Immer bizarrer
werde Erdogan, empört sich CDU-Vizevorsitzende
Klöckner anlässlich von Erdogans jüngsten verbalen
Attacken auf EU-PolitikerInnen. Die deutsche
Kanzlerin in die Nähe von Nazis zu stellen, gehöre
sich schließlich nicht. Anders als die offenen
RassistInnen und RechtspopulistInnen fordere sie
schließlich keinen neuen „Kulturkampf“ gegen den
Islam.
Das Verbot von
Wahlveranstaltungen überlässt Merkel – wie auch das
Gros des deutschen politischen Establishments –
LokalpolitikerInnen oder VerwaltungsbeamtInnen. Den
Kurs des „weltoffenen“ niederländischen
Regierungschefs Rutte, der Wilders bei den Wahlen
„zähmt“, indem seine Regierung selbst türkischen
PolitikerInnen Einreiseverbote erteilt, will sie
nicht ganz mitgehen. Schließlich werden die Türkei
und Erdogan noch gebraucht, um die Interessen des
deutschen Imperialismus und die Sicherung der
Außengrenzen der Festung Europa durchzusetzen.
Daher lautet die offizielle
Linie: auf die „Provokationen“ Erdogans nicht
eingehen! Nach dem Referendum in der Türkei, so die
Hoffnung, ist der Spuk ohnedies vorbei, werde sich
die Lage „normalisieren“. Schließlich brauche der
„Partner“ Türkei „uns“ mindestens genauso dringend
wie „wir“ ihn.
Da ist sicher etwas dran.
Die Türkei ist letztlich ein von imperialistischen
Mächten, allen voran den USA beherrschtes Land, das
angesichts seiner aktuellen Instabilität hofft,
sich als stärkere Regionalmacht im Nahen Osten
etablieren zu können. Dazu muss auch Stärke gezeigt
werden, und das Regime versucht, die Spannungen
zwischen USA, EU und Russland zu nutzen, um seinen
Spielraum und Einfluss auszuweiten.
Dass sich die Türkei vom
Einfluss der USA und der EU-Führungsmächte wie
Deutschland ein Stück weit frei macht und sich
Russland weiter annähert – das ist der rationale
Kern der Beunruhigung der führenden Kreise des
deutschen Imperialismus und der EU.
Zweifellos will auch
Erdogan seine Karten „nur“ ausreizen, sind doch das
türkische Regime und v. a. die Wirtschaft letztlich
auf gute Beziehungen angewiesen. Die Ökonomie des
Landes expandierte zwar im letzten Jahrzehnt – doch
dies ist auf Pump gebaut. Schon heute liegt die
Arbeitslosigkeit bei über 10 Prozent. Die „Erfolge“
der AKP-Politik sind von den internationalen
Kapitalströmen abhängig. Der wirtschaftlich eher
schwachbrüstige russische Imperialismus wird hier
sicher nicht einspringen können.
Umgekehrt brauchen
Deutschland und die EU die Türkei für ihre
rassistische Flüchtlingspolitik und die Abriegelung
der Grenzen. Das Land ist außerdem ein wichtiger
Investitionsstandort und Markt für deutsche Waren,
nicht zuletzt für Waffen. Und es ist auch ein Tor
zum Einfluss in den Nahen Osten.
Das ficht natürlich die
RechtspopulistInnen Europas nicht an. Sie wollen
„konsequenten Rassismus“. Sie wollen auch keine
ArbeitsmigrantInnen und Geflüchteten, schon gar
keine „integrierten“. Allenfalls dulden sie
entrechtetes Ausbeutungsmaterial, das nach getaner
Arbeit das Land zu verlassen hat. Betrachten wir
die „Vorschläge“ von Le Pen, Wilders, Petry,
Strache oder Orban, so sind Erdogans Vergleiche gar
nicht „bizarr“. Menschenunwürdige Lager für
Geflüchtete und mörderische Grenzregime müssen in
der „humanistischen“ EU nicht erst zugelassen
werden – sie gibt es längst.
Die gesellschaftliche Mitte
von CDU, SPD, Grünen will darin allenfalls
„Ausnahmefälle“ der europäischen Demokratie
erblicken und heuchelt Sorge um die Verhältnisse in
der Türkei. Die Aushebelung demokratischer Rechte,
der Rede- und Meinungsfreiheit, das Herrschen per
Dekret könnten nicht geduldet werden. Dabei hat
Frankreich gerade den Ausnahmezustand verlängert,
Polen die demokratischen Rechte weiter beschnitten.
Der Überwachungsstaat wird europaweit ausgebaut und
Theresa May will Schottland eine Abstimmung über
den Verbleib im „Vereinten Königreich“ verbieten.
Diese HeuchlerInnen maßen
sich an, über die „Demokratie“ in der Türkei, in
einem Land außerhalb der EU zu richten. Während sie
sich über die nationalistische Hetze Erdogans
empören, werden jene zur „Besonnenheit“ gemahnt,
die den RechtspopulistInnen, den HetzerInnen in der
EU entgegentreten wollen. Während die Einschränkung
der Demokratie in der Türkei beklagt wird, werden
die kurdische Widerstandsbewegung und die radikale
Linke aus der Türkei weiter kriminalisiert und
verboten. Eine Aufhebung des PKK-Verbots? Sicher
nicht, so das Innenministerium, schließlich führe
man ja den Kampf gegen den „Terrorismus“. Ganz im
Sinne dieser Verlogenheit wurde Anfang März das
Zeigen der Symbole der syrisch-kurdischen PYD und
der Selbstverteidigungskräfte von Rojava, von
YPG/YPJ, auf Demonstrationen verboten.
All das zeigt, wie falsch
all jene liegen – einschließlich von Politikerinnen
der Linkspartei wie Wagenknecht –, die sich in den
Chor derer einreihen, die das Verbot der Auftritte
türkischer PolitikerInnen in Deutschland fordern.
Sie bekämpfen damit nicht Erdogan und die weitere
Festigung seiner Macht, sondern fordern den
deutschen Staat und die EU auf, sich als
Schiedsrichterin, als Wahrerin der „Demokratie“ zu
betätigen. Ein Verbot von Veranstaltungen der
Ja-Kampagne kann sich dann rasch genauso als Mittel
zum Verbot der Nein-Kampagne entpuppen, von
Aktionen und Versammlungen linker und
demokratischer Kräfte, als politisches Eigentor
also.
Staat und EU sind keine
neutralen Instanzen in dieser Auseinandersetzung,
schon gar nicht die HüterInnen „der Demokratie“,
sondern verfolgen in der Türkei, im Nahen Osten
global ihre eigenen ökonomischen und
geo-strategischen Interessen. Daher ist nicht nur
die Forderung nach Auftrittsverboten, sondern erst
recht die nach Sanktionen gegen die Türkei
abzulehnen, die mit größter Wahrscheinlichkeit zu
einer Verschärfung der Auseinandersetzung um eine
Neuaufteilung des Nahen Ostens beitragen würden.
Erdogan
und die Verbote
Trotz aller Empörung der
türkischen Regierung spielen die Verbote von
AKP-Veranstaltungen Erdogan in die Hände. Zur Zeit
ist er an einer verbalen Eskalation interessiert,
weil so die Abstimmung über den eigentlichen Inhalt
der Verfassungsänderungen, die diktatorischen
Vollmachten des Präsidenten als Volksentscheid über
„die Türkei“, „den Islam“ und die rassistischen
Zumutungen des Westens dargestellt werden kann.
Dass viele TürkInnen auf Erdogans Demagogie und
„Opferposing“ reinfallen, ist selbst Resultat der
tagtäglichen rassistischen Unterdrückung, die
Millionen Menschen in Europa erfahren, und der
imperialistischen Ausbeutung.
Erdogan braucht diese
demagogische Zuspitzung, weil er trotz Kontrolle
über die Medien, Krieg gegen die kurdische
Bevölkerung, Entlassung Hunderttausender nicht
sicher sein kann, ob er das Referendum gewinnt. Die
nationalistische, ultra-reaktionäre Hetze, die
Beschwörung des „Osmanischen Reiches“, die
Terrorisierung der Opposition durch Polizei und
eigene Banden verdeutlichen, dass es bei der
Abstimmung darum geht, den Kurs auf eine
parlamentarisch verhüllte Diktatur plebiszitär zu
festigen.
Die AKP ist zwar keine
faschistische Partei (und das Regime auch nicht
faschistisch). Aber sie ist auch keine „normale,“
religiös geprägte, konservative bürgerliche Partei.
Sie ist eine rechts-populistische Partei, die als
Verlängerung des Regimes in die Gesellschaft hinein
dient, v. a. in die ländliche Bevölkerung und ins
KleinbürgerInnentum, diese organisiert und eine
Struktur für Massenmobilisierungen darstellt,
einschließlich von Abteilungen zur Einschüchterung
der Opposition, der Linken und
ArbeiterInnenbewegung.
Ein „Ja“ beim Referendum
würde zweifellos einen weiteren Schritt zur
Konsolidierung dieses Regimes bedeuten, an dessen
Spitze ein „starker Mann“, ein „Bonaparte“ stehen
muss, der sich scheinbar über die Klassen und deren
„Sonderinteressen“ erhebt – und so das Geschäft der
türkischen Bourgeoisie und v. a. der Fraktionen
besorgt, die ihm besonders nahestehen. Um seine
Herrschaft zu sichern, würde auch nach einem Sieg
keine „Ruhe“ einkehren, sondern Erdogan würde seine
Strategie der Spannung fortsetzen, die Ursache
aller Probleme auf einen inneren oder äußeren Feind
projizieren (die KurdInnen, Verschwörungen Gülens
usw.), gegen den der „demokratisch“ legitimierte
Präsident mit aller Härte vorgehen würde.
Ein „Nein“ wäre ein Schlag
gegen diese Absichten. Zugleich würde es die
politische Auseinandersetzung in der Türkei
verschärfen, da nicht damit zu rechnen ist, dass
die AKP ein solches „Nein“ akzeptieren würde.
Was
tun?
Die ArbeiterInnenbewegung
und die Linke sollten daher folgende politische
Linie verfolgen:
Erstens sollten wir, statt
Verbote für türkische PolitikerInnen zu fordern,
die NEIN-Kampagne der kurdischen und türkischen
Linken unterstützen. Es ist wichtig und richtig,
dass diese nicht mit den Kampagnen der
Nationalisten oder von Reaktionären vermengt,
sondern eigenständig geführt wird. Diese
Unterstützung sollte zugleich eine kritische sein,
also ohne Kritik an der Politik der türkischen und
kurdischen Linken und Befreiungsbewegung zu
verschweigen. Zur Unterstützung diese Kampagne
gehört natürlich auch, lautstarke
Protestkundgebungen und Demonstrationen gegen die
AKP-Kampagne zu organisieren und zu unterstützen.
Zweitens sollte diese
Aktivität verbunden werden mit der Forderung nach
Aufhebung des Verbotes der PKK und aller anderen
kurdischen und türkischen Organisationen in
Deutschland und der EU.
Drittens fordern wir das
Ende des EU-Türkei-Deals und die Öffnung der
Grenzen für die Geflüchteten, deren Recht auf
Arbeit und freie Wahl des Wohnortes in der EU und
volle StaatsbürgerInnenrechte. Wir fordern außerdem
die Aufhebung aller Einreisebeschränkungen für
Menschen aus der Türkei, insbesondere die
Einführung der Visafreiheit.
Viertens treten wir für den
Stopp von Waffenlieferungen an die Türkei und für
den Abzug aller Bundeswehr-Soldaten aus diesem Land
ein.
Die Regierung und
RassistInnen wollen die Auseinandersetzung in der
Türkei nicht „in unserem Land“ haben und
unterstützen zugleich die türkische Regierung,
nicht zuletzt durch Unterdrückung der Opposition in
Deutschland. Ihre Verbote richten sich nur
vordergründig gegen Erdogan, in Wirklichkeit jedoch
mit doppelter Härte gegen linke und demokratische
Kräfte, die sich hierzulande auch nicht politisch
betätigen sollen.
Diese Heuchelei ist uns
fremd. Der Kampf gegen die Diktatur, für
demokratische Rechte und nationale Selbstbestimmung
der KurdInnen geht auch uns, die Linke und
ArbeiterInnenbewegung in Deutschland und anderen
Ländern, etwas an. Wir sind parteiisch. Wir
unterstützen den Kampf der Linken und der
ArbeiterInnenklasse in der Türkei. Daher lautet
unser Antwort auf Erdogan, Merkel und Rutte: Volle
demokratische Rechte für alle MigrantInnen und
Geflüchteten! Unterstützung der NEIN-Kampagne!
Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit der
kurdischen Bewegung, der demokratischen Opposition
und der ArbeiterInnenbewegung in der Türkei!