Tschernobyl
30 Jahre Vertuschen, Verschleiern, Verharmlosen

von
Ron Augustin

04/2016

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Schlicht dvadsat schest, den Sechsundzwanzigsten, nennen die Leute im Dreieck Kiev-Moskau-Minsk die Katastrophe, die am 26. April 1986 mit einer Kette von Explosionen im Kernkraftwerk von Tschernobyl begann. Der Versuch, einen der vier Reaktoren für eine Testreihe unter Wartungsbedingungen herunterzufahren, war außer Kontrolle geraten und hatte zur Explosion des Reaktorkerns geführt. Dabei wurden der 1200 Tonnen schwere Deckel und das Dach des Reaktors in die Luft geschleudert, Wolken aus radioaktiven Gasen und Teilchen kilometerhoch in die Atmosphäre getrieben, und etwa ein Viertel des zerstörten Kernbrennstoffs in die Umgebung verstreut. Die Graphitstäbe im Kern fingen sofort Feuer. Durch die große Hitze der zwei Wochen andauernden Brände gelangten hoch radioaktive Stoffe wie Iod und Cäsium in Lufthöhen von bis zu neun Kilometern. Da der Wind sich in diesem Zeitraum mehrmals drehte, verbreiteten sich die radioaktiven Wolken in den ersten drei Tagen Richtung Skandinavien, dann zwei Tage ostwärts über Moskau, bevor sie sich nach Süden und Westen über Mittelmeer und Nordsee zerstreuten. Wind und Regen sorgten dafür, dass große Teile Europas unterschiedlich stark kontaminiert wurden.

Obwohl den Sowjetischen Behörden immer wieder vorgeworfen wird, dass sie erst nach drei Tagen mit den ersten Informationen rausrückten, wurden Politik und Medien im Westen von einem Gewirr aus blindem Alarm, Beschwichtigung, Desinformation und Kompetenzstreit beherrscht. Nachdem schon in den ersten Tagen in Bayern und Baden-Württemberg wesentlich erhöhte Strahlendosen gemessen worden waren, ließ die Bundesregierung ihren Sprecher Norbert Schäfer verlautbaren, „dass eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland nicht besteht und auch nicht eintreten wird.“ In der ersten Bundestagssitzung zu dem Unfall, am 14.5.1986, wandte Kanzler Kohl sich „entschieden gegen das Schüren von Katastrophenstimmung“. Die Opposition aus SPD und Grünen kritisierte zwar das Informations- und Richtliniendefizit der Regierung, trug selber aber auch nichts zur Sachlage bei. In der Diskussion ging es nur darum, wie sicher die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik wohl oder nicht seien. Inzwischen stritten sich Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden über zulässige radioaktive Grenzwerte, Verkaufsverbote für Frischmilch und Gemüse, und die Schließung von Kinderspielplätzen und Grünanlagen. In der Öffentlichkeit begann ein Jonglieren mit sich widersprechenden Zahlen, von denen die wenigsten verständlich oder überhaupt wissenschaftlich fundiert waren. Seitdem werden von den Behörden wie von den Medien Zahlen zu den gesundheitlichen Folgen der Katastrophe hantiert, die eher irreführend sind als dass sie das Ausmaß auch nur annähernd fassen.

Anfangs gab es von Seiten der Atomindustrie und der ihr hörigen Presse und Politiker halbherzige Versuche, die „Sowjetische Bauart“ des Reaktors für die Kernschmelze verantwortlich zu machen. Die Umstände gaben aber nicht viel her für antisowjetische Propaganda, erstens weil in erster Linie nicht etwa veraltete Technologie sondern menschliches Versagen für den Unfall verantwortlich war. Das Kernkraftwerk war erst zwei Jahre vorher in Betrieb genommen worden und galt als eins der modernsten dieser Zeit. Zum Beispiel wurde von Experten die damals in der Bundesrepublik angewandte Siedewassertechnologie als viel gefährlicher eingeschätzt. Erst die Erfahrungen aus Tschernobyl führten zu der Entscheidung, keine graphitmoderierten Reaktoren mehr zu bauen. Außerdem war in der Sowjetunion seit einem Jahr die als Gorbatschows Perestroika und Glasnost bekanntgewordene Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Privatisierung, Demokratie und Marktwirtschaft angelaufen, die den Interessen des Westens weitgehend entsprach. Ebenso den Bestrebungen der internationalen Atomindustrie. Schon bald wurde deshalb vor allem auf Verschleierung und Verharmlosung der Fakten gesetzt.

Für die Atomindustrie Westeuropas war klar, dass der GAU in Tschernobyl die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ grundsätzlich in Frage stellen würde. Tschernobyls Reaktor 4 brandte noch lichterloh, als Außenminister Genscher schon einen „Glaubwürdigkeitsschub“ für die Kernkraftgegner ahnte. Kanzler Kohl fürchtete, dass „wir wieder eine Riesendiskussion über Sinn und Zweck der Atomenergie kriegen.“ Tatsächlich ergaben Emnid-Umfragen Anfang Mai 1986, dass Zwei-Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung sich gegen Weiterbetrieb und für Ausstieg aus der Atomenergie aussprachen. Die Anti-Atomkraft Bewegung bekam einen neuen Auftrieb, trotz Verbote und polizeiliche Übergriffe kam es zu bundesweiten Großdemonstrationen gegen den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf und der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf sowie zu zahlreichen Aktionen gegen die Beschwichtigungspolitik von Staat und Wirtschaft. Weil auch das Herunterspielen der Tschernobyl-Folgen den Befürwortern der Atompolitik den letzten Rest an Glaubwürdigkeit genommen hatte, wurde im Juni 1986 das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gebildet, im Versuch, „das Vertrauen in behördliche Aussagen zu stärken“. „Meinungsvielfalt bei Lageeinschätzungen und Empfehlungen ist in einem solchen Fall nicht hilfreich“, befand das ihm unterstellte Bundesamt für Strahlenschutz noch in einer März 2016 aktualisierten Broschüre zum Reaktorunfall in Tschernobyl.

Bei einer von der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA organisierten Konferenz im Herbst 1986 legte eine Delegation von Wissenschaftlern aus der Sowjetunion eine erste Einschätzung der Tschernobyl-Katastrophe vor. Darauf folgten zahlreiche Studien im Auftrag der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP, der zuständigen UNO Kommission UNSCEAR und der Europäischen Kommission, die sich aber hauptsächlich auf die am meisten verseuchten Gebiete in Weißrussland, Russland und der Ukraine beschränkten. Unter der Führung der IAEA wurde 2003 ein „Tschernobyl-Forum“ gebildet, das die Weltgesundheitsorganisation WHO, Weltbank, UNSCEAR und andere UNO Agenturen umfasste sowie die Regierungen Weißrusslands, Russlands und der Ukraine. Hauptanliegen des Forums war es, zum 20. Jahrestag des Unfalls einen „autoritativen Konsens“ und „definitive Antworten“ zu formulieren, wie es in einer Presseerklärung des Forums von September 2005 heißt. Die Angaben, die darin über die von der Katastrophe freigesetzten Strahlendosen und deren tödlichen und gesundheitlichen Auswirkungen gemacht wurden, stützten sich auf teilweise veralteten und lückenhaften Daten von WHO und UNSCEAR, die für die Pressekonferenz in eklatanter Weise weiter heruntergesetzt wurden. In einer Sendung der BBC gab die Pressesprecherin der IAEA wenige Monate später zu, dass es „eine kühne Aktion“ gewesen war, „um wesentlich niedrigere Zahlen in die Öffentlichkeit zu platzieren als die allgemein bekannten“. Für die internationale Ärzteorganisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), die 2006 einen eigenen Report zu Tschernobyl veröffentlichte, stellte dieser Vorgang „eine gravierende Unterschätzung und einen unverhohlenen Versuch der Atomlobby dar, die Folgen von Tschernobyl kleinzurechnen.“ Freilich sind es genau diese Zahlen, die von Journalisten weiterhin benutzt werden, allen Widersprüchen zum Trotz. Die Befunde der IPPNW, einer Organisation die 1985 immerhin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, werden dagegen sowohl von den Behörden, wie dem Bundesdeutschen Umweltministerium, als von den Medien weitgehend ignoriert. Auch nach dem wackeligen „Atomstopp“ hierzulande gibt es ein machtvolles Interesse, die bereits festgestellten und möglichen Auswirkungen der Reaktorkatastrophe herunterzuspielen.
 

Neuere Erkenntnisse

Zwei kürzlich in Berlin und Wien vorgestellte Berichte versuchen, das tatsächliche Ausmaß der Kontaminierung und deren Folgen zu erfassen. Beide Berichte wurden von Ärzten in der IPPNW zusammengestellt und stützen sich auf Untersuchungen, von denen die meisten in der Öffentlichkeit unbeachtet geblieben sind. Die von der Deutschen Sektion der IPPNW herausgebrachte Studie, 30 Jahre Leben mit Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima; Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl (80 S., Berlin, Februar 2016), setzt sich kritisch mit den von behördlicher Seite verbreiteten Zahlen auseinander. TORCH-2016 (122 S., Wien, März 2016), ein von der Wiener Umweltanwaltschaft und Global 2000 auf Englisch veröffentlichtes Update des 2006 erschienenen TORCH, The Other Report on Chernobyl, gibt vor allem die Erkenntnisse der letzten Jahre wieder.

Danach wurden durch das Tschernobyl Desaster etwa 40% der Oberfläche Europas kontaminiert, wobei vor allem von der Strahlenbelastung durch das relativ langlebige Cäsium-137 ausgegangen wird. Davon wurden Werte von mehr als 40 kBq pro Quadratmeter in größeren Gebieten in Weißrussland, Russland, Ukraine, Skandinavien, Österreich, Schweiz und Südosteuropa gemessen. Darüber hinaus wurden in Gebieten mit einer Gesamtfläche von 1 Million km² mehr als 10 kBq/m² gemessen, in einigen Gegenden mehr als 1000 Kilometer vom Unfallort entfernt bis zu 200 kBq/m². In Süddeutschland lagen die Werte bei bis zu 74 kBq/m². Auch heute werden im Fleisch von Wildschweinen aus Bayern und Sachsen noch Werte gemessen, die den von der EU Kommission festgesetzten Grenzwert von 0,6 kBq/kg um das Vielfache überschreiten. Becquerel ist die Maßeinheit für den Zerfall von Atomkernen pro Sekunde. 4-40 kBq/m² gelten als mittlere, mehr als 40 kBq/m² als hohe Strahlenbelastung. Etwa 5 millionen Menschen leben in Gebieten, wo 2009 noch Werte von über 40 kBq/m² gemessen wurden. Dazu ist zu wissen, dass erst nach einer so genannten Halbwertszeit von 30 Jahren die Hälfte der Cäsium-137 Atome zerfällt, nach weiteren 30 Jahren ein zusätzliches Viertel, und ihre Strahlung erst nach etwa 10 Halbwertszeiten als vernachlässigbar gelten kann.

Schätzungen gehen davon aus, dass bis jetzt mindestens 120.000 Menschen gestorben sind, die sich in der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl aufgehalten haben. Dreißig Jahre nach dem Unfall erkranken und sterben dort Leute an den Folgen der hohen Radioaktivität, vor allem die Aufräumarbeiter, die sogenannten Liquidatoren, und ihre Familien. Zu den unmittelbaren Folgen gehören der sprunghafte Anstieg von Schilddrüsenkrebs besonders bei Kindern und Frauen und die in zahlreichen Studien festgestellte Zunahme von Leukämie und anderen Krebserkrankungen, Fehl- und Totgeburten sowie von kardiovaskulären, gastrointestinalen, endokrinologischen, respiratorischen und genetischen Schäden. Eine Studie des Wissenschaftlich-Technischen Instituts Kiev unter Einwohnern der nördlichen Ukraine registrierte im Zeitraum 1987-1992 eine durchschnittlich 46-fache Zunahme der Erkrankungen des Nerven-, Kreislauf-, Knochen-Muskel-, Verdauungs- und Endokrinsystems. In Weißrussland waren 1985 den Behörden zufolge 85% der Kinder gesund, in 2000 waren es weniger als 20%. Umsomehr erscheint es als Hohn, wenn zum Beispiel dem Handelsblatt nichts besseres einfällt als einen angeblichen Experten „die biologische Vielfalt des Ökosystems Tschernobyl“ rühmen zu lassen, und die IAEA auf ihrer Webseite bei den von Tschernobyl direkt betroffenen Frauen in einem pseudowissenschaftlich gestalteten Video dafür wirbt, dass sie doch vor allem unbesorgt Babies kriegen sollen.

Strahlendosen werden in Sievert gemessen. An „gewöhnlicher“ umweltbedingter Strahlung ist ein Mensch durchschnittlich etwa 2 mSv (Millisievert) pro Jahr ausgesetzt, sowie durch Röntgendiagnose u.ä. weitere 2mSv. Für die zusätzlich zulässige Strahlung werden in der EU Grenzwerte von 1 mSv pro Jahr pro Person gehandhabt, für beruflich exponierte Personen 20 mSv pro Jahr. Eine längere Bloßstellung an Strahlendosen von 1 Sievert (zB in Nahrung, Trink- und Schwimmwasser) führt zu einem erhöhten Krebsrisiko und Veränderungen am Erbgut, aber auch kurze Strahlendosen ab 500 mSv, denen viele in Europa nach Tschernobyl ausgesetzt wurden, gelten als gefährlich. Die in den Reports zitierten Studien zeigen, „dass schon kleine Strahlendosen im einstelligen mSv-Bereich das Erkrankungsrisiko signifikant erhöhen“. Die IPPNW Ärzte kommen denn auch zu dem Schluß, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Strahlung unschädlich wäre.

Europaweit wurden in den letzten dreißig Jahren – detailliert nachzulesen in den IPPNW Reports – vermehrt Fehlgeburte, Fehlbildungen und pathologische Veränderungen registriert, von denen angenommen werden kann, dass ihre teilweise schlagartige Zunahme auf die Strahlung aus Tschernobyl zurückzuführen ist. In der Bundesrepublik, Polen, Ungarn und den skandinavischen Ländern wurde eine deutliche Zunahme der Säuglingssterblichkeit festgestellt. Das demografische Geschlechterverhältnis hat sich in mehreren Regionen Europas schon so verändert, dass zwischen 200.000 und 800.000 weniger Mädchen geboren wurden. In Westberlin wie in Weißrussland stieg 1986-87 die Anzahl von Neugeborenen mit Down-Syndrom. Auch wurden erhöhte Neuerkrankungsraten festgestellt für Krebs, Diabetes, Anämie, Herzinfarkte, Schlaganfälle und Störungen des Immunsystems.

Konkret bedeuten die zusammengetragenen Zahlen und Fakten vor allem eine eher unbekannte Zunahme der Familien, in denen körperbehinderte oder gebrechliche Eltern und Kinder über Jahre auf medizinische Eingriffe und Hilfe angewiesen sind. Angesichts der oft langen Latenzzeiten strahlenbedingter Krankheiten und der schon bei geringen Strahlendosen auftretenden gesundheitlichen Schäden sind die langfristigen Auswirkungen der Tschernobyl Katastrophe noch gar nicht abzusehen.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Artikel von Autor für diese Ausgabe.