haben, die da an die Eingangstür hämmerten. Die
Sicherheitskräfte brachen die Tür daraufhin auf.
Shaoyo Liu hielt zu diesem Zeitpunkt eine Schere in
der Hand, um Gräten und Flossen aus einem Fisch
damit herauszuschneiden, wie es in der chinesischen
Küche sehr üblich ist. Einer der eingesetzten
Beamten fühlte sich „bedroht“ und setzte seine
Schusswaffe ein; der Schuss traf direkt ins Herz.
Bereits am Montag Abend (27. März d.J.) hatten
chinesische Staatsangehörige und AnwohnerInnen vor
einer Polizeiwache im 19. Pariser Bezirk ihren
Unmut kundgetan. Dabei brannte auch ein Polizeiauto
aus. Unmittelbar danach kam es in den folgenden
Stunden zu 35 Festnahmen, später nochmals zu zehn
weiteren. Am Dienstag, den 28. März wiederholten
sich Reibereien und Auseinandersetzungen vor dem
Pariser Rathaus, wo Angehörige, Landsleute des
Toten - dessen Familie daraufhin zu Ruhe und
Besonnenheit aufrief - sowie Aktivisten gegen
Polizeigewalt demonstriert. Zwei
Demonstrationsteilnehmer wurden verletzt, angeblich
auch sechs Beamte.
An
diesem Donnerstag Abend nun drängen sich mehrere
Hundert Menschen um eine Megaphonanlage, die von
der am selben Ort am 31. März 2016 entstandenen
Nuit Debout-Bewegung - diese versucht just in
diesen Tagen ein Revival - stammt und wegen
schwächelnder Batterien jederzeit den Geist
aufzugeben droht. Viele Reden werden aus dem
Chinesischen ins Französische übersetzt.
Familienmitglieder des Toten fordern ,Aufklärung
und Gerechtigkeit' über den Fall Shaoyo Lius und
fragen, wie die Polizeileitung in einer solchen
Lage noch von einer wahrscheinlichen
,Notwehrsituation' sprechen könne. Sie erklären,
keine Rache und keine Unruhe zu wollen, aber die
Sache dürfe nicht auf sich beruhen. Einige andere
Redebeiträge, die zuerst auf Chinesisch gehalten
werden, kritisieren hingegen weit weniger die
Polizei, sondern stellen vielmehr darauf ab, in
Frankreich grassiere die ,Unsicherheit' und halte
chinesische Touristen zunehmend fern. Ein Redner
stellt dabei sogar explizit auf Schwarze und Araber
ab, deren Gewalt Chinesen bedrohe. Konsens ist das
mitnichten, und viele Angehörige der genannten
Gruppen befinden sich auch unter den
Kundgebungsteilnehmer/inne/n.
Am
darauffolgenden Sonntag, den 02. April 17 folgt nun
eine sehr massive Mobilisierung der chinesischen
Community in Paris und Umland. Von 14 bis 17 Uhr am
Sonntag Nachmittag ist eine Protestkundgebung auf
der Pariser place de la République angemeldet. Es
wird richtig voll, die französische
Nachrichtenagentur AFP spricht daraufhin von 6.000
Teilnehmer/inne/n – was bedeutet, dass real
zwischen 5.000 und 10.000 Menschen anwesend waren.
Die Protesteilnehmer/innen werden durch die Polizei
daran gehindert, sich von dem Platz aus zu einem
Demonstrationszug zu formieren. Im Anschluss an die
Kundgebung kommt es – während ein Teil der zuvor
anwesenden Familien sich zerstreut - zu mehr oder
minder massiven Zusammenstößen zwischen jungen
Chinesinnen und Chinesen und den, mit mehreren
Dutzend Polizeibussen und Mannschaftswagen
aufgefahrenen Einsatzkräften. Junge Menschen
chinesischer Herkunft laufen mit Atemmasken über
den Platz, um sich vor Tränengas zu schützen, und
liefern sich an der Ecke place de la République /
boulevard Magenta über eine Stunde lang heftige
Scharmützel mit der Polizei. Letztere wird mit
Blumentöpfen, Mineralwasserflaschen und anderen
Wurfgegenständen eingedeckt. Wer vom Platz herunter
möchte, wird nach Ethnic profiling-Kriterien
sortiert – an einem anderen Platzausgang (in
Richtung boulevard Saint-Martin) werden „Weiße“ und
„Schwarze“ durch die Polizei widerstandslos vom
Platz gelassen, ja sogar vom Platz geschubst,
asiatisch aussehende Menschen dagegen abgewiesen
und zurückgeschickt.
Gegen 18 Uhr hat sich dann die Lage beruhigt. Im
Anschluss nehmen mehrere chinesischstämmige
Menschen, auch als Redner/innen, an der
Platzkundgebung des Nuit debout-Revivalversuchs
teil. Vor genau einem Jahr, am 31. März und 1.
April 2016, war auf der Pariser place de la
République die Platzbesetzerbewegung unter dem
Namen Nuit debout entstanden, und an diesem
Wochenende des 1./2. April 17 wird eine
Wiederbelebung versucht. Daran nehmen rund 500
Menschen teil. (Von einem stärkeren
Wiederaufflammen dieser sozialen Bewegung kann
damit wohl nicht die Rede sein. Abzuwarten bleibt
hingegen der Erfolg eines Aufrufs für einen
premier tour social oder „ersten Wahlgang
auf der Straße“, zu welchem für den Samstag, 22.
April – den Vortag des ersten Durchgangs der
französischen Präsidentschaftswahl – am selben Ort
aufgerufen wird. Daran nehmen auch Gewerkschaften
und soziale Bewegungen teil.)
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Paris 30.3.2017
Paris 2.4.2017
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Bemerkenswert ist,
welche Mischung diesen Sonntag auf der Pariser
place de la République prägte; im Vorjahr nahmen
dort beispielsweise kaum, oder eher: gar keine,
Menschen aus der chinesischen Community an der
damaligen Platzbesetzerbewegung teil.
Einordnung und
Bedeutung
Dass eine Protestmobilisierung - mit einer solchen
Mischung von Anwesenden -überhaupt stattfindet, ist
ein bemerkenswertes Novum. In der Vergangenheit
hatte die chinesische Community in Frankreich oft
als eher politisch inaktiv und ,nach innen gekehrt'
gegolten, viele ihrer Angehörigen arbeiten in
Betrieben - etwa in der Gastronomie - mit
familiärem Hintergrund. Erstmals brach diese
scheinbare politische Abgeschottetheit jedoch mit
der Bewegung der Sans papiers, der
,illegalisierten' Migranten, 1996 auf. Im Frühjahr
jenes Jahres schrieb die Boulevardzeitung France
Soir, es sei neu, neben Einwanderern aus
früheren französischen Kolonien - die eher für ihre
politische oder soziale Aktivität bekannt sind -
auch chinesische Zuwanderer auf den Pariser
Boulevards für ihre Rechte demonstrieren zu sehen.
In den letzten Jahren
wuchs jedoch die Frontstellung zwischen der
chinesischen und anderen Einwanderergruppen. Da
ChinesInnen als eher arbeitsam gelten und weil
Geschäftsleute aus dieser Community in der
Vergangenheit mitunter reichlich Bargeld bei sich
trugen - Bankverkehr wurde unter ihnen lange Zeit
nicht sonderlich geschätzt -, kam es in einigen
Stadtteilen zu Übergriffen auf Angehörige dieser
Bevölkerungsgruppe. Bereits 2010 und 2011 kam es,
nach jungen Schwarzen zugeschriebenen Übergriffen,
im östlich gelegenen Pariser Stadtteil Belleville
zu Protestdemonstrationen. Anfang September 2016
demonstrierten dann rund 20.000 Menschen,
überwiegend aus der chinesischen Community, infolge
eines brutalen Raubüberfall im Vorort Aubervilliers
auf der Pariser place de la République. Dabei
hatten auch französische konservative Kreise die
Kundgebung im Vorfeld mit vorbereitet, und diese
nahm einen starken Law and Order-politischen
Charakter an, auch wenn daneben antirassistisch
Organisationen sie ebenfalls unterstützten und
einen anderen Charakter hineinzubringen versuchten.
Die jüngste Mobilisierung bricht diese alten
Fronten jedoch auf. Gleichzeitig forderte die
Regierung in Peking am Dienstag, den 28. März d..
ihre französischen Amtskollegen dazu auf, ihre
Staatsbürger/innen in Frankreich „besser zu
schützen“, und legte eine offizielle Protestnote
ein. Eine Sprecherin des Außenministeriums, Hua
Chunying, forderte zugleich die französischen
Behörden dazu auf, vollständig „Licht“ in die
Affäre um den Tod von Shaoyo Liu zu bringen.
Solches Vorgehen war man bislang eher von früheren
afrikanischen Kolonien Frankreichs gewohnt.
Editorischer Hinweis
Text und Fotos erhielten wir vom Autor für diese
Ausgabe.
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