Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Atomkraft hat strahlende Zukunft
Placebo für Placé (und andere grüne Regierungsopportunisten)

04/2016

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onlinezeitung

Stand: 31. März 2016

Die französische Atomindustrie ist immer wieder für höchst „beruhigende“ Nachrichten gut. Eine davon lautet, dass – wie vergangene Woche der Öffentlichkeit bekannt wurde – hochgiftiges und hochradioaktives Plutonium seit 36 Jahren im Sediment auf dem Boden, d.h. im Flussbett, der Loire schlummert. Dies ergibt sich aus Messungen des Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN), die seit Juli 2015 vorgenommen worden waren. Wie das „Netzwerk Atomausstieg“ - Réseau sortir du nucléaire - in einer Presseaussendung vom vorigen Dienstag, den 22. März 16 erklärt, bestätigt dieser Befund nur Informationen, die den Behörden seit über drei Jahrzehnten bekannt gewesen seien. Im April 1980 war ein Brennstoffbehälter im Atomkraftwerk (AKW) Saint-Laurent-des-Eaux gerissen, und stark radioaktive Substanzen enthaltende Abwässer waren einfach in die nahe Loire gespült worden. Zuvor war es dort im Oktober 1969 und im März 1980 zu Atomunfällen gekommen, bei denen Brennelemente zusammenschmolzen.

Im Zusammenhang mit der Teilräumung der belgischen Atomkraftwerke nach den jüngsten Terroranschlägen in Brüssel vom 22. März d.J. ebenfalls höchst „Vertrauen erweckend“ wirkt die Nachricht vom neuesten Überflug des AKW Golfech – in Südwestfrankreich – durch eine Drohne unbekannter Herkunft. Der Überflug wurde am Gründonnerstag (24.03.16) bekannt und fand am Mittwoch zuvor gegen 21.15 Uhr statt. Zwischen Oktober 2014 und Januar des darauffolgenden Jahres (2015) hatte eine Serie von Überflügen unidentifiziert gebliebener Drohnen über mehreren französischen Atomanlagen stattgefunden, dann war es still um diese Vorfälle geworden. Insgesamt waren 15 von 19 französischen AKW-Standorten mit einem oder mehreren Reaktorblöcken dabei überflogen worden, hinzu kamen zwei militärisch genutzte Atomanlagen. Der Hintergrund muss nicht notwendig beunruhigend sein, die Unklarheit über die Urheberschaft und die damit verbundenen Absichten flößt jedoch kein Vertrauen ein.

Die mit 58 laufenden Reaktorblöcken gigantisch aufgeblähte französische Nuklearindustrie produziert derzeit 63,2 Gigawatt Strom und hält einen Anteil an der Elektrizitätserzeugung von rund 75 Prozent. Laut dem „Gesetz für den energiepolitischen Übergang“ (Loi de transition énergétique) vom 17. August 2015 soll der prozentuale Anteil bis im Jahr 2025 auf fünfzig Prozent sinken, durch den Ausbau erneuerbarer Energien, die Stromproduktion des AKW-Parks in absoluten Zahlen soll jedoch konstant bleiben. Konkret bedeutet das, dass bis 2025 voraussichtlich zwei Reaktorblöcke stillgelegt werden sollen, falls der neue Reaktor vom Typ EPR (Europäischer Durckwasserreaktor) im normannischen Flamanville wie geplant ans Netz geht. Dessen Inbetriebnahme war ursprünglich einmal für 2012 geplant und ist nun offiziell für Anfang 2018 progammiert, wurde bisher jedoch durch Pleiten, Pech und Pannen immer wieder verzögert. Vor wenigen Monaten erfuhr die Öffentlichkeit, dass der Reaktordruckbehälter - das Kernstück der Anlage - infolge von Rissen im verwendeten Spezialstahl möglicherweise schrottreif sei. Wie das Publikum nun am Donnerstag, den 24. März 2016 erfuhr, behauptet EDF jedoch inzwischen, die EPR-Baustelle habe „eine entscheidende Hürde genommen“, und der Reaktorkern sei so gut wie fertig montiert; nunmehr ist allerdings von einer Inbetriebnahme „im vierten Quartal 2018“, also zum Ende jenes Jahres, die Rede. // vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2016/03/24/97002-20160324FILWWW00336-epr-de-flamanville-edf-a-franchi-une-etape-cle-du-chantier.php //.

Unterdessen kündigte Umwelt-, Energie- und Transportministerin Ségolène Royal am 28. Februar 16 offiziell an, was sie dem Generaldirektor von AKW-Betreiber EDF (Electricité de France), Jean-Bernard Lévy, zufolge ihm schon Mitte Februar dieses Jahres zugesichert hatte: Die Laufzeit der Atomreaktoren, im Französischen liebevoll als ihre „Lebensdauer“ (durée de vie) bezeichnet, soll von bislang höchstens 40 auf 50 Jahre verlängert werden. Lévy sprach sogar von „50 oder 60 Jahren“, die Ministerin beließ es in ihren Worten bei der ersten Variante. Voraussetzung dafür ist, dass die Aufsichtsbehörde für die Reaktorsicherheit – ASN – eine Genehmigung dafür erteilt, sie wird sich aber erst 2018 äußern.

Man hätte erwarten können, dass die frisch in die Regierung eingetretenen Grünen-Vertreter lautstark protestieren. Bei der jüngsten Kabinettsumbildung vom 11. Februar 16 waren drei ehemalige Prominente der Ökopartei, erstmals nach zweijähiger Abwesenheit der Grünen aus der Regierung, dorthin zurückgekehrt. Zwei von ihnen sind allerdings Rechtsabweichler, die aus der Partei Europe Ecologie-Les Verts (EE-LV) augetreten waren, weil sie ihr nicht verzeihen konnten, dass sie Präsident François Hollande so unschön kritisiere. Einer von beiden ist Jean-Vincent Placé – eine peinliche Figur -, über den die Presse seit Jahren durchblicken ließ, dass sein einziges Lebensziel darin bestehe, im Laufe dieser Existenz irgendwann einmal Minister zu werden. Die dritte neue Ministerin aus diesem Bereich, Emmanuelle Cosse, war allerdings bis zu ihrem Regierungseintritt noch Parteivorsitzende von EE-LV, auch wenn sie gegen den Mehrheitswillen und die überwiegende Kritik der französischen Grünen ins Kabinett überwechselte.

Placé reagierte auf die Ankündigung der Laufzeitverlängerung mit Abwiegeln: Die Entscheidung sei nicht so schlimm, merkte er an, weil sie aufgrund „des Realitätsprinzips“ ohnehin nicht zum Tragen komme: Eine Wartung der ältesten unter den Reaktoren komme für EDF doch viel zu teuer, weswegen der Betreiber selbst aus finanziellen Gründen davon Abstand nehmen werde, prognostizierte Placé. Es gebe also keinen Grund, sich aufzuregen, wie der Pariser EE-LV-Abgeordnete und Ehemann von Ministerin Cosse, Denis Baupin, beipflichtete. Er spottete zugleich, dass „die üblichen Protestierer eben protestiert“ hätten, weil viele andere Grüne sich über die Weichenstellung empört hatten.

Emanuelle Cosse wählte einen anderen Weg zur Profilierung. Aus eigenem Antrieb verkündete sie, Präsident Hollande habe ihr zugesichert, dass das AKW im elsässischen Fessenheim – es ist das älteste noch laufende Atomkraftwerk in Frankreich und seit dem 01. Januar 1978 in Betrieb - noch im laufenden Jahr stillgelegt werde, also vor dem Wahljahr 2017 mit seinem möglichen Mehrheitswechsel. Dies würde einem Wahlkampfversprechen Hollandes von vor vier Jahren entsprechen und zugleich die Erfordernis, zwei Reaktorblöcke bis 2025 abzuschalten, erfüllen. Allerdings korrigierte die zuständige Ministerin Royal ihre grüne Regierungskollegin umgehend. Was 2016 beginne, sei ein „Verfahren zur Abschaltung“, das sich Royal zufolge jedoch locker zwei Jahre hinziehen werde. Nicht konkret anvisiert ist hingegen bislang offenkundig die Stillegung des ältesten laufenden AKWs in Frankreich, der Anlage im lothringischen Cattenom.

Anfang März 16 hatten die Süddeutsche Zeitung und der WDR berichtet, ein Störfall vom April 2014 in Fessenheim sei gravierender gewesen als bislang angegeben. Einer der beiden Kühlwasserkreisläufe war damals dort ausgefallen. Daraufhin war das Element Bor zugegeben worden (durch Fluten des Reaktorkerns mit borhaltigem Wasser), das bei einer Not- oder Schnellabschaltung zur Drosselung einer Atomanlage durch Absorption von Neutronen verwendet wird. Die Anlage sei zuvor quasi „blind gefahren“ worden, da sie auf Steuerungsversuche nicht mehr reagierte, geht aus den Berichten hervor. Die deutsche Umweltministerin Barbare Hendriecks forderte daraufhin am 04. März die schnellstmögliche Abschaltung von Fessenheim.

Auch andere französische Atomanlagen sind unter anderem den Nachbarländern, an deren Grenzen sie errichtet wurden, ein Dorn im Auge. Der Schweizer Kanton Genf kündigte Anfang März eine Strafanzeige gegen das seit 37 Jahren (Mai 1978) im Betrieb befindliche AKW im ostfranzösischen Bugey an. Es gefährde die Bevölkerung im siebzig Kilometer entfernten Genf und leite ferner schmutzige Kühlwässer in den dortigen See ab.

Die deutschen Grünen, deren Europaparlementsfraktion einen Untersuchungsbericht des Nuklearingenieurs und Professors Manfred Mertins veröffentlichte, aber auch die luxemburgische Regierung fordern ihrerseits dringlich eine Stilllegung der seit 1986 in Betrieb laufenden Anlage in Cattenom. Das Infrastrukturministerium von Luxemburg kündigte an, die EU-Kommission einzuschalten sowie „juristische Mittel“ gegen den Weiterbetrieb des AKW einzulegen. Martin Mertins spricht in seinem Rapport davon, falls deutsche Sicherheitsstandards angewendet würden, könnte Cattenom nicht einen Tag länger laufen.

Unterdessen startete EDF eine als Grand Carénage (große Auskleidung) bezeichnete Operation zur Modernisierung oder Überholung ihrer älteren AKWs, um sich auf die Laufzeitverlängerung vorzubereiten. In Paluel bei Rouen etwa wurde Mitte März 16 bekannt, dass entsprechende Arbeiten im dortigen AKW umgehend beginnen sollen. Doch EDF hatte keinerlei Auswertung der seit Mai 2015 dort durchgeführten Untersuchungen an der Anlage vorgenommen, und eine Anti-AKW-Initiative aus der Normandie forderte deswegen vor diesem Hintergrund einen „sofortigen Stopp des Carénage-Programms“. Am 16. März 16 publizierte unterdessen die Tageszeitung Le Parisien eine interne und bis dahin unveröffentlicht gebliebene Untersuchung des Betreibers EDF. Er berunruhigte sich darin im Jahr 2014 über den Zustand von Notstromkreisläufen in vielen französischen AKWs. Diese hängen oft von Dieselgeneratoren ab, deren Zustand in 13 Prozent der Fälle als „unakzeptabel“ bezeichnet wird.

Die von Jean-Vincent Placé geäußerte Hoffnung, der Markt und Kostenfaktoren würden die Fortsetzung der AKW-Politik – dank derer Frankreich vor allem weiterhin führend im Atom-Exportgeschäft von Marokko über Saudi-Arabien bis China bleiben möchte – schon stoppen, erfüllt sich offensichtlich nicht. Am 06. März nahm der bisherigen Finanzdirektor von EDF, Thomas Piquemal, seinen Hut. Er erklärte seinen Rücktritt, weil in seinen Augen das Projekt des Neubaus eines Atomkraftwerks vom Typ EPR im britischen Hinkley Point völlig überdimensioniert und ökonomisch unverantwortlich ist. Es soll nach bisherigen Plänen 23,2 Milliarden Euro kosten.

Doch die EDF-Spitze hält an ihrem Vorhaben eisern fest, und der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron erklärte dasu am 22. März 16, notfalls werde der Staat sich an einer Kapitalaufstockung bei EDF beteiligen, um dem Betreiber zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Derzeit hält der französische Staat 85 Prozent der Anteile an EDF. Macron hatte das Projekt „Hinkley Point C“ Mitte Februar 2016 als „sehr gute Investitionsentscheidung“ bezeichnet. Das AKW-Projekt wird, neben EDF in Frankreich, durch den chinesischen Nuklearindustrie-Giganten CGN mit finanziert. Doch die britischen Abgeordneten haben aufgrund der angeschlagenen wirtschaftlichen Situation von EDF, das derzeit die Verluste des französischen Atom-Anlagenbauers AREVA auffangen muss – nachdem die Regierung den Stromversorrger zu dessen Rettung verpflichtet hatte -, Zweifel bekommen. Am 23. März 16 versicherte Vincent de Rivaz, der Generaldirektor der britischen Filiale EDF Energy, vor einer Parlamentskommission in London, die Anlage werde auf jeden Fall errichtet. Anfang Mai dieses Jahres soll im Vorstand EDF nun die endgültige Entscheidung dazu fallen.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.