Schlicht dvadsat schest, den
Sechsundzwanzigsten, nennen die Leute im Dreieck
Kiev-Moskau-Minsk die Katastrophe, die am 26. April
1986 mit einer Kette von Explosionen im Kernkraftwerk
von Tschernobyl begann.
Der
Versuch, einen der vier Reaktoren für eine Testreihe
unter Wartungsbedingungen herunterzufahren, war außer
Kontrolle geraten und hatte zur Explosion des
Reaktorkerns geführt. Dabei wurden der 1200 Tonnen
schwere Deckel und das Dach des Reaktors in die Luft
geschleudert, Wolken aus radioaktiven Gasen und
Teilchen kilometerhoch in die Atmosphäre getrieben, und
etwa ein Viertel des zerstörten Kernbrennstoffs in die
Umgebung verstreut. Die Graphitstäbe im Kern fingen
sofort Feuer. Durch die große Hitze der zwei Wochen
andauernden Brände gelangten hoch radioaktive Stoffe
wie Iod und Cäsium in Lufthöhen von bis zu neun
Kilometern. Da der Wind sich in diesem Zeitraum
mehrmals drehte, verbreiteten sich die radioaktiven
Wolken in den ersten drei Tagen Richtung Skandinavien,
dann zwei Tage ostwärts über Moskau, bevor sie sich
nach Süden und Westen über Mittelmeer und Nordsee
zerstreuten. Wind und Regen sorgten dafür, dass große
Teile Europas unterschiedlich stark kontaminiert
wurden.
Obwohl
den Sowjetischen Behörden immer wieder vorgeworfen
wird, dass sie erst nach drei Tagen mit den ersten
Informationen rausrückten, wurden Politik und Medien im
Westen von einem Gewirr aus blindem Alarm,
Beschwichtigung, Desinformation und Kompetenzstreit
beherrscht. Nachdem schon in den ersten Tagen in Bayern
und Baden-Württemberg wesentlich erhöhte Strahlendosen
gemessen worden waren, ließ die Bundesregierung ihren
Sprecher Norbert Schäfer verlautbaren, „dass eine
Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland nicht besteht
und auch nicht eintreten wird.“
In der ersten Bundestagssitzung zu
dem Unfall, am 14.5.1986, wandte Kanzler Kohl sich
„entschieden gegen das Schüren von
Katastrophenstimmung“. Die Opposition aus SPD und
Grünen kritisierte zwar das Informations- und
Richtliniendefizit der Regierung, trug selber aber auch
nichts zur Sachlage bei. In der Diskussion ging es nur
darum, wie sicher die Kernkraftwerke in der
Bundesrepublik wohl oder nicht seien.
Inzwischen stritten sich Bundes-, Landes- und
Kommunalbehörden über zulässige radioaktive Grenzwerte,
Verkaufsverbote für Frischmilch und Gemüse, und die
Schließung von Kinderspielplätzen und Grünanlagen. In
der Öffentlichkeit begann ein Jonglieren mit sich
widersprechenden Zahlen, von denen die wenigsten
verständlich oder überhaupt wissenschaftlich fundiert
waren. Seitdem werden von den Behörden wie von den
Medien Zahlen
zu den
gesundheitlichen Folgen der Katastrophe
hantiert, die eher
irreführend sind als dass sie das Ausmaß auch nur
annähernd fassen.
Anfangs
gab es von Seiten der Atomindustrie und der ihr hörigen
Presse und Politiker halbherzige Versuche, die
„Sowjetische Bauart“ des Reaktors für die Kernschmelze
verantwortlich zu machen. Die Umstände gaben aber nicht
viel her für antisowjetische Propaganda, erstens weil
in erster Linie nicht etwa veraltete Technologie
sondern menschliches Versagen für den Unfall
verantwortlich war. Das Kernkraftwerk war erst zwei
Jahre vorher in Betrieb genommen worden und galt als
eins der modernsten dieser Zeit. Zum
Beispiel wurde von Experten die damals
in der
Bundesrepublik angewandte Siedewassertechnologie als
viel gefährlicher eingeschätzt. Erst die Erfahrungen
aus Tschernobyl führten zu der Entscheidung, keine
graphitmoderierten Reaktoren mehr zu bauen. Außerdem
war in der Sowjetunion seit einem Jahr die als
Gorbatschows Perestroika und Glasnost bekanntgewordene
Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft in
Richtung Privatisierung, Demokratie und Marktwirtschaft
angelaufen, die den Interessen des Westens weitgehend
entsprach. Ebenso den Bestrebungen der internationalen
Atomindustrie. Schon bald wurde deshalb vor allem auf
Verschleierung und Verharmlosung der Fakten gesetzt.
Für die
Atomindustrie Westeuropas war klar, dass der GAU in
Tschernobyl die „friedliche Nutzung der Kernenergie“
grundsätzlich in Frage stellen würde. Tschernobyls
Reaktor 4 brandte noch lichterloh, als Außenminister
Genscher schon einen „Glaubwürdigkeitsschub“ für die
Kernkraftgegner ahnte. Kanzler Kohl fürchtete, dass
„wir wieder eine Riesendiskussion über Sinn und Zweck
der Atomenergie kriegen.“ Tatsächlich ergaben
Emnid-Umfragen Anfang Mai 1986, dass Zwei-Drittel der
bundesdeutschen Bevölkerung sich gegen Weiterbetrieb
und für Ausstieg aus der Atomenergie aussprachen. Die
Anti-Atomkraft Bewegung bekam einen neuen Auftrieb,
trotz Verbote und polizeiliche Übergriffe kam es zu
bundesweiten Großdemonstrationen gegen den Bau des
Kernkraftwerks Brokdorf und der
Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf sowie zu
zahlreichen Aktionen gegen die Beschwichtigungspolitik
von Staat und Wirtschaft. Weil auch das Herunterspielen
der Tschernobyl-Folgen den Befürwortern der Atompolitik
den letzten Rest an Glaubwürdigkeit genommen hatte,
wurde im Juni 1986 das Bundesministerium für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit gebildet, im Versuch,
„das Vertrauen in behördliche Aussagen zu stärken“.
„Meinungsvielfalt bei Lageeinschätzungen und
Empfehlungen ist in einem solchen Fall nicht
hilfreich“, befand das ihm unterstellte Bundesamt für
Strahlenschutz noch in einer März 2016 aktualisierten
Broschüre zum Reaktorunfall in Tschernobyl.
Bei
einer von der Internationalen Atomenergie-Organisation
IAEA organisierten Konferenz im Herbst 1986 legte eine
Delegation von Wissenschaftlern aus der Sowjetunion
eine erste Einschätzung der Tschernobyl-Katastrophe
vor. Darauf folgten zahlreiche Studien im Auftrag der
Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP, der
zuständigen UNO Kommission UNSCEAR und der Europäischen
Kommission, die sich aber hauptsächlich auf die am
meisten verseuchten Gebiete in Weißrussland, Russland
und der Ukraine beschränkten. Unter der Führung der
IAEA wurde 2003 ein „Tschernobyl-Forum“ gebildet, das
die Weltgesundheitsorganisation WHO, Weltbank, UNSCEAR
und andere UNO Agenturen umfasste sowie die Regierungen
Weißrusslands, Russlands und der Ukraine. Hauptanliegen
des Forums war es, zum 20. Jahrestag des Unfalls einen
„autoritativen Konsens“ und „definitive Antworten“ zu
formulieren, wie es in einer Presseerklärung des Forums
von September 2005 heißt. Die Angaben, die darin über
die von der Katastrophe freigesetzten Strahlendosen und
deren tödlichen und gesundheitlichen Auswirkungen
gemacht wurden, stützten sich auf teilweise veralteten
und lückenhaften Daten von WHO und UNSCEAR, die für die
Pressekonferenz in eklatanter Weise weiter
heruntergesetzt wurden. In einer Sendung der BBC gab
die Pressesprecherin der IAEA wenige Monate später zu,
dass es „eine kühne Aktion“ gewesen war, „um wesentlich
niedrigere Zahlen in die Öffentlichkeit zu platzieren
als die allgemein bekannten“. Für die internationale
Ärzteorganisation IPPNW (International Physicians for
the Prevention of Nuclear War), die 2006 einen eigenen
Report zu Tschernobyl veröffentlichte, stellte dieser
Vorgang „eine gravierende Unterschätzung und einen
unverhohlenen Versuch der Atomlobby dar, die Folgen von
Tschernobyl kleinzurechnen.“ Freilich sind es genau
diese Zahlen, die von Journalisten weiterhin benutzt
werden, allen Widersprüchen zum Trotz. Die Befunde der
IPPNW, einer Organisation die 1985 immerhin mit dem
Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, werden
dagegen sowohl von den Behörden, wie dem
Bundesdeutschen Umweltministerium, als von den Medien
weitgehend ignoriert. Auch nach dem wackeligen
„Atomstopp“ hierzulande gibt es ein machtvolles
Interesse, die bereits festgestellten und möglichen
Auswirkungen der Reaktorkatastrophe herunterzuspielen.
Neuere
Erkenntnisse
Zwei
kürzlich in Berlin und Wien vorgestellte Berichte
versuchen, das tatsächliche Ausmaß der Kontaminierung
und deren Folgen zu erfassen. Beide Berichte wurden von
Ärzten in der IPPNW zusammengestellt und stützen sich
auf Untersuchungen, von denen die meisten in der
Öffentlichkeit unbeachtet geblieben sind. Die von der
Deutschen Sektion der IPPNW herausgebrachte Studie,
30 Jahre Leben mit
Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima;
Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von
Fukushima und Tschernobyl
(80 S., Berlin,
Februar 2016), setzt sich kritisch mit den von
behördlicher Seite verbreiteten Zahlen auseinander.
TORCH-2016
(122 S., Wien, März 2016), ein von der Wiener
Umweltanwaltschaft und Global 2000 auf Englisch
veröffentlichtes Update des 2006 erschienenen
TORCH, The Other
Report on Chernobyl,
gibt vor allem die Erkenntnisse der letzten Jahre
wieder.
Danach wurden durch das Tschernobyl Desaster etwa 40%
der Oberfläche Europas kontaminiert, wobei vor allem
von der Strahlenbelastung durch das relativ langlebige
Cäsium-137 ausgegangen wird. Davon wurden Werte von
mehr als 40 kBq pro Quadratmeter in größeren Gebieten
in Weißrussland, Russland, Ukraine, Skandinavien,
Österreich, Schweiz und Südosteuropa gemessen. Darüber
hinaus wurden in Gebieten mit einer Gesamtfläche von 1
Million km² mehr als 10 kBq/m² gemessen, in einigen
Gegenden mehr als 1000 Kilometer vom Unfallort entfernt
bis zu 200 kBq/m². In Süddeutschland lagen die Werte
bei bis zu 74 kBq/m². Auch heute werden im Fleisch von
Wildschweinen aus Bayern und Sachsen noch Werte
gemessen, die den von der EU Kommission festgesetzten
Grenzwert von 0,6 kBq/kg um das Vielfache
überschreiten. Becquerel ist die Maßeinheit für den
Zerfall von Atomkernen pro Sekunde. 4-40 kBq/m² gelten
als mittlere, mehr als 40 kBq/m² als hohe
Strahlenbelastung. Etwa 5 millionen Menschen leben in
Gebieten, wo 2009 noch Werte von über 40 kBq/m²
gemessen wurden. Dazu ist zu wissen, dass erst nach
einer so genannten Halbwertszeit von 30 Jahren die
Hälfte der Cäsium-137 Atome zerfällt, nach weiteren 30
Jahren ein zusätzliches Viertel, und ihre Strahlung
erst nach etwa 10 Halbwertszeiten als vernachlässigbar
gelten kann.
Schätzungen gehen davon aus, dass bis jetzt mindestens
120.000 Menschen gestorben sind, die sich in der Nähe
des Kernkraftwerks Tschernobyl aufgehalten haben.
Dreißig Jahre nach dem Unfall erkranken und sterben
dort Leute an den Folgen der hohen Radioaktivität, vor
allem die Aufräumarbeiter, die sogenannten
Liquidatoren, und ihre Familien. Zu den unmittelbaren
Folgen gehören der sprunghafte Anstieg von
Schilddrüsenkrebs besonders bei Kindern und Frauen und
die in zahlreichen Studien festgestellte Zunahme von
Leukämie und anderen Krebserkrankungen, Fehl- und
Totgeburten sowie von kardiovaskulären,
gastrointestinalen, endokrinologischen,
respiratorischen und genetischen Schäden. Eine Studie
des Wissenschaftlich-Technischen Instituts Kiev unter
Einwohnern der nördlichen Ukraine registrierte im
Zeitraum 1987-1992 eine durchschnittlich 46-fache
Zunahme der Erkrankungen des Nerven-, Kreislauf-,
Knochen-Muskel-, Verdauungs- und Endokrinsystems. In
Weißrussland waren 1985 den Behörden zufolge 85% der
Kinder gesund, in 2000 waren es weniger als 20%.
Umsomehr erscheint es als Hohn, wenn zum Beispiel dem
Handelsblatt nichts besseres einfällt als einen
angeblichen Experten „die biologische Vielfalt des
Ökosystems Tschernobyl“ rühmen zu lassen, und die IAEA
auf ihrer Webseite bei
den von
Tschernobyl direkt betroffenen Frauen in
einem pseudowissenschaftlich gestalteten Video dafür
wirbt, dass sie doch vor allem unbesorgt Babies kriegen
sollen.
Strahlendosen werden in Sievert gemessen. An
„gewöhnlicher“ umweltbedingter Strahlung ist ein Mensch
durchschnittlich etwa 2 mSv (Millisievert) pro Jahr
ausgesetzt, sowie durch Röntgendiagnose u.ä. weitere
2mSv. Für die zusätzlich zulässige Strahlung werden in
der EU Grenzwerte von 1 mSv pro Jahr pro Person
gehandhabt, für beruflich exponierte Personen 20 mSv
pro Jahr. Eine längere Bloßstellung an Strahlendosen
von 1 Sievert (zB in Nahrung, Trink- und Schwimmwasser)
führt zu einem
erhöhten
Krebsrisiko und Veränderungen am Erbgut, aber auch
kurze
Strahlendosen ab 500 mSv, denen viele in Europa nach
Tschernobyl ausgesetzt wurden, gelten als gefährlich.
Die in den Reports zitierten Studien zeigen, „dass
schon kleine Strahlendosen im einstelligen mSv-Bereich
das Erkrankungsrisiko signifikant erhöhen“. Die IPPNW
Ärzte kommen denn auch zu dem Schluß, dass es keinen
Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Strahlung
unschädlich wäre.
Europaweit wurden in den letzten dreißig Jahren –
detailliert nachzulesen in den IPPNW Reports – vermehrt
Fehlgeburte, Fehlbildungen und pathologische
Veränderungen registriert, von denen angenommen werden
kann, dass ihre teilweise schlagartige Zunahme auf die
Strahlung aus Tschernobyl zurückzuführen ist. In der
Bundesrepublik, Polen, Ungarn und den skandinavischen
Ländern wurde eine deutliche Zunahme der
Säuglingssterblichkeit festgestellt. Das demografische
Geschlechterverhältnis hat sich in mehreren Regionen
Europas schon so verändert, dass zwischen 200.000 und
800.000 weniger Mädchen geboren wurden. In Westberlin
wie in Weißrussland stieg 1986-87 die Anzahl von
Neugeborenen mit Down-Syndrom. Auch wurden erhöhte
Neuerkrankungsraten festgestellt für Krebs, Diabetes,
Anämie, Herzinfarkte, Schlaganfälle und Störungen des
Immunsystems.
Konkret
bedeuten die zusammengetragenen Zahlen und Fakten vor
allem eine eher unbekannte Zunahme der Familien, in
denen körperbehinderte oder gebrechliche Eltern und
Kinder über Jahre auf medizinische Eingriffe und Hilfe
angewiesen sind. Angesichts der oft langen Latenzzeiten
strahlenbedingter Krankheiten und der schon bei
geringen Strahlendosen auftretenden gesundheitlichen
Schäden sind die langfristigen Auswirkungen der
Tschernobyl Katastrophe noch gar nicht abzusehen.
Editorischer Hinweis
Wir
erhielten den Artikel von Autor für diese Ausgabe.
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