Der
Widerspiegelungsprozeß erfolgt als aktive ideelle
Aneignung der objektiven Realität auf der
Grundlage praktischer Tätigkeit, d.h. der
Teilnahme an der Entfaltung der Produktivkräfte
(z.B. im wissenschaftlichen Experiment und im
Herstellen eines Handwerkzeugs) und der Teilnahme
an den politischen Formen des Klassenkampfes. In
welchen Formen und mit welchem Wahrheitsgehalt die
objektive Realität jeweils angeeignet wird, hängt
also vom historisch erreichten Grad der
Beherrschung der Natur ab und von der Beherrschung
der eigenen gesellschaftlichen Beziehungen. Auf
früher Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, wo
Entwicklung der Produktivkräfte, Teilung der
Arbeit, Bildung von Klassen noch kaum erfolgt ist,
verharrt dementsprechend die
Widerspiegelungstätigkeit in Bezug auf die
Gesellschaft in affektiven und instinktiven Formen
und es wird die Natur, entsprechend dem geringen
Grad ihrer Beherrschbarkeit in dämonisierenden,
animalistischen, totemistischen Formen
widergespiegelt. Jedoch ist diese Qualität der
Widerspiegelung im Zusammenhang der
gesellschaftlich-historischen Praxis dieses
Gesellschaftsverbandes funktional und enthält in
historisch möglicher und notwendiger Deutlichkeit
die objektive Realität, sie ist "Sprache des
wirklichen Lebens" (97).
Der Grad der
gesellschaftlichen Beherrschung der Natur und der
Grad der Beherrschung der gesellschaftlichen
Beziehungen und damit der mögliche Wahrheitsgehalt
bei der Widerspiegelung der Natur und der
Widerspiegelung der Gesellschaft sind in der
Entwicklung der Gesellschaft in widersprüchlicher
Weise aufeinander bezogen. So etwa steigert die
kapitalistische Gesellschaft bis zu einem
gewissen Zeitpunkt in unerhörtem Maß die
praktische Herrschaft über die Natur und treibt die
Entwicklung der
Naturwissenschaften voran, gleichzeitig läßt aber
die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise,
deren Gesetze sich als blinder Zwang "hinter dem
Rücken der Produzenten" durchsetzen, die
Widerspiegelung der Gesellschaft vom bürgerlichen
Standpunkt aus zu immer größeren Mystifikationen
gelangen.
Der Widerspruch
zwischen den entfalteten Produktivkräften und den
kapitalistischen Produktionsverhältnissen äußert
sich also auch in den Widerspiegelungsformen. Sind
mit der Entfaltung der Produktivkräfte den
mystifizierenden, dämonisierenden Widerspiegelungen
der vormals unbeherrschten Natur die Grundlagen
entzogen, sind die "Erdgeister und Waldteufel"
(Lenin) verschwunden, so spuken sie nun in den
widergespiegelten gesellschaftlichen Verhältnissen
umher. So hat Marx bei Gelegenheit der Analyse der
einfachen Warenproduktion gezeigt, wie das
naturwüchsige Aufeinanderwirken der für den
Austausch produzierenden Privatproduzenten in der
Gestalt des Marktes eine gesellschaftliche Bewegung
erzeugt, die unabhängig von Bewußtsein und Willen
der Produzenten als fremde, unerkennbare Macht auf
diese zurückwirkt. Ein Reflex dieses Widerspruchs
im bürgerlichen Bewußtsein zwischen der
fortschrittlichen auf die Natur bezogenen
Widerspiegelung und der auf die Gesellschaft
bezogenen mystifizierenden Widerspiegelung ist das
stete Bemühen der geistes- und
gesellschaftswissenschaftlichen Ideologen, einen
Schnitt zwischen sich und den Naturwissenschaften
zu machen. So etwa gingen, um ein Beispiel zu
nennen, eine Reihe von bürgerlichen Ideologen zu
einem Zeitpunkt (Ende des 19. Jahrhunderts), als
die Naturwissenschaften mit wachsendem Erfolg in
die Gesetze der Natur eindrangen, dazu über, die
Unerkennbarkeit der objektiven Realität zu
behaupten und redeten wieder von der
Unerkennbarkeit des "Dings an sich". Durch die
Art und Weise, in der die Widerspiegelung der
Natur und der Gesellschaft aufeinander bezogen
sind, erklärt sich auch, daß der Fortschritt in der
Widerspiegelungstätigkeit jeweils abhängt von der
Klasse, welche die Produktivkräfte entfaltet und
bereit und fähig ist, das Werk ihrer politischen
Entfesselung aus den alten, zu eng gewordenen
Produktionsverhältnissen zu vollbringen. Zum
Zeitpunkt der Französischen Revolution hatte sich
die bürgerliche Widerspiegelung der Natur bereits
zu einem materialistischen, wenn auch erst
mechanischen Standpunkt durchgearbeitet. Die
bürgerliche Widerspiegelung der Gesellschaft
erfaßte vor allem die Momente der feudalen
Gesellschaft, die der Entwicklung der
Produktivkräfte und der Entfaltung
kapitalistischer Verkehrsformen hemmend
entgegenstanden. Sie faßte dabei die Gesetze der
kapitalistischen Produktionsweise als apriorische,
zeitlose Vernunftprinzipien. Die
Gesellschaftstheorie der Ideologen der
bürgerlichen Revolution widerspiegelt den
revolutionären Prozeß der Beseitigung des
Feudalismus als Vernichtung der feudalen
Unvernunft vor den Schranken ewig feststehender,
natürlicher Vernunftgründe.
Es handelt sich hier
um eine Widerspiegelung, die immerhin noch von dem
progressiven Handlungsraum der bürgerlichen Klasse
in der Periode des fortschrittlichen Kapitalismus
bestimmt ist. Denn diese Mystifikation der Gesetze
der kapitalistischen Produktionsweise zu
Vernunftgesetzen, die dem Menschen
natürlicherweise eingeboren seien, spiegelt die
Tatsache wider, daß die kapitalistische
Produktionsweise noch die Produktivkräfte
entfaltet, somit den gesellschaftlichen Fortschritt
fördert. Kurz: Wie die Natur erscheint auch noch
die Gesellschaft beherrschbar. Der Gesellschaft
wird die Gesetzmäßigkeit der Natur unterlegt. In
ihrer Beherrschbarkeit sind beide, Natur und
Gesellschaft, für das bürgerliche Bewußtsein in der
revolutionären Periode noch eins. In der
revolutionären Periode der Bourgeoisie unterstellte
die bürgerliche Ideologie die aus den Gesetzen des
Warenaustauschs resultierenden bürgerlichen
Handlungsmaximen und Verhaltensnormen als
Vernunftgesetze der Menschheit schlechthin. Die
menschliche Gesellschaft erscheint als eine
Assoziation, die aufgrund einer von diesen
Vernunftgesetzen bestimmten 'freien Entscheidung'
der assoziierten Individuen zustande kommt. In der
geschichtlichen Mächtigkeit jener
Vernunftprinzipien spiegelt die Bourgeoisie ihre
noch fortschrittliche Rolle wider, spiegelt sich
die Tatsache wider, daß die Bourgeoisie noch eine
revolutionäre Klasse ist.
An der Entwicklung
der bürgerlichen Soziologie in den letzten
Jahrzehnten läßt sich der erneute, unter den
Bedingungen des Imperialismus vollzogene Versuch
der Verbindung der Widerspiegelung der Natur und
der Gesellschaft vom bürgerlichen Standpunkt
beobachten. Dieser erneute Versuch reflektiert das
Bemühen, zu einem Zeitpunkt der anwachsenden
Bedrohung der Herrschaft der Bourgeoisie durch die
proletarische Revolution, der imperialistischen
Gesellschaftsordnung die Gestalt eines
naturmächtigen Seins, durchwirkt von unumstößlichen
Naturgesetzen, zu geben. Im Unterschied zu der
Widerspiegelung der Gesellschaft in der
revolutionären Periode der Bourgeoisie, wo der
Gesellschaft ebenfalls Naturgesetzlichkeit
unterlegt wurde (jedoch in der
Form der Vernunftgesetze der 'souveränen
menschlichen Natur'), werden jetzt die Gesetze der
imperialistischen Gesellschaft als eine Art von
Natur- und Sachzwängen widergespiegelt, die
unabhängig vom Menschen bestünden und denen
gegenüber flexible Anpassung die einzige Chance
des Überlebens sei.
a) "Pragmatische"
bürgerliche Soziologie (Dürkheim)
Am Beispiel des
französischen Soziologen Emile Dürkheim (1858
-1917) läßt sich das zeigen. Dürkheim repräsentiert
diese Entwicklung in einem Teilbereich der
bürgerlichen Wissenschaft in besonders prägnanter
Weise. Die bürgerlichen Ideologen rechnen ihn zu
den hervorragenden Begründern einer gegen den
historischen Materialismus gerichteten Konzeption
einer bürgerlichen "Wissenschaft von der
Gesellschaft".
Dürkheim entwickelt
seine Konzeption in Frankreich in den Jahren vor
dem ersten imperialistischen Weltkrieg. Während die
bürgerlichen Ideologen dieser Jahre in der Regel
die imperialistische Gesellschaft als von
chaotischen Instinkten, Lebensmächten und
Willensäußerungen durchwaltet widerspiegeln,
gelangt Dürkheim zu der 'Entdeckung', daß die
Gesellschaft ebenso wie die Natur von
unumstößlichen, vom menschlichen Willen
unbeeinflußbaren Gesetzen bestimmt sei. Er nennt
diese quasi naturgesetzlichen Vorgänge
'soziologische Tatbestände'. Er entwickelt seine
Theorie auf dem Hintergrund der zunehmenden
Notwendigkeit für das Kapital, die
Herrschaftstechniken selbst zu
'verwissenschaftlichen'. Am Vorabend des ersten
imperialistischen Weltkrieges unternimmt es
Dürkheim, Imperialismus und Chauvinismus als einen
solchen unumstößlichen, durch keinen Klassenkampf
zu beseitigenden 'soziologischen Tatbestand' zu
definieren.
"Was wir vor allem
kennen lernen möchten, sind die Daseinsgründe der
nationalen Gefühle und des Patriotismus; ob sie in
der Natur der Dinge begründet liegen oder ob es
sich dabei, wie so manche Doktrinäre offen oder
versteckt behaupten, nur um Vorurteile und
Überreste der Barbarei handelt ... Wieder muß der
Professor der Philosophie ihnen (den Menschen)
begreiflich machen, daß die psychischen und
sozialen Phänomene Tatsachen sind wie andere auch,
Gesetzen unterworfen, daß der menschliche Wille
sie nicht nach Belieben stören kann und daß
folglich Revolutionen im strengen Sinn ebenso
unmöglich sind wie Wunder ... Liegt es nicht auf
der Hand, daß diese Ideen zu jenen gehören, mit
denen junge Menschen vor Eintritt in das Gymnasium
ausgerüstet sein müssen ...? " (98)
Die Tatsache, daß in
der Periode des Imperialismus die Anarchie der
kapitalistischen Produktionsweise samt der damit
einhergehenden Unfähigkeit zur "Herrschaft über
die eigenen gesellschaftlichen Beziehungen"
(Engels) seitens der Bourgeoisie gesteigert wird,
diese Tatsache spiegelt die bürgerliche
"Wissenschaft von der Gesellschaft" wider als das,
ohnmächtige Unterwerfung erheischende Wirken einer
gesellschaftlichen Naturgesetzlichkeit. Die
gewaltsame Herrschaft der Bourgeoisie wird zum
Gesetz der "Zwangswirkung" der "soziologischen
Tatbestände" auf die Individuen mystifiziert.
Die "soziologischen
Tatbestände", zu denen Dürkheim das pflichtgemäße
Verhalten des "Bürgers eines Staates" (99) rechnet,
werden definiert als "Arten des Handelns, Denkens
und Fühlens, die außerhalb des einzelnen stehen und
mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft
derer sie sich ihnen aufdrängen" (100). Man müsse
sich bei diesen "soziologischen Tatbeständen"
darüber im klaren sein, "daß wir hier vor einem
Ding stehen, das nicht von uns abhängig ist. Sofern
wir also die sozialen Erscheinungen wie Dinge
betrachten, passen wir uns lediglich ihrer Natur
an." (101)
Nachdem
Dürkheim die realen gesellschaftlichen
Herrschaftsverhältnisse in Naturgesetzlichkeiten
verwandelt hat, denen gegenüber Klassenkampf,
Revolutionen sowohl aussichtslos als auch kriminell
sind, wird für Dürkheim anschließend diese
Mystifikation zur methodischen Grundlage möglicher
Erkenntnis überhaupt: 'Tatsächlich ist eine
Wahrnehmung umso objektiver, je starrer der
Gegenstand ist, auf den sie sich bezieht." (102)
Also: je weitgehender der Gegenstand - die
kapitalistische Gesellschaft als klassenkampffreier
Regelkreis widergespiegelt wird, um so größer die
Hoffnung, auf der Grundlage und durch Kenntnis
dieses apparatemäßig funktionierenden Regelkreises
eine umfassende Manipulation nach dem mechanischen
input-output bzw. Ursache-Wirkungs-Schema ausüben
zu können. Diese Konzeption bietet einen wichtigen
Ansatzpunkt für die weitere Entwicklung der
bürgerlichen Soziologie in die Richtung einer
"Wissenschaft', der 'Sozialtechnik'. Ihre reale
Gestalt gewinnt diese "Wissenschaft' in der
bürgerlichen Industriesoziologie mit ihren
'Modellen' zur 'Verbesserung des Betriebsklimas',
mit ihren Versuchen, 'soziale Techniken'
herauszufinden, welche 'Lohnzufriedenheit' schaffen
sollen, ohne daß die Löhne
erhöht zu werden brauchten. Diese "Wissenschaft'
ist die Ausgeburt der Hoffnung der Bourgeoisie, die
Produktionsverhältnisse mittels grenzenloser
Manipulation aufrechterhalten zu können. Gibt sich
eine solche Wissenschaft gegenüber dem 'höheren
Blödsinn' anderer Sparten bürgerlicher Ideologie
auch einen exakt-naturwissenschaftlichen Anstrich,
so erweist sich ihre Ohnmacht an den wirklichen
Gesetzen des Klassenkampfes.
Diese Wissenschaft
wird in der Regel in unmittelbarer Regie des
kapitalistischen Staatsapparates oder der Konzerne
betrieben. Ihr Ansehen in den Machtzentren der
kapitalistischen Herrschaft verdankt sie den an sie
gehefteten Erwartungen, in politischen und
ökonomischen Krisen des Monopolkapitalismus,
Techniken der Kanalisierung und Steuerung zu
entwickeln. Mit unverhüllter Parteilichkeit
bekennen sich die Vertreter dieser Wissenschaft zu
ihrer Existenzquelle, dem kapitalistischen
Machtapparat.
Im Räume ihrer
Wissenschaft verwandeln sie die praktischen
Voraussetzungen ihrer Wissenschaft, ihren
unmittelbar kapitalistischen Auftrag, in
theoretisch-methodische 'Reflexion': "Die
Institutionen sind daher nicht nur Zweck-, sondern
auch Denksynthesen, in die die einzelnen
Wissenschaften mit ihren partiellen Wahrheiten
einzugehen haben, um das System eines sozialen
Handelns zu ermöglichen." (103)
b) "Kritische
Theorie" (Habermas)
In diesem
Zusammenhang noch ein kurzes Wort zu den Vertretern
der Tcritischen Theorie der Gesellschaft' aus der
Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Habermas,
Offe): Bewundernd stehen diese Theoretiker vor
einer solchen 'pragmatischen' Soziologie als einer
Form der Verwissenschaftlichung der
kapitalistischen Herrschaftstechniken. Gleichzeitig
aber machen sie auf 'Mängel' in diesem System
aufmerksam. Aus diesen Mängeln leiten sie ihre
Daseinsberechtigung als Pendant zu den
'pragmatischen Soziologen' ab.
"Das Aufregende ...
ist ... die Tatsache, daß die zentralen Plan- und
Verwaltungsstellen in einer hochindustrialisierten
Gesellschaft mit weitreichenden Kompetenzen und
entsprechend wirksamen Instrumenten ausgestattet
sein müssen, ohne daß eine wissenschaftliche
Rationalisierung die inneren Höfe spontaner
Bewertungen und Entscheidungen durchdringen kann."
(104)
Das Kapital seiner
'Spontaneität' zu berauben, in die 'inneren Höfe'
seiner Entscheidungszentren die 'wissenschaftliche
Rationalisierung' zu tragen, das ist die Aufgabe,
welche sich die kritischen Theoretiker setzen. Was
ist das für eine Rationalität, für die die
kritische Theorie Partei nimmt? : "Wenn daher der
Soziologe über die Pragmatik einer
analytisch-empirischen Planungswissenschaft hinaus
noch eine Aufgabe überhaupt zugemutet werden kann,
dann ist es die: statt sichtbar zu machen, was
ohnehin geschieht, gerade bewußt zu halten, was wir
ohnehin machen, nämlich planen und gestalten
müssen, gleichviel, ob wir es mit Bewußtsein tun
oder blindlings und ohne Besinnung." (105)
"Sie nimmt den
prätendierten Sinn der bestehenden Einrichtungen
beim Wort, denn noch wo es utopische Worte sind,
erschließen diese, realistisch verstanden, am
Bestehenden das, was nicht ist." (106)
Die kritischen
Theoretiker wollen die pragmatischen Soziologen,
die an der Verwissenschaftlichung der
kapitalistischen Herrschaftstechniken arbeiten,
ergänzen, indem sie die Gesellschaft zu einem
Gegenstand des Ver-stehens, der Interpretation und
der Deutung machen. Das reflektierende Individuum,
das den "unabgegoltenen Sinn" in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit auf dem Wege der
Deutung, auch "marxistische Hermeneutik" genannt,
entdeckt, vermag damit die herrschende Macht an den
"prätendierten" aber nicht erreichten "Sinn" zu
erinnern. Das politische Konzept der kritischen
Theoretiker ist deshalb die Herstellung eines
Publikums räsonierender und reflektierender
Individuen, genannt 'politische Öffentlichkeit'.
"Die öffentliche, uneingeschränkte und
herrschaftsfreie Diskussion über die
Angemessenheit und Wünschbarkeit von
handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen ...
eine Kommunikation dieser Art auf allen Ebenen der
politischen und wieder politisch gemachten
Willensbildungsprozesse ist das einzige Medium, in
dem so etwas wie 'Rationalisierung' möglich ist."
(107) Diese 'Rationalisierung' würde "die
Mitglieder der Gesellschaft mit Chancen einer
weitergehenden Emanzipation und einer
fortschreitenden Individuierung ausstatten" (108).
Charakterisiert wäre
diese Emanzipation durch geringere "Repressivität",
verstanden als "Toleranz gegenüber
Rollenkonflikten", geringere "Rigidität",
verstanden als "Chance einer individuell
angemessenen Selbstrepräsentation", und durch
größere "Rollendistanz", verstanden als die
Fähigkeit, gesellschaftliche Nonnen zwar zu
"internalisieren" aber der "Reflexion" zugänglich
zu erhalten (109).
Die deutsche
Soziolinguistik hat nach diesem Schema der
räsonierenden und der den Sachzwängen unterworfenen
Individuen sich ihre Begriffe vom "elaborierten"
und "restringierten" Sprachgebrauch gemacht. Die
restringiert Sprechenden, die zur "Unterschicht"
gehören, müssen auf die Stufe der elaborierten
Sprache gehoben werden. Sie können sich dann mit
der "Mittelschicht" zusammen, die aufgrund ihrer
sozialen Herkunft in der elaborierten Sprache
geübt ist, an dem "Prozeß der verallgemeinerten
Reflexion", an der "herrschaftsfreien Diskussion"
beteiligen. (110)
In dem Unterfangen,
die Niveauhebung der "Unterschicht" zu
bewerkstelligen, versuchen diese Soziologen ihren
"pragmatischen" Kollegen gleichzukommen. Ihren, vom
Standpunkt des Kapitals durchaus löbli-Hchen
Absichten, der Arbeiterklasse "Toleranz gegenüber
Rollenkonflikten", also Toleranz dem Klassenfeind
gegenüber zu lehren, sowie die Arbeiterklasse dazu
zu bewegen, von der Revolutionierung der
gesellschaftlichen Verhältnisse zugunsten ihrer
"Reflexion" Abstand zu nehmen, diesen Absichten ist
die Ohnmacht doch zu deutlich auf die Stirn
geschrieben, als daß diese "Wissenschaft' im
besonderen Maße vom Kapital subventioniert werden
brauchte. Die Aufgabe dieser Wissenschaft
erschöpft sich in der Hauptsache deshalb auch
darin, Studenten an eine neue Form des "höheren
Blödsinns" zu fesseln.
"Kritische Theorie'
und 'pragmatische Soziologie', Habermas und
Dürkheim (bzw. Schelsky), sind Vertreter einer
Widerspiegelung der Gesellschaft vom bürgerlichen
Standpunkt aus in der Periode des Imperialismus,
die sich wechselseitig ergänzen. Beide Richtungen
teilen die Unfähigkeit, die Gesetze der
gesellschaftlichen Wirklichkeit des Imperialismus
zu erkennen. Beide sind sie bestimmt von der
Illusion grenzenloser Stabilität des
Monopolkapitalismus. Während aber die
'pragmatische Soziologie' die Gesellschaft als eine
Maschine ansieht, deren Gebrauchsanleitung sie für
das Kapital anfertigt, sieht die kritische Theorie
die Gesellschaft eher wie ein Kunstwerk an, in das
sie sich einfühlt, das sie deutet und
interpretiert. Setzt die pragmatische Soziologie,
indem sie die Gesellschaft als mechanische Natur
widerspiegelt, die bewußte Unterwerfung unter die
Gewalt des Monopolkapitals voraus, so will die
'kritische Theorie' mit dieser Gewalt versöhnen,
indem sie die in den bürgerlichen
Geisteswissenschaften geübte Form der Unterwerfung,
die 'verstehende und interpretierende' Anpassung
betreibt.
Anmerkungen
97) Marx/Engels, Die
deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, S. 26
98) E. Durkheim,
La philosophie dans les universite's allemandes
(1887), zit.nach: E.D., Soziologie und Philosophie,
Frankfurt/Main 1967, S. 10 f.
99) Durkheim,
Regeln der soziologischen Methode (1895). In:
Soziologische Texte 3, Neuwied 1965, S. 105
100) Ebd., S. 107
101) Ebd., S. 101
102) Ebd., S. 138
103) H. Schelsky,
Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf
1959, S. 126
104) Habermas, Theorie und
Praxis, Neuwied 1967, S. 228
105) Ebd., S. 228
106) Ebd., S. 229
107) Habermas, Technik und
Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt/Main 1968,
S. 98
108) Ebd., S. 99
109) Ebd., S. 99
110) Ebd., S. 98
Quelle:
Autorenkollektiv
sozialistischer Literaturwissenschaftler
Westberlin, Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik
und Literatur im Klassenkampf, Westberlin 1971,
S. 90-102
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