Treckschuitkurs für Verantwortliche der Anerkennung und Entschädigung für Töchter und Söhne der Naziverfolgten

von Antonín Dick

04/2016

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onlinezeitung

Die Schlacht tobt auch hier, das Ringen um die Frage, ob Kinder von Naziverfolgten Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung haben oder nicht, und zwar auf völlig neue Weise, denn die patriotische Front, gleichgültig, ob rechts oder links, ist im Vormarsch in der Bundesrepublik Deutschland, drückt nicht zuletzt auch dieser Frage ihren Stempel auf, und an den Horizonten steigt die Morgenröte der Antizipationen. Wird Deutschland überführt in einen europäischen Bundesstaat, in die Vereinigten Staaten von Europa, oder nicht? Wird Europa unter dem Eindruck der Einwanderung von Menschen vom Süden des Erdballs farbig oder nicht? Und zwischen diesen Epochenfragen, die sich unmerklich hin- und herschieben wie ferne Gewitterwolken, der deutsche Staat mit seinen Institutionen und Korporationen, das Establishment, schwerfällig wie ein geblendeter Riese, über weite Strecken deutschfixiert, nur unzureichend integriert in die Herzen der hier lebenden fünfzehn bis fünfundzwanzig Prozent Einwanderer und Einwandererkinder, irgendwie eine Mischung aus starr und clever, viel zu wenig unternehmend für die Niederreißung der hohen Bretterzäune zwischen den Klassen und Kasten, Schichten und Subschichten, die die bundesdeutsche Gesellschaft so beherrschen und sie im Tiefschlaf einer mittelalterlichen Ständegesellschaft zu halten trachten. Doch andererseits auch überraschend aufgeklärt und innovativ, um Barmherzigkeit und Weltbürgerlichkeit bemüht in Wort und Tat, seinen Bürgern aufrichtig zugewandt, ein Stück Sehnsucht. Und dagegen nun im Vormarsch die äußerst wendige patriotische Front – auf dem unaufhaltsamen Marsch auf Berlin. Und irgendwo dazwischen die Interessenvertreter für die Opfer des deutschen Faschismus und ihre unmittelbaren Angehörigen, um die es in dieser Wortmeldung ausschließlich gehen wird, arbeitende Körperschaften in Berlin Ost, Berlin West, Köln und München.

Die erste nennenswerte, politisch intendierte Flüchtlingswelle erlebten die Deutschen am Vorabend der europäischen Revolutionen von 1848 /49. Allerdings in umgekehrter Richtung. Man floh vor dem deutschen Establishment, auch vor dessen Verfolgungen, man floh vor allem vor den im Leben anderer herumwühlenden Geheimdiensten von Metternich, König Friedrich Wilhelm IV und Co., den Privatarmeen des damaligen Establishments in der Donaumonarchie, in Preußen und anderswo. Der deutsch-jüdische Dichter Heinrich Heine beispielsweise ergriff die Flucht nach Paris. Etliche Angehörige der radikaldemokratischen Opposition vor und nach ihm taten es. Und es reichte schon das bloße Fernhalten establishmentgefährdender Subjekte vom Weg nach Oben, wie es heute ganz selbstverständlich auch von unserem Establishment praktiziert wird, um freie Menschen zum Widerstand bzw. zur Emigration zu bewegen. Einem fünfundzwanzigjährigen, entfernt mit Heine verwandten, frisch promovierten, einer Rabbinerfamilie entstammenden Anwaltssohn wurde die akademische Laufbahn vorsätzlich verweigert, und er schwor im September des Jahres 1843, dass er Ende des Monats in Paris sein werde, „da die hiesige Luft leibeigen macht und ich in Deutschland durchaus keinen Spielraum für eine freie Tätigkeit sehe.“ Bereits im März desselben Jahres trieb der Ausgegrenzte, als wollte er Deutschlandferne praktisch-experimentell ermitteln, auf einer Treckschuit, einem Schleppkahn, einem Kanalboot, durch die holländischen Lande. Wasser macht frei, musste er sich gesagt haben, und so schrieb er auf den Planken jenes Gefährts einem Freund, mit dem er in Paris gemeinsam publizistisch tätig sein wollte, gleich einen befreienden Brief, eine wahre Treckschuitbotschaft, ungebärdig und schrill, weltliebend und weltverlangend, aber nie expansiv, sondern stets autonom, aus einer Außenseiterposition heraus gegenüber dem angeblich nicht mehr hinterfragbaren Germanozentrismus:

„Ich reise jetzt in Holland. Soviel ich aus den hiesigen und französischen Zeitungen sehe, ist Deutschland tief in den Dreck hineingeritten und wird es noch immer mehr. Ich versichere Sie, wenn man auch nichts weniger als Nationalstolz fühlt, so fühlt man doch Nationalscham, sogar in Holland. Der kleinste Holländer ist auch noch ein Staatsbürger gegen den größten Deutschen. Und die Urteile der Ausländer über die preußische Regierung! Es herrscht eine erschreckende Übereinstimmung, niemand täuscht sich mehr über dies System und seine einfache Natur. Etwas hat also doch die neue Schule genutzt. Der Prunkmantel des Liberalismus ist gefallen, und der widerwärtigste Despotismus steht in seiner ganzen Nacktheit vor aller Welt Augen. Das ist auch eine Offenbarung, wenngleich eine umgekehrte. Es ist eine Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unsers Patriotismus, die Unnatur unseres Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt. Sie sehen mich lächelnd an und fragen: Was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution. Ich antworte: Die Scham ist schon eine Revolution; sie ist der wirkliche Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten.“(*)

Was mich betrifft, so konnte ich meine Erlebnisse und Gedanken auf meiner Treckschuit leider nicht festhalten, war ich doch zwanzig Jahre jünger als jener Anwaltssohn und konnte nur in den Himmel hineinphantasieren, was ich fühlte und dachte, denn auf dem schönen, wilden Wasser war ich zwar ein umtriebiges, aber doch ein unwissendes Emigrantenkind. Aus der Tschechoslowakei ausgewiesenen Sudetendeutschen untergemischt, trieben wir, meine Mutter, mein Vater und ich, aus England kommende Anti-Hitler-Emigranten, im Sommer 1946 auf einem ausgedienten Schleppkahn für Salz wochenlang die Elbe abwärts durch das zerstörte Deutschland. Es gab kein Vaterland für uns, nicht weil Deutschland von den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition besetzt und wir staatenlos waren, nein, sondern weil wir Europäer waren und obendrein Europa voraus, weil es kein Europa mehr gab, Europäer ohne Europa. Wir sind, fühlten wir unbestimmt, das Salz für die blutende Erde. Mein Vater war ein deutsch-tschechischer Widerstandskämpfer, meine Mutter eine deutsch-jüdische Widerstandskämpferin, und alle drei waren wir nach der Befreiung plötzlich vogelfrei, denn der Schleppkahn war fest in sudetendeutscher Hand und wir ausgegrenzt, verhöhnt, in die Enge getrieben, sogar körperlich bedroht. „Sprich kein Englisch“, schärfte mir mein Vater in einer dunklen Ecke des Unterdecks ein, „um Himmelswillen nicht die Sprache des Feindes der Deutschen, wir wollen nicht zu Freiwild der patriotischen Meute werden!“

Dieses Treckschuitgefühl ist mir bis heute geblieben, und ich kenne kaum ein vertrauteres Lebensgefühl von all meinen unterschiedlichen Lebensgefühlen als dieses. Eine verlässliche Naturkonstante, derer ich mich immer wieder mühelos vergewissern kann, wenn mir die Stunde schlägt, dass wieder Zweifel an meiner hiesigen Existenz hochschwappen.

Später lernte ich sogar ein Wort kennen, mit dessen Hilfe ich meinem Treckschuitgefühl, das mir stets wie ein Backstein im Bauch lag, sprachlichen Ausdruck verleihen konnte. Es lautet emigrantisch. Dieses originelle Fehlwort verdanke ich einer schlecht deutsch sprechenden Emigrantin aus der Türkei, die in Deutschland im Schatten einer Tragödie, die ihrer Familie in der Türkei widerfuhr, lebt. Etliche Familienangehörige von ihr wurden in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts verfolgt, einige von ihnen liquidiert, weil sie einer nicht genehmen Richtung des allgemein anerkannten Glaubens anhingen, dem Sufismus, der den Islam ungewöhnlich frei, poetisch und genussreich auslegt.

Im Frühjahr 2014 trafen sich im Berliner Scheunenviertel zwei Emigrantenkinder, Alice M. Schloesser und ich, sie im französischen Exil ihrer aus Nazideutschland geflohenen Eltern, ich im englischen Exil meiner aus Nazideutschland geflohenen Eltern geboren. Zusammengebracht hatte uns die Justitiarin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, eine Emigrantin aus der einstigen Sowjetunion, und zwar in der Hoffnung, etwas gesellschaftlich Brauchbares zur Frage der Entschädigung von Angehörigen der Zweiten Generation von Naziverfolgten zu befördern. Nördlich vom Scheunenviertel kam meine Mutter zur Welt. Etliche unserer Familienangehörigen lebte im jüdisch dominierten Scheunenviertel, bis sie von den Deutschen abgeholt wurden. An drei Tagen konferierten wir in einem dortigen Café, und herauskam ein Katalog von Rechtsansprüchen, den wir, die von den Nachkriegsdeutschen jahrzehntelang zurückgestoßenen und benachteiligten Verfolgtenkinder, der deutschen Öffentlichkeit vorlegen konnten. Es sind insgesamt sechs Entschädigungsforderungen, die die online-Zeitung TREND dankenswerterweise redigiert und publiziert hat:

1. finanzielle Entschädigung mit dem Ziel, den Anspruchsberechtigten ausreichenden sozialen Schutz und das Recht auf ein würdiges und unabhängiges Dasein zu gewährleisten sowie umfassende Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben finanziell sicherzustellen

2. rechtliche Garantien für angemessenen Wohnraum auf Lebenszeit

3. Sicherstellung einer besonderen Gesundheitsfürsorge wie Therapien, Präventivmaßnahmen, Gesprächskreise von Betroffenen, Erholungsreisen und Kuren

4. Beihilfen wie Stipendien und Förderungen für die gesellschaftlich hochanerkannte Erinnerungsarbeit, die unsere Generation leistet

5. besondere soziale und medizinische Unterstützung für die Alterssicherung

6. Sicherstellung einer uneingeschränkten Mobilität mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch entsprechende Kostenübernahmen

Es ist das erste Mal in der Geschichte des deutschen Nachkriegs, dass sich Angehörige der Zweiten Generation der Naziverfolgten fordernd und programmatisch an die deutsche Öffentlichkeit wenden. Es ist dies ein Zeichen der Selbstbehauptung der Familien der Überlebenden der Naziverfolgung. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass Kinder des Exils es waren, die diese Initiative ergriffen haben, denn sie haben die nötige Distanz zu den deutschen Obliegenheiten. Jetzt kommt es darauf an, dass sich die Töchter und Söhne der Verfolgten des Nationalsozialismus verstärkt zusammenschließen, sich vernetzen, sich austauschen und an die deutsche Mehrheitsgesellschaft die Fragen richten, die zu richten sind, um das Weiterleben der Erfahrungen des großen Kollektivs der Exterminierten zu sichern. Im September 2015 habe ich in dem Rundschreiben „Her mit einem Gesetz zur Unterstützung und Entschädigung für die Nachkommen der Naziverfolgten!“ die Gründung einer bundesweiten Arbeitsgruppe von Verfolgtenkindern vorgeschlagen. Der Kölner Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e. V. hat inzwischen diesen Vorschlag aufgegriffen und damit begonnen, ihn weiterzuentwickeln und bundesweit zu propagieren.

Auf der zweitägigen Konferenz „Zweite Generation“, die der Kölner Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e. V. im Juni 2015 in Berlin ausgerichtet hatte, spielte die Exilkindexistenz in Nachkriegsdeutschland keine Rolle, und es wäre dieser Skandal keinem Teilnehmer aufgefallen, wenn ich nicht auf Workshop 16 mit einer Protestwortmeldung aufgetreten wäre.

Die Konferenzleitung hatte das Thema ‚Exil aus Nazideutschland‘ aus dem Konferenzgeschehen verbannt. Es gab kein einziges Referat, keinen einzigen Workshop und kein einziges Podiumsgespräch zum Thema Exil. Und das, obwohl zwischen 1933 und 1945 über 500.000 Menschen aus Deutschland geflohen waren, darunter nicht wenige Aktivisten der politischen Opposition! Und das, obwohl herausragende Repräsentanten des Exils zu den Initiatoren des Aufbaus eines demokratischen, freiheitlichen und friedliebenden Deutschland gehörten! Und das, obwohl der Verfolgungstatbestand ‚Emigration‘ zum integralen Bestandteil des Bundesentschädigungsgesetzes gehört! Ist den Inszenatoren der Konferenz der Anachronismus entgangen, der derartigen patriotischen Ausgrenzungsspielen zugrunde liegt? Haben sie ihren Thomas Mann nicht gelesen, der immerhin das Haupt der politischen Emigration war und schon 1945 in seiner in den USA geschriebenen Streitschrift „Deutschland und die Deutschen“ vor einer Wiederaufrichtung eines nationalstaatlichen Gebildes in der Mitte Europas dringend gewarnt hatte? Originalton des aus Deutschland Ausgebürgerten: „Bismarcks Reich hatte im Tiefsten nichts mit Demokratie und also auch nichts mit Nation im demokratischen Sinne dieses Wortes zu tun. Es war ein reines Machtgebilde mit dem Sinn der europäischen Hegemonie, und unbeschadet aller Modernität, aller nüchternen Tüchtigkeit knüpfte das Kaisertum von 1871 an mittelalterliche Herrscher an. Dies eben war das Charakteristische und Bedrohliche: die Mischung von robuster Zeitgemäßheit, leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und Vergangenheitstraum, der hochtechnisierte Romantizismus. Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt gelebt, und ein solches geht es zugrunde.“ Mit dem bundesweiten Aufmarsch der neuen Deutschen im Rahmen der patriotischen Front gelangt die Antizipation des Dichter-Emigranten zu erschreckender Aktualität!

Und gab es auf der Konferenz „Zweite Generation“ etwa keinen Bedarf nach dieser Thematik? Mitnichten! Es existierte unter den Teilnehmern ein regelrechter Hunger nach Informationen zu Exil und Exilschicksalen, sonst hätten mir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops 16 die bereitgestellten Exemplare der von mir verfassten entschädigungsrechtlichen Expertise „Dürfen in Deutschland lebende Exilgeborene aus der NS-Zeit von der Entschädigung ausgeschlossen werden?“ nicht nur so aus der Hand gerissen. Also bewusste Unterdrückung des Themas trotz empirisch nachweisbarer Nachfrage nach den Lebensschicksalen der Kinder des Exils? Was ist los in Deutschland, dass eine solche Ignoranz offizielle Linie einer gutbezahlten Bundeskonferenz werden kann? Leben wir nicht mehr im Land der Täter? Aber in welchem dann?

Die leise, cremige Despotie, die sich bezüglich des Themas ‚Exil aus Nazideutschland‘ auf der Konferenz breit machen sollte, war kein Versehen, kein Missverständnis, sie war Programm. Bereits im Vorfeld der Konferenz „Zweite Generation“ wurden die entsprechenden Weichen auf Exklusion gestellt. Im Jahresheft 2014 der Verbandszeitschrift ÜBERLEBEN des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte behauptete die Entschädigungsexpertin Frau Anke Wolf, Justitiarin des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte, in Beantwortung der Frage, wer eigentlich zur Zweiten Generation der Naziverfolgten gehören würde: „Grundsätzlich sind das die Nachkommen der NS-Verfolgten, die nach Kriegsende geboren wurden.“ Wie patriotisch! Nach Kriegsende! Anerkennung als Verfolgtenkind erst mit Einsetzen der neuen deutschen Stunde 0! Damit wären endlich all diejenigen Menschen, die im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 auf der Flucht vor den nichtjüdischen Deutschen geboren worden, aus dem Personenkreis der Zweiten Generation der Naziverfolgten exkludiert. Stunde 0! Die schwarze 0! Bravo! Konferenzteilziel erfolgreich abgesteckt! Doch leider, ach, ohne die Betroffenen, um die es ja eigentlich auf der Konferenz gehen sollte, zu fragen! In meiner entschädigungsrechtlichen Expertise „Dürfen in Deutschland lebende Exilgeborene aus der NS-Zeit von der Entschädigung ausgeschlossen werden?“ habe ich, ein auf der Flucht vor den Deutschen geborenes jüdisches Kind, diese lächerliche Behauptung enthaupten dürfen, auf emigrantische Art natürlich, viel unbezahlte Arbeit und mit einem gehörigen Batzen Bedachtsamkeit, Paragraph für Paragraph nach den juristischen Vorgaben des Bundesentschädigungsrechts der Bundesrepublik Deutschland.

Hat sich die Entschädigungsexpertin für diesen patriotischen Vorstoß bis heute bei den Kindern des Exils entschuldigt? Natürlich nicht. Es gibt keine Scham! Scham wäre in Deutschland eine Revolution! Hier ging es aber um Exklusion, nicht um Revolution!

Zur Ehre des Kölner Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte muss jedoch unbedingt erwähnt werden, dass seitens seines Geschäftsführers, Herrn Dr. Jost Rebentisch, ein befreiender Vorstoß im Entschädigungsrecht vorgenommen wurde, der hier ausdrücklich begrüßt und unterstützt wird. In dem bereits erwähnten Jahresheft der Verbandszeitung ÜBERLEBEN führt er aus: „Wir werden weiter dafür kämpfen, dass die Überlebenden des Nazi-Terrors in Würde alt werden dürfen, dass ihre gerechten Ansprüche berücksichtigt werden und dass ihre Erfahrungen entsprechend gewürdigt werden. Ebenso werden wir uns weiterhin für die Folgegenerationen einsetzen.“ Und im Jahresheft 2015 dieses Opferverbandes grenzt er sich in einem weiteren Leitartikel nicht nur gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus energisch ab, sondern formuliert in einem grundsätzlichen Positionspapier zusammen mit dem Vizepräsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees, Herrn Prof. Felix Kolmer, die vorwärtsweisende Generalaussage, die auch einige unserer Ansprüche aus unserem Forderungskatalog bewusst aufgreift:

Die Gesellschaft muss anerkennen, dass das Schicksal der Verfolgten des Nationalsozialismus in vielen Fällen das Leben ihrer Kinder und Enkel prägt. Daraus folgt eine unmittelbare Verantwortung. Zu denken ist, wie oben beschrieben, an die Schaffung eines kostenlosen Beratungs- und Sozialangebots. In Betracht kommt jedoch durchaus auch eine Geldzahlung, z. B. in Form einer Entschädigungs- oder zumindest Anerkennungsleistung.

In welcher Form die gesellschaftliche Teilhabe umgesetzt werden kann, wurde auf der Konferenz in Berlin bereits in einigen Workshops erörtert. Der Bundesverband wurde von den Teilnehmerinnen mehrfach aufgefordert, die einzelnen Gruppen zusammen zu bringen, Austausch zu ermöglichen, Interessen zu bündeln und ein gemeinsames Vorgehen in die Wege zu leiten. Wir nehmen diese Aufforderung sehr ernst und werden alles daran setzen, auch den Folgegenerationen zu Anerkennung und Unterstützung zu verhelfen.

Dieser gesellschaftlich bedeutsame entschädigungspolitische Vorstoß kann nicht genug gewürdigt werden. Allerdings ist er jetzt, im Jahre 2016, eingebettet in das politische Beben, das uns in Deutschland noch bevorsteht. Wie immer sich aber dieses ausnehmen wird, klar dürfte sein, dass es auch etwas mit dem verschütteten Gefühl zu tun haben wird, dass der eingangs erwähnte Emigrant ein paar Jahre vor dem politischen Beben von 1848 / 49 so hervorgehoben hatte, und nicht nur mit diesem Gefühl, sondern mit dem gesamten geistig-emotionalen Unterbau, der diesem Gefühl zugrunde liegt, als würden wir dann vor etwas stehen, das wir nicht anders bezeichnen können als eine revolutionäre Fortsetzung des in England einst eröffneten Zeitalters der Empfindsamkeit:

Die Scham ist schon eine Revolution; sie ist der wirkliche Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten.

*) Karl Marx: Briefe aus den "Deutsch-Französischen  Jahrbüchern", Karl Marx an Arnold Ruge, Auf der Treckschuit im März 1843, in: MEW, Band 1, Dietz Verlag Berlin 1957, S. 337

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

Mit Bezug auf die in diesem Artikel erwähnte "Konferenz zur Hilfe und Unterstützung der Zweiten Generation der Opfer des Nationalsozialismus" verweisen wir auf: