Vortragsmanuskript
Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und  Handelns

von Georg Lukács

04/2016

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I.

Die Schwierigkeit, wenigstens die allgemeinsten Prinzipien dieses Fragenkomplexes in einem Vertrag auch nur einiger­maßen zu beleuchten, ist eine doppelte. Einerseits müßte man die heutige Problemlage kritisch überblicken, andererseits den prinzipiellen Aufbau einer neuen Ontologie, wenigstens in ihrer Grundstruktur ins Licht rücken. Um wenigstens die zweite, die sachlich ausschlaggebende Frage, einigermaßen bewältigen zu können, müssen wir auf eine, wenn auch noch so abgekürzte Darlegung der ersten verzichten. Jeder weiß, daß in den letzten Jahrzehnten, in radikaler Weiterbildung alter erkenntnistheoretischer Tendenzen, der Neopositivismus mit seiner prinzipiellen Ablehnung einer jeden ontologischen Fragestellung als unwissenschaftlich, absolut herrschend war. i Und zwar nicht nur im eigentlichen philosophischen Leben, sondern auch in der Welt der Praxis. Wenn einmal die theoretischen Leitmotive der politischen, militärischen und Wirtschaftlichen Führung der Gegenwart ernsthaft analysiert werden, wird sich zeigen, daß sie - bewußt oder unbewußt - von neopositivistischen Denkmethoden bestimmt sind. Das hat ihre  fast unbeschränkte Allmacht begründet; das wird, wenn ein mal die Konfrontation mit der Wirklichkeit bis zur offenen  Krise geführt hat, vom politisch-ökonomischen Leben bis zum  Philosophieren im weitesten Sinne des Wortes große Umwälzungen herbeiführen. Da wir erst am Anfang dieses Prozesses  stehen, möge diese Andeutung genügen.

Unser Vortrag wird sich auch nicht mit den ontologischen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte beschäftigen. Wir beschränken uns auf die bloße Erklärung, daß wir sie für äußerst problematisch halten und verweisen nur auf die letzte Entwicklung eines so bekannten Initiators dieser Richtung wie Sartre, um die Problematik und ihre Richtung wenigstens anzudeuten.

Sie zeigt sich im Verhältnis zum Marxismus. Wir wissen sehr  wohl, daß dieser philosophiehistorisch selten als Ontologie aufgefaßt wurde. Dieser Vortrag stellt sich dagegen die Aufgabe, aufzuzeigen, daß das philosophisch Entscheidende an der Tat von Marx war: den logisch-ontologischen Idealismus Hegels  überwindend theoretisch wie praktisch die Umrisse einer ma­terialistisch-historischen Ontologie aufzuzeichnen. Die vorbe­reitende Rolle Hegels beruht darauf, daß dieser in seiner Weise die Ontologie als eine Geschichte auffaßte, die - im Gegensatz zur religiösen Ontologie - von »unten«, vom allereinfachsten, eine notwendige Entwicklungsgeschichte bis nach »oben«, bis zu den kompliziertesten Objektivationen der menschlichen Kul­tur, entwarf. Es ist natürlich, daß dabei der Akzent auf das ge­sellschaftliche Sein und dessen Produkte fiel, wie es gleichfalls charakteristisch für Hegel ist, daß der Mensch bei ihm als Schöpfer seiner selbst erscheint.

Die Marxsche Ontologie entfernt aus der Hegelschen alle logisch-deduktiven und entwicklungsgeschichtlich ideologi­schen Elemente. Mit diesem materialistischen »auf die Füße stellen« muß auch die Synthese des Einfachen aus der Reihe der bewegenden Momente des Prozesses verschwinden. Bei Marx ist weder, wie bei den alten Materialisten, das Atom, noch, wie bei Hegel, das abstrakte Sein schlechthin der Ausgangspunkt. Es gibt hier ontologisch keinen solchen. Alles Existierende muß immer gegenständlich sein, immer bewegender und bewegter Teil eines konkreten Komplexes. Das hat nun zwei grund­legende Folgen. Erstens ist das gesamte Sein ein Geschichts­prozeß, zweitens sind die Kategorien nicht Aussagen über etwas Seiendes oder Werdendes, auch nicht (ideale) Formungsprin­zipien der Materie, sondern bewegende und bewegte Formen der Materie selbst: »Daseinsformen, Existenzbestimmungen«. Indem die radikale - auch radikal vom alten Materialismus abweichende - Position von Marx vielfach im alten Geiste interpretiert wurde, entstand die falsche Vorstellung, Marx unterschätzte die Bedeutung des Bewußtseins dem materiellen Sein gegenüber. Daß diese Anschauung falsch ist, wird später konkret beleuchtet. Hier kommt es nur darauf an, festzustellen, daß Marx das Bewußtsein als ein spätes Produkt der materiel­len ontologischen Entwicklung auffaßte. Wenn das im Sinne des religiösen Schöpfergottes oder eines platonischen Idealismus interpretiert wird, kann fraglos ein solcher Anschein entstehen. Für eine materialistische Entwicklungsphilosophie dagegen muß das späte Produkt niemals ein an ontologischer Bedeu­tung minderwertiges sein. Daß das Bewußtsein die Wirklich­keit widerspiegelt und auf dieser Grundlage ihre modifizie­rende Bearbeitung möglich macht, bedeutet seinsmäßig eine reale Macht, nicht, wie von irrealen Überspannungsaspekten aus beurteilt, eine Schwäche.

II.

Hier können wir uns nur mit der Ontologie des gesellschaft­lichen Seins beschäftigen. Wir können jedoch seine Eigenart unmöglich erfassen, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, daß ein gesellschaftliches Sein nur auf der Basis eines organischen und ein solches nur auf der des anorganischen Seins entstehen und sich weiterentwickeln kann. Die vorbereitenden Formen des Übergangs aus einer Seinsart in die andere beginnt die Wissenschaft bereits aufzudecken. Dabei sind die prinzipiell wichtigsten Kategorien der komplizierteren Seinsformen im Gegensatz zu den einfacheren bereits ins Licht getreten: Re­produktion des Lebens im Gegensatz zum bloßen Anderswer­den, aktive, die Umgebung bewußt verändernde Anpassung an sie, im Gegensatz zur bloß passiven. Es ist auch klar geworden, daß die einfachere Form des Seins, mag sie noch so viele Über­gangskategorien hervorbringen, vom wirklichen Entstehen der komplizierteren Seinsform doch durch einen Sprung getrennt ist; diese ist etwas qualitativ Neues, dessen Genesis aus der ein­facheren Form nie einfadi »abgeleitet« werden kann. Auf je einen solchen Sprung folgt der Ausbau der neuen Seins­form. Sosehr dabei stets etwas qualitativ Neues entsteht, scheint dieses Neue in vielen Fällen doch nichts weiter zu sein, als eine Abwandlung der Reaktionsweisen des fundierenden Seins in neue Wirkungskategorien, in jene, die das Neue am neuentstandenen Sein eigentlich ausmachen. Man denke daran, wie das Licht, das auf die Pflanzen noch in rein physisch­chemischer Weise wirkt (damit freilich schon hier spezifische Lebenseffekte auslösend), im Sehen höherer Tiere spezifisch biologische Reaktionsformen auf die Umgebung entwickelt. So nimmt der Reproduktionsprozeß in der organischen Natur im­mer seinem eigentlichen Wesen entsprechendere Formen auf, wird immer entschiedener ein Sein sui generis, obwohl das Be­gründetsein auf die ursprünglichen Seinsfundamente niemals aufgehoben werden kann. Ohne diesen Problemkomplex auch nur andeuten zu können, sei hier bemerkt, daß die Höherent­wicklung des organischen Reproduktionsprozesses, das im eigentlichen Sinne immer reiner und ausgesprochener Bio­logischwerden, mit Hilfe der Sinneswahrnehmungen auch eine Art von Bewußtsein ausbildet, ein wichtiges Epiphänome-non als ein höheres Organ seines erfolgreichen Funktionie­rens.

Eine bestimmte Entwicklungshöhe der organischen Reproduk-tionsprozesse ist unerläßlidi, damit die Arbeit als dynamisch-struktive Grundlage einer neuen Seinsart entstehen könne. Auch hier müssen wir an den zahlreich vorhandenen Ansätzen zur Arbeit, die bloß Ansätze bleiben, vorbeigehen, auch an jenen Sackgassen, wo nicht nur eine Art von Arbeit, sondern auch ihre notwendige Entwicklungsfolge, die Arbeitsteilung, entstand (Bienen etc.), weil letztere, indem sie sich als eine biologische Differenzierung der Gattungsexemplare fixiert, kein Prinzip der Weiterentwicklung zu einem neuartigen Sein werden konnte, sondern eine entwicklungslose Stabilität blieb, eben eine Sackgasse in der Entwicklung.

Das Wesen der Arbeit besteht gerade darin, daß sie über dieses Gebanntsein der Lebewesen in die biologische Auseinander­setzung mit ihrer Umwelt hinausgeht. Nicht die Vollendung der Produkte bildet das wesentlich trennende Moment, sondern die Rolle des Bewußtseins, das gerade hier aufhört, ein bloßes Epiphänomenon der biologischen Reproduktion zu sein: das Produkt ist, sagt Marx, ein Resultat, das beim Beginn des Pro­zesses »schon in der Vorstellung des Arbeiters«, also schon ideell vorhanden war.

Es scheint vielleicht auffallend, daß gerade bei der materia­listischen Abgrenzung des Seins der organischen Natur vom gesellschaftlichen Sein, dem Bewußtsein eine derart ausschlag­gebende Rolle zugeschrieben wird. Man darf aber dabei nicht vergessen, daß die hier auftauchenden Problemkomplexe (ihr höchster Typus ist der von Freiheit und Notwendigkeit) nur bei einer aktiven Rolle des Bewußtseins - gerade ontologisch -einen wahrhaften Sinn erhalten können. Wo das Bewußtsein keine wirksame Seinsmacht geworden ist, kann dieser Gegen­satz überhaupt nicht auftreten. Dagegen muß überall, wo dem Bewußtsein objektiv eine derartige Rolle zukommt, die Lösung von diesen Gegensätzen beladen sein.

Man kann mit gutem Recht den arbeitenden Menschen, das durch die Arbeit zum Menschen gewordene Tier, als ein ant­wortendes Wesen bezeichnen. Denn es unterhegt keinem Zwei­fel, daß jede Arbeitstätigkeit als antwortgebende Lösung des sie auslösenden Bedürfnisses entsteht. Man würde jedoch am Wesen der Sache vorbeigehen, würde man hier ein unmittel­bares Verhältnis voraussetzen. Der Mensch wird im Gegenteil gerade dadurch zu einem antwortenden Wesen, daß er - mit der gesellschaftlichen Entwicklung parallel, in zunehmender Weise - seine Bedürfnisse, die Möglichkeiten ihrer Befriedi­gung, zu Fragen verallgemeinert und in seiner Antwort auf das sie auslösende Bedürfnis seine Tätigkeit durch derartige oft weitverzweigte Vermittlungen begründet und bereichert. So ist nicht nur die Antwort, sondern auch die Frage unmittel­bar ein Produkt des die Tätigkeit leitenden Bewußtseins. Da­mit hört jedoch das Antworten nicht auf, das seinsmäßig Primäre in diesem bewegten Komplex zu sein. Das materielle Be­dürfnis, als Motor des individuellen wie sozialen Reproduk­tionsprozesses, setzt erst den Arbeitskomplex wirklich in Bewe­gung und alle Vermittlungen sind seinsmäßig nur dazu da, um es zu befriedigen. Freilich mit Hilfe von Vermittlungsket­ten, die sowohl die die Gesellschaft umgebende Natur wie die in ihr tätigen Menschen, ihre Beziehungen etc., ununterbro­chen umwandeln, indem sie in der Natur Kräfte, Relationen, Eigenschaften etc. praktisch wirksam werden lassen, die sonst unmöglich solche Wirkungen hätten auslösen können, indem der Mensch im Freisetzen und Beherrschen dieser Kräfte selbst eine Höherentwicklung seiner Fähigkeiten zustande bringt. Mit der Arbeit ist also die Möglichkeit ihrer Höherentwicklung, die der sie ausübenden Menschen, ontologisch mitgegeben. Schon dadurch, aber vor allem infolge der Verwandlung der bloß reagierenden passiven Anpassung des Reproduktionspro­zesses an die Umwelt, durch deren bewußte und aktive Um­gestaltung, wird die Arbeit nicht bloß zum Faktum, in welchem die neue Eigenart des gesellschaftlichen Seins zum Ausdruck gelangt, sondern - gerade ontologisch - zum Modellfall der ganzen neuen Seinsform.

Je genauer wir ihr Funktionieren betrachten, desto deutlicher wird dieser Charakter. Die Arbeit besteht aus teleologischen Setzungen, die jeweils Kausalreihen in Gang setzen. Diese schlicht-konstatierende Feststellung eliminiert jahrtausendalte ontologische Vorurteile. Im Gegensatz zur Kausalität, die das spontane Gesetz darstellt, in dem alle Bewegungen sämtlicher Seinsformen ihren allgemeinen Ausdruck erhalten, ist Teleo-logie eine - stets von einem Bewußtsein vollzogene - Setzungs­weise, die, sie in bestimmte Richtungen leitend, doch nur Kau­salreihen in Bewegung setzen kann. Wenn also in früheren Philosophien die teleologische Setzung nicht als eine derartige Besonderheit des gesellschaftlichen Seins erkannt wurde, mußte einerseits ein transzendentes Subjekt, andererseits eine beson­dere Beschaffenheit der teleologisch wirkenden Zusammen­hänge ausgeklügelt werden, um Natur und Gesellschaft Ent­wicklungstendenzen teleologischer Art zusprechen zu können. Die Gedoppeltheit in diesem Tatbestand, daß in einer Gesell­schaft, die wirklich gesellschaftlich geworden ist, zwar die Mehrzahl jener Aktivitäten, deren Totalität die Gesamtheit bewegt, teleologischen Ursprungs ist, ihre reale Existenz, gleich­viel ob einzeln geblieben oder zusammengefaßt, aber doch aus Kausalzusammenhängen besteht, die nie und irgends, in kei­ner Beziehung teleologischen Charakters sein können, ist hier der entscheidende Gesichtspunkt.

Jede gesellschaftliche Praxis, wenn wir die Arbeit als ihr Mo­dell betrachten, vereinigt in sich diese Gegensätzlichkeit. Einer­seits ist sie eine Alternativentscheidung, denn stets muß jeder Einzelmensch jedesmal, wenn er etwas tut, sich dazu oder zur Enthaltung davon entscheiden. Jede gesellschaftliche Tat ent­springt also aus einer Alternativentscheidung über zukünftige teleologische Setzungen. Die gesellschaftliche Notwendigkeit kann sich nur in dem - oft anonymen - Druck auf die Indivi­duen, ihre Alternativentscheidungen in einer bestimmten Rich­tung zu vollziehen, durchsetzen. Marx bezeichnet diese Lage richtig so, daß die Menschen »bei Strafe des Untergangs« von den Umständen in einer bestimmten Weise zu handeln ge­drängt werden. Die Menschen müssen aber ihre Handlungen, letzten Endes, doch selbst vollziehen, auch wenn sie dabei oft gegen ihre Überzeugungen handeln.

Aus dieser unaufhebbaren Lage des in der Gesellschaft leben­den Menschen lassen sich - natürlich die komplizierteren in komplizierteren Situationen berücksichtigend - alle realen Probleme des Komplexes, den wir Freiheit zu nennen pflegen, ableiten. Ohne das Gebiet der Arbeit im eigentlichen Sinne zu überschreiten, können wir auf die Kategorien von Wert und Sollen hinweisen. Die Natur kennt weder das eine noch das andere. Die Wandlungen von Sosein ins Anderssein in der an­organischen Natur haben selbstredend nichts mit Werten zu tun. In der organischen Natur, wo der Reproduktionsprozeß seinsmäßig eine Anpassung an die Umgebung bedeutet, kann bereits von deren Gelingen oder Mißlingen gesprochen werden, aber auch dieser Gegensatz überschreitet - gerade seinsmäßig -nie die Grenzen des bloßen Andersseins. Ganz anders bereits in der Arbeit. Die Erkenntnis unterscheidet im Allgemeinen sehr deutlich das objektiv seiende Ansichsein der Gegenstände von ihrem bloß gedachten Fürunssein, das sie im Erkenntnis­prozeß erhalten. Nun wird aber in der Arbeit das Fürunssein des Arbeitsprodukts zu seiner gegenständlichen real seienden Eigenschaft, gerade zu jener, durch welche es, wenn richtig gesetzt und verwirklicht, seine gesellschaftlichen Funktionen erfüllen kann. Dadurch wird es wertvoll (im Falle des Mißlin­gens: wertlos, wertwidrig). Das wirkliche Gegenständlichwer­den des Fürunsseins ist es, wodurch allein Werte real entstehen können. Daß diese auf höheren Stufen der Gesellschaftlichkeit geistigere Formen aufnehmen, hebt die fundamentale Bedeu­tung dieser ontologischen Genesis nicht auf. Ähnlich steht es um das Sollen. Das Sollen beinhaltet eine durch gesellschaftliche Zielsetzungen (und nicht nur bloß na­turhafte oder spontan menschliche Neigungen) bestimmte Verhaltensweise des Menschen. Nun gehört es zum Wesen der Arbeit, daß in ihr jede Bewegung, die sie vollziehenden Men­schen, von im voraus bestimmten Zielen dirigiert werden müssen. Jede Bewegung ist also einem Sollen unterstellt. Auch hier ändert sich nichts seinsmäßig Ausschlaggebendes, wenn diese dynamische Struktur auf rein geistige Wirkungsgebiete über­tragen wird. Es zeigen sich im Gegenteil die seinsmäßigen Ver­bindungsglieder, die vom Anfänglichen zu den späteren geisti­geren Verhaltensweisen führen, in voller Klarheit, im Gegen­satz zu den erkenntnistheoretisch-logischen Methoden, bei denen der Weg, der von den höheren Formen zu den an­fänglichen führt, unsichtbar wird, ja wo diese vom Gesichts­punkt jener geradezu als Gegensätze erscheinen. Wenn wir nun vom setzenden Subjekt einen Blick auf den Gesamtprozeß der Arbeit werfen, so zeigt sich sogleich, daß dieses zwar die teleologische Setzung bewußt vollzieht, jedoch niemals so, daß es imstande sein könnte, alle Bedingungen sei­ner eigenen Tätigkeit geschweige denn alle ihre Folgen zu überblicken. Selbstverständlich hält das die Menschen vom Handeln nicht ab. Gibt es doch unzählige Lagen, in denen bei Strafe des Untergangs unbedingt gehandelt werden muß, trotz der Einsicht, daß man nur einen winzigen Teil der Umstände zu übersehen imstande ist. Aber auch in der Arbeit selbst weiß der Mensch oft, daß er nur einen kleinen Kreis ihrer Umstände beherrschen kann, daß er sie aber - da das Bedürfnis drängt und die Arbeit auch so dessen Befriedigung in Aussicht stellt -doch irgendwie zu vollziehen imstande ist.

Diese unaufhebbare Lage hat zwei wichtige Konsequenzen. Erstens die innere Dialektik der ständigen Vervollkommnung der Arbeit, indem während ihres Vollzugs, infolge der Beob­achtung ihrer Ergebnisse etc. der Umkreis der erkennbar ge­wordenen Bestimmungen ständig zunimmt und demzufolge die Arbeit selbst immer vielfältiger, immer größere Gebiete umfassend, extensiv wie intensiv immer höher geartet wird. Da aber dieser Prozeß der Vervollkommnung die Grundtat­sache, die Unerkennbarkeit sämtlicher Umstände nicht auf­heben kann, erweckt - parallel mit ihrem Wachstum - diese Seinsweise der Arbeit auch das Erlebnis einer transzendenten Wirklichkeit, deren unbekannte Mächte der Mensch irgendwie zu seinen Gunsten zu wenden versucht. Es ist hier nicht der Ort, sich mit den verschiedenen Formen der magischen Praxis, des religiösen Glaubens etc., die aus dieser Lage herauswachsen, zu beschäftigen. Aber ganz unerwähnt durften sie auch nicht bleiben, obwohl sie selbstredend nur eine Quelle dieser ideologi­schen Formen bilden. Besonders weil die Arbeit nicht nur der objektiv ontologische Modellfall einer jeden menschlichen Tätigkeit ist, sondern - in den hier erwähnten Fällen - auch das direkte Vorbild für die göttliche Schöpfung der Wirklich­keit, für jedes durch einen allwissenden Schöpfer teleologisch produzierte Gebilde.

Arbeit ist ein bewußtes Setzen, setzt also ein wenn auch nie vollkommen konkretes Wissen von bestimmtem Ziel und Mit­tel voraus. Da, wie gezeigt wurde, die Entwicklung, die Ver­vollkommnung, zu ihren ontologischen Wesenszeichen gehört, bildet sie sich, indem sie gesellschaftliche Gebilde höherer Ord­nung ins Leben ruft. Die vielleicht wichtigste dieser Differen­zierungen ist die zunehmende Verselbständigung der Vorarbei­ten, die, immer relative, Loslösung der Erkenntnis von Ziel und Mittel in der konkreten Arbeit selbst. Mathematik, Geo­metrie, Physik, Chemie etc. waren ursprünglich Teile, Mo­mente dieses Vorbereitungsprozesses der Arbeit. Allmählich erwuchsen sie zu selbständigen Erkenntnisgebieten, ohne diese ursprüngliche Funktion je vollständig verlieren zu können. Je universeller und selbständiger diese Wissenschaften werden, desto universeller und vollkommener wird auch die Arbeit; je mehr sie sich ausbreiten, intensivieren etc., desto größer wird der Einfluß der so entstandenen Erkenntnisse auf Zielsetzung und Mittel der Durchführung der Arbeit.

Eine derartige Differenzierung ist bereits eine relativ hoch aus­gebildete Form der Arbeitsteilung. Diese selbst ist aber die elementarste Folge der Entwicklung der Arbeit selbst. Noch bevor sie zur vollen intensiven Entfaltung gelangt war, etwa in der Sammelperiode, taucht diese Folgeerscheinung etwa bei der Jagd bereits auf. Das für uns ontologisch Bemerkenswerte ist dabei das Auftreten einer neuen Form der teleologischen Setzung: es soll nämlich dabei nicht ein Stück Natur den menschlichen Zielsetzungen entsprechend bearbeitet werden, sondern ein Mensch (oder mehrere) sollen dazu veranlaßt wer­den, teleologische Setzungen in einer vorbestimmten Weise zu vollziehen. Da eine bestimmte Arbeit, mag die sie charakteri­sierende Arbeitsteilung noch so differenziert sein, nur ein ein­heitliches Hauptziel haben kann, müssen Mittel gefunden wer­den, diese Einheitlichkeit der Zielsetzung in der Vorbereitung und Durchführung der Arbeit zu garantieren. Darum müssen diese neuen teleologischen Setzungen simultan mit der Arbeits­teilung in Wirksamkeit treten und sie bleiben auch weiter ein unentbehrliches Mittel in jeder arbeitsteiligen Arbeit. Mit hö­herer gesellschaftlicher Differenzierung, mit der Entstehung von Gesellschaftsklassen mit antagonistischen Interessen, wird diese Art der teleologischen Setzungen die geistige-struktive Grundlage dessen, was der Marxismus Ideologie nennt. In den Konflikten nämlich, die die Widersprüche der entwickelteren Produktionen aufwerfen, ergibt die Ideologie die Formen, in denen die Menschen sich dieser Konflikte bewußt werden und sie ausfechten.

Solche Konflikte durchdringen das gesamte gesellschaftliche Leben immer stärker. Von privaten und unmittelbar privat gelösten Gegensätzen in der Einzelarbeit und im Alltagsleben reichen sie bis zu jenen gewichtigen Problemkomplexen hin­auf, die die Menschheit bis jetzt in ihren großen gesellschaft­lichen Umwälzungen auszufechten bestrebt war. Der fundamen­talste Strukturtypus zeigt aber überall wesentlich gemeinsame Züge: so wie für die Arbeit selbst das reale Wissen über die in Betracht kommenden Naturprozesse unvermeidlich war, um eben den Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur erfolg­reich abzuwickeln, so ist hier ein gewisses Wissen über die Be­schaffenheit der Menschen, ihrer persönlichen und gesellschaft­lichen Beziehungen zueinander unerläßlich, um sie zu veran­lassen, die erwünschten teleologischen Setzungen zu vollziehen. Wie aus solchen lebensnotwendig entstandenen Erkenntnissen, die anfangs die Formen von Sitte, Tradition, Gewohnheit, auch von Mythen aufnehmen, später rationalisierte Verfah­rensweisen, ja Wissensdiaften, erwachsen sind, ist, nach Fon­tanes Worten, ein weites Feld. Es kann deshalb in einem Vor­trag unmöglich behandelt werden. Wir können nur darauf hinweisen, daß die den Stoffwechsel mit der Natur beeinflus­senden Erkenntnisse von den teleologischen Setzungen, die zu fundieren sie entstanden sind, leichter ablösbar sein müssen, als jene, die auf das Beeinflussen von Menschen und Menschen­gruppen gerichtet sind. Hier ist die Beziehung zwischen Zweck und erkenntnismäßiger Begründung viel intimer. Diese Fest­stellung soll aber keineswegs zu einer erkenntnistheoretischen Uberspannung von Einheitlichkeit oder absoluter Differenz führen. Es sind ontologische Gemeinsamkeiten und Unter­schiede gleichzeitig vorhanden, die nur in einer konkreten ge­sellschaftlich-geschichtlichen Dialektik ihre Lösung finden können.

Hier konnte bloß auf das gesellschaf tlich-ontologische Funda­ment hingewiesen werden. Jedes gesellsdiaftliche Geschehen entspringt aus teleologischen Einzelsetzungen, ist aber selbst rein kausalen Charakters. Die teleologische Genesis hat natur­gemäß wichtige Konsequenzen für alle gesellschaftlichen Pro­zesse. Einerseits können Gegenstände mit all ihren Folgen ent­stehen, die die Natur selbst nie hätte produzieren können; man denke, um auch diesen Tatbestand auf primitiver Stufe aufzu­zeigen, etwa an das Rad. Andererseits entwickelt sich jede Ge­sellschaft dahin, daß die Notwendigkeit aufhört, mechanisch­spontan zu wirken, ihre typische Erscheinungsweise wird im­mer stärker, die Menschen zu bestimmten teleologischen Ent­scheidungen je nach dem zu veranlassen, zu drängen, zu pres­sen etc. oder von ihnen abzuhalten.

Der Gesamtprozeß der Gesellschaft ist ein kausaler, der seine eigenen Gesetzlichkeiten hat, nie aber ein objektives Gerichtet­sein auf Ziele. Auch wo es Menschen oder Menschengruppen gelingt, ihre Zielsetzungen zu verwirklichen, bringen die Er­gebnisse der Regel nach etwas vom Gewollten durchaus Ver­schiedenes hervor. (Man denke daran, daß die Entwicklung der Produktivkräfte in der Antike die Grundlagen der Gesellschaft zersetzte, daß sie in einem bestimmten Stadium des Kapitalis­mus periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen hervorrief usw. usw.) Diese innere Diskrepanz zwischen den teleologischen Setzungen und ihren kausalen Folgen steigert sich mit dem Wachstum der Gesellschaften, mit der Intensivierung des ge­sellschaftlich-menschlichen Anteils an ihnen. Natürlich muß auch dies in seiner konkreten Widersprüchlichkeit verstanden werden. Bestimmte große ökonomische Ereignisse (man denke etwa an die Krise von 1929) können mit dem Schein einer un­widerstehlichen Naturkatastrophe auftreten. Die Geschichte zeigt aber, daß gerade in den größten Umwälzungen, man denke an die großen Revolutionen, die Rolle dessen, was Lenin den subjektiven Faktor zu nennen pflegte, gerade sehr bedeu­tend war. Die Verschiedenheit der Zielsetzungen und ihrer Folgen äußert sich allerdings als faktisches Übergewicht der materiellen Elemente und Tendenzen im Reproduktionspro­zeß der Gesellschaft. Das bedeutet jedoch nie, daß dieser sich stets zwangsläufig, keine Widerstände duldend, durchsetzen könnte. Der subjektive Faktor, entsprungen aus der mensch­lichen Reaktion auf solche Bewegungstendenzen, bleibt auf vie­len Gebieten ständig ein zuweilen modifizierender, zuweilen sogar ausschlaggebender Faktor.

III.

Wir haben zu zeigen versucht, wie die entscheidenden Kate­gorien und ihre Zusammenhänge im gesellschaftlichen Sein bereits in der Arbeit gegeben sind. Der Umfang dieses Vor­trags gestattet nicht den stufenweisen Aufstieg von der Arbeit bis zur Totalität der Gesellschaft, auch nur andeutend zu ver­folgen. (Wir können z. B. auf so wichtige Übergänge wie vom Gebrauchswert zum Tauschwert, wie von diesem zum Geld etc. gar nidit eingehen.) Meine Hörer müssen mir also gestatten - um die Bedeutung der bisher skizzierten Ontologien schon für die Gesamtgesellschaft, ihre Entwicklung, deren Perspek­tiven wenigstens andeutend aufzuzeigen - sachlich höchst be­deutende Vermittlungsgebiete einfach zu überspringen, um wenigstens den allerallgemeinsten Zusammenhang dieses ge­netischen Anfangs von Gesellschaft und Geschichte mit ihrer Entwicklung selbst etwas deutlicher ins Licht treten zu lassen. Vor allem kommt es darauf an, zu sehen, worin jene ökonomi­sche Notwendigkeit besteht, die Freunde und Feinde von Marx am Gesamtbild seines Werks mit so wenig Verständnis zu lob­preisen oder verächtlich zu machen pflegen. Gleich eingangs soll die Selbstverständlichkeit, daß es sich nicht um einen natur­haft notwendigen Prozeß handelt, betont werden, obwohl Marx selbst, mit dem Idealismus polemisierend, zuweilen solche Ausdrücke gebraucht. Auf den fundamentalen ontologischen Grund - Kausalität, in Gang gebracht durch teleologische Alter­nativentscheidungen - haben wir ja bereits nachdrücklich hin­gewiesen. Das hat zur Folge, daß unsere positiven Erkenntnisse darüber im konkret Wesentlichen einen post-festum-Charak-ter haben müssen. Es werden natürlich generelle Tendenzen sichtbar, diese setzen sich aber konkret derart ungleichmäßig durch, daß wir zumeist nur ein nachträgliches Wissen über ihre konkrete Beschaffenheit erlangen können: die Verwirk­lichungsweisen der differenzierteren, komplexeren gesellschaft­lichen Gebilde zeigen in den meisten Fällen erst deutlich, wohin die Entwicklungsrichtung einer Übergangsperiode wirklich ging. Genau lassen sich solche Tendenzen also erst nachträglich erfas­sen; die inzwischen gebildeten und für die Entfaltung der Ten­denzen selbst keineswegs ganz gleichgültigen gesellschaftlichen Einsichten, Bestrebungen, Voraussichten etc. erhalten ebenfalls erst nachträglich ihre Bestätigung, bzw. Widerlegung. In der bisherigen ökonomischen Entwicklung können wir drei solche Entwicklungsrichtungen wahrnehmen, die sich, freilich oft sehr ungleichmäßig, aber doch unabhängig vom Wollen und Wissen, die den teleologischen Setzungen zugrunde lagen, offenkundig durchgesetzt haben.

Erstens vermindert sich die zur Reproduktion der Menschen gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit tendenziell stetig. Diese Tatsache wird heute als Generaltendenz niemand mehr bestreiten.

Zweitens ist dieser Reproduktionsprozeß selbst immer stärker gesellschaftlich geworden. Wenn Marx von einem ständigen »Zurückweichen der Naturschranke« spricht, so meint er einer­seits, daß das Basiertsein des mensdilichen (und daher des ge­sellschaftlichen) Lebens auf Naturprozesse nie ganz aufhören kann, andererseits, daß der quantitative wie qualitative Anteil des bloß Naturhaften sowohl in der Produktion wie in den Pro­dukten stets abnimmt, daß alle entscheidenden Momente der menschlichen Reproduktion - man denke an derart naturhafte wie Ernährung oder Geschlechtlichkeit - immer mehr gesellschaftliche Momente in sich aufnehmen, von ihnen ständig und wesentlich transformiert werden.

Drittens schafft die ökonomische Entwicklung ebenfalls im­mer entschiedenere quantitative wie qualitative Verbindungen zwischen den einzelnen, ursprünglich ganz kleinen, selbstän­digen Gesellschaften, aus denen das Menschengeschlecht an­fangs objektiv real bestand. Die sich heute immer stärker realisierende ökonomische Vorherrschaft des Weltmarkts zeigt bereits eine - wenigstens allgemein ökonomisch - vereinheit­lichte Menschheit. Das Vereinigtsein besteht allerdings nur als ein Sein und Wirksamwerden von realen ökonomischen Ein­heitsprinzipien. Es verwirklicht sich konkret in einer Welt, in der diese Integration für das Leben der Menschen und Völker die schwierigsten, zugespitztesten Konflikte aufwirft. (Negerfrage in den USA)

Es handelt sich in allen diesen Fällen um entscheidend wich­tige Tendenzen der äußeren wie inneren Umgestaltung des gesellschaftlichen Seins, durch welche dieses seine eigentliche Gestalt erhält, daß nämlich der Mensch aus einem Naturwesen zur menschlichen Persönlichkeit, aus einer relativ hochent­wickelten Tiergattung zum Menschengeschlecht, zur Mensch­heit geworden ist. All dies ist das Produkt der im Komplex der Gesellschaft entstehenden Kausalreihen. Der Prozeß selbst hat kein Ziel. Seine Höherentwicklung beinhaltet deshalb das Wirksam werden immer höher gearteter, immer fundamen­talerer Widersprüchlichkeiten. Der Fortschritt ist zwar eine Zusammenfassung menschlicher Tätigkeiten, aber nie ihre Vollendung im Sinne irgendwelcher Teleologie: darum werden von dieser Entwicklung primitive, noch so schöne, aber öko­nomisch bornierte Vollendungen immer wieder zerstört; darum erscheint der objektiv ökonomische Fortschritt stets in der Form neuer gesellschaftlicher Konflikte. So entstehen aus der ur­sprünglichen Gemeinschaft der Menschen die unlösbar schei­nenden Antinomien der Klassengegensätze; darum sind auch die ärgsten Formen der Unmenschlichkeit Ergebnisse eines sol­chen Fortsdiritts. So ist in den Anfängen die Sklaverei ein Fort­schritt dem Kannibalismus gegenüber; so ist heute die All­gemeinheit der Entfremdung der Menschen ein Symptom da­für, daß die ökonomische Entwicklung das Verhältnis des Men­schen zur Arbeit zu revolutionieren im Begriffe ist.

Einzelheit ist bereits eine Naturkategorie des Seins und Gattung ist es gleichfalls. Diese beiden Pole des organischen Seins kön­nen ihrer Selbsterhöhung zur menschlichen Persönlichkeit und zur Menschengattung im gesellschaftlichen Sein nur simultan, nur im Prozeß des immer Gesellschaftlicherwerdens der Gesell­schaft erhalten. Der Materialismus vor Marx kam hier nicht einmal bis zur Fragestellung. Für Feuerbach gibt es, nach dem kritischen Vorwurf von Marx, nur das isolierte menschliche Individuum auf der einen und eine stumme, die vielen Einzel­nen nur naturhaft verbindende Gattung auf der anderen Seite. Die Aufgabe einer historisch gewordenen materialistischen Ontologie ist es dagegen, die Genesis, das Wachstum, die Wider­sprüche innerhalb der einheitlichen Entwicklung aufzudecken; zu zeigen, daß der Mensch, als Produzent und zugleich als Pro­dukt der Gesellschaft, im Menschsein etwas Höheres verwirk­licht, als bloß einzelnes Exemplar einer abstrakten Gattung zu sein, daß Gattung auf diesem Seinsniveau, auf dem des ent­wickelten gesellschaftlichen Seins, keine bloße Verallgemeine­rung mehr ist, deren Exemplare ihr »stumm« zugeordnet blei­ben, daß sie sich vielmehr zu einer immer deutlicher artikulie­renden Stimme erheben, zur seiend-gesellschaftlichen Synthese der Individualitäten gewordenen Einzelnen mit der in ihnen selbstbewußt gewordenen Menschengattung.

IV.

Als Theoretiker dieses Seins und Werdens zieht Marx alle Fol­gerungen aus der historischen Entwicklung. Er stellt fest, daß die Menschen mittels der Arbeit sich selbst zu Menschen mach­ten, daß aber die bisherige Geschichte doch nur eine Vorge­schichte der Menschheit ist. Die echte Geschichte kann erst mit dem Kommunismus als mit dem höheren Stadium des Sozia­lismus beginnen. Der Kommunismus ist also bei Marx keine utopisch-gedankliche Vorwegnahme eines zu erreichenden Zu-stands der erdachten Vollendung, sondern im Gegenteil der reale Beginn der Entfaltung jener echt menschlichen Kräfte, die die bisherige Entwicklung als wichtige Errungenschaften der Menschwerdung hervorgebracht, reproduziert, widerspruchs­voll höherentwickelt hat. All dies ist die Tat der Menschen selbst, das Ergebnis ihrer eigenen Tätigkeit. »Die Menschen machen ihre Geschichte selbst«, sagt Marx, »aber nicht unter selbstgewählten Umständen.« Das bedeutet dasselbe, was wir früher so formuliert haben, daß der Mensch ein antwortendes Wesen ist. Es spricht sich hier die dem gesell­schaftlichen Sein widerspruchsvoll-untrennbar innewohnende Einheit von Freiheit und Notwendigkeit aus, die bereits in der Arbeit als untrennbar-widersprüchliche Einheit der teleolo­gischen Altemativentscheidungen mit den unaufhebbar kausal­zwangsläufigen Voraussetzungen und Folgen wirksam war. Eine Einheit, die sich auf allen gesellschaftlich persönlichen Ebenen der menschlichen Aktivität in immer neuen, immer verwickeiteren und vermitteiteren Formen stets neu repro­duziert.

Darum spricht Marx von der Periode des Anfangs der echten Menschheitsgeschichte als von einem »Reich der Freiheit«, das aber »nur auf jenem Reich der Notwendigkeit« (der ökono­misch-sozialen Reproduktion der Menschheit, der objektiven Entwicklungstendenzen, auf die wir früher hingewiesen haben) »als seiner Basis aufblühen kann«.

Gerade diese Gebundenheit des Reichs der Freiheit an seine gesellschaftlich-materielle Basis, an das ökonomische Reich der Notwendigkeit zeigt die Freiheit des Menschengeschlechts als Ergebnis seiner eigenen Tätigkeit auf. Freiheit, auch ihre Möglichkeit, ist weder etwas Naturgegebenes, noch ein Ge­schenk von »oben«, auch kein Bestandteil - rätselhaften Ur­sprungs - des menschlichen Wesens. Es ist das Produkt der menschlichen Tätigkeit selbst, die zwar konkret stets anderes erzielt, als sie gewollt hat, jedoch in ihren realen Folgen - ob­jektiv - den Spielraum der Freiheitsmöglichkeit doch ständig ausdehnt. Und zwar unmittelbar im ökonomischen Entwick­lungsprozeß, indem sie einerseits Zahl, Tragweite etc. der menschlichen Alternativentscheidungen ausdehnt, andererseits die Fähigkeiten der Menschen durch Steigerung der ihnen von ihrer Tätigkeit her gestellten Aufgaben ebenfalls erhöht. Das liegt natürlich noch alles im »Reich der Notwendigkeit«. Die Entwicklung des Arbeitsprozesses, des Tätigkeitsfeldes, hat aber auch andere, indirektere Folgen: vor allem die Entstehung und Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Diese hat die Fähigkeitssteigerungen zur unvermeidlichen Basis, ist aber keineswegs deren einfache, geradlinige Fortführung. Ja in der bisherigen Entwicklung besteht zwischen ihnen oft sogar vor­herrschend ein Verhältnis der Gegensätzlichkeit. Dieses ist auf den verschiedenen Etappen der Entwicklung verschieden, ver­schärft sich jedoch mit ihrer Höhe. Heute scheint die sich immer stärker differenzierende Fähigkeitsentwicklung geradezu als Hindernis des Persönlichkeitwerdens zu wirken, als Vehikel zur Entfremdung der menschlichen Persönlichkeit. Schon mit der primitivsten Arbeit hört die Gattungsmäßigkeit der Menschen auf, stumm zu sein. Sie erreicht aber zunächst und unmittelbar bloß ein Ansichsein: das tätige Bewußtsein über den jeweils vorhandenen, ökonomisch fundierten gesellschaftlichen Zusammenhang. So groß die Fortschritte der Ge-sellscliaftlichkeit auch geworden sind, so weit sich ihr Horizont auch ausgedehnt hat, das generelle Bewußtsein des Menschen­geschlechts hat diese Partikularität des jeweils gegebenen Stan­des für Mensch und Gattung noch nicht überschritten. Dennoch verschwand auch die höhere Gattungsmäßigkeit nie­mals völlig von der Tagesordnung der Geschichte. Marx be­stimmt das Reich der Freiheit als eine »menschliche Kraftent­wicklung, die sich als Selbstzweck gilt«, die also für Einzel­mensch wie Gesellschaft gehaltvoll genug ist, um als Selbst­zweck zu gelten. Es ist vorerst klar, daß eine solche Gattungs­mäßigkeit eine bis jetzt noch bei weitem nicht erreichte Höhe des Reichs der Notwendigkeit voraussetzt. Erst wenn die Arbeit wirklich völlig von der Menschheit beherrscht wird, erst wenn ihr deshalb bereits die Möglichkeit innewohnt, »nicht nur Mittel zum Leben« zu sein, sondern »erstes Lebensbedürfnis«, erst wenn die Menschheit jeden Zwangscharakter der eigenen Selbstreproduktion überholt hat, ist der gesellschaftliche Weg für menschliche Tätigkeit als Selbstzweck freigelegt. Freilegen heißt: die notwendigen materiellen Bedingungen herbeizuschaffen; einen Möglichkeitsspielraum für die freie Selbstbetätigung. Beide sind Produkte der menschlichen Tätig­keit. Die erste aber die einer notwendigen Entwicklung, die zweite des richtigen, menschenwürdigen Gebrauchs des not­wendig Hervorgebrachten. Die Freiheit selbst kann nicht bloß ein notwendiges Produkt einer zwangsläufigen Entwicklung sein, auch wenn alle Voraussetzungen ihrer Entfaltung erst in dieser die Möglichkeiten ihres Seiendwerdens erhalten. Darum handelt es sich hier nicht um eine Utopie. Denn erstens sind sämtliche realen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung von einem notwendigen Prozeß hervorgebracht. Nicht umsonst wurde ein so großes Gewicht auf das Freiheitsmoment in den Alternativentscheidungen bereits der anfänglichsten Arbeit ge­legt. Der Mensch muß seine Freiheit durch eigene Tat erwerben. Er kann es aber nur tun, weil jede seiner Tätigkeiten bereits ein Moment der Freiheit als notwendigen Bestandteil mitent­hielt.

Es handelt sich jedoch um weitaus mehr. Wenn dieses Moment nicht im Laufe der ganzen Menschheitsgeschichte ununterbro­chen auftreten, wenn es nicht eine fortlaufende Kontinuität in ihr bewahren würde, könnte es natürlich auch bei der großen Wendung nicht die Rolle des subjektiven Faktors spielen. Die widerspruchsvolle Ungleichmäßigkeit der Entwicklung selbst hat aber stets solche Folgen gehabt. Schon der rein kausale Charakter der Folgen der teleologischen Setzungen läßt jeden Fortschritt als Einheit in der Gegensätzlichkeit von Fortschritt und Rückschritt in die Welt treten. Mit den Ideologien wird dies nicht nur zur Bewußtheit (oft zu einer falschen Bewußtheit) erhoben und den jeweils gegensätzlichen gesellschaftlichen In­teressen entsprechend ausgefochten, sondern immer wieder auch auf die Gesellschaften als lebendige Totalitäten, auf die Men­schen als ihren wahren Weg suchenden Persönlichkeiten bezo­gen. In bedeutenden Einzeläußerungen kommt also das-bisher immer fragmentarische - Bild einer Welt der menschlichen Tä­tigkeiten, die wert ist, als Selbstzweck zu gelten, immer wieder zum Ausdruck. Ja es ist bemerkenswert, daß, während die mei­sten, in ihrer Zeit epochemachenden praktischen Neuordnungen spurlos aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwinden, diese praktisch notwendig vergeblichen, oft zum tragischen Unter­gang verurteilten Ansätze vielfach unausrottbar in der Erinne­rung der Menschheit lebendig erhalten bleiben. Das Bewußtsein des besten Teils der Menschen, die im Prozeß des echten Menschwerdens einen Schritt weiter zu gehen im­stande sind, als die meisten ihrer Zeitgenossen, gibt bei aller praktischen Problematik ihren Äußerungen eine solche Dauer. Es kommt in ihnen eine Verbundenheit von Persönlichkeit und Gesellschaft zum Ausdruck, die gerade auf diese vollentwickelte Gattungsmäßigkeit des Menschen intentioniert. Durch ihre Bereitschaft, in den Krisen der normal erreichten Möglichkeiten der Gattung ein inneres Weitergehen in Angriff zu neh­men, helfen sie, bei dem materiellen Erfülltsein der Möglich­keiten einer Gattungsmäßigkeit für sich, diese real herbeizu­führen.

Die meisten Ideologien standen und stehen im Dienst der Er­haltung und Entwicklung der Gattungsmäßigkeit an sich. Sie sind deshalb stets aufs Konkret-Aktuelle ausgerichtet, mit ge­wollt verschiedenen Arten des aktuellen Ausfechtens ausge­rüstet. Nur die große Philosophie und die große Kunst (sowie die beispielgebenden Verhaltensweisen einzelner handelnder Menschen) wirken in dieser Richtung, werden ohne Zwang im Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt, akkumulieren sich als Bedingungen einer Bereitschaft: die Menschen für ein Reich der Freiheit innerlich vorzubereiten. Es handelt sich dabei vor allem um ein gesellschaftlich-menschliches Ablehnen jener Ten­denzen, die dieses Menschwerden des Menschen gefährden. Der junge Marx hat z. B. in der Herrschaft der Kategorie des »Habens« eine solche zentrale Gefahr erkannt. Nicht zufällig gipfelt der menschliche Befreiungskampf bei ihm in der Per­spektive, daß die menschlichen Sinne zu Theoretikern werden sollen. Es ist also sicher kein Zufall, daß neben den großen Philosophen Shakespeare und die griechischen Tragiker eine so große Rolle in der geistigen Formation und in der Lebensfüh­rung von Marx spielten. (Auch die Einschätzung der Appassio-nata bei Lenin ist keine zufällige Episode.) In ihnen kommt zum Ausdruck, daß die Klassiker des Marxismus, im Gegensatz zu ihren auf exaktes Manipulieren eingestellten Epigonen, die besondere Art der Verwirklichbarkeit des Reichs der Freiheit nie aus den Augen verloren haben. Freilich wußten sie ebenso klar die unentbehrlich fundierende Rolle des Reichs der Not­wendigkeit einzuschätzen.

Heute, bei einem Erneuerungsversuch der Marxschen Ontologie, muß beides festgehalten werden: die Priorität des Materiellen im Wesen, in der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Seins, aber zugleich damit die Einsicht, daß eine materialistische Auffassung der Wirklichkeit nichts mit der heute üblichen Kapitulation vor objektiven wie subjektiven Partikularitäten gemein hat.

Editorische Hinweise

Der Vortrag gehört zu den Vorarbeiten von  "Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins" (1971)  Vollausgabe: 1984/86 (Werke 13-14) siehe dazu auch: Erich Hahn: Georg Lukács – eine marxistische Ontologie.

Der Vortrag sollte ursprünglich auf dem 14. Internationalen Kongress für Philosophie am 2.9.-9.9.1968 in Wien gehalten werden. Sein Manuskript wurde 1969 in die Festschrift für Eduard Reifferscheid, dem Betreiber des Luchterhand Verlags zum 70. Geburtstag aufgenommen.