Marxismus und/oder Feminismus
Thesen aus dem Vortrag bei der Gruppe "Revolutionäre Perspektive Berlin"

von Detlef Georgia Schulze

04-2015

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Vorbemerkung: Die Gruppe Revolutionäre Perspektive Berlin (RPB) (*) hat einen Audio-Mitschnitt meines Vortrages veröffentlicht, den ich am 10. März 2015 bei deren Tresenabend zum Thema „Frauenkampf heißt Klassenkampf?“ gehalten hatte: http://www.perspektive.nostate.net/480. Der – eine ¾ Stunde + 20 Minuten Diskussion dauernde – Vortrag enthielt u.a. folgende Thesen:

I. Einleitung

I.1. Die marxistische Monotonie

These: Die meisten Marxisten und auch Marxistinnen, soweit sie nicht zugleich Feministinnen sind, haben – ungeachtet aller sonstigen Differenzen zwischen ihnen vergleichsweise wenig zum Geschlechterverhältnis zu sagen, und das, was sie dazu zu sagen haben, ist ziemlich monoton: nämlich die Ableitung der ‚Knechtung der Frauen’ (Engels) aus der Entstehung des Privateigentums und folglich die Unterordnung von Frauenkämpfen unter Klassenkämpfe.

I.2. Die weitergehenden Fragen des Feminismus

These: Feministisches Frage fängt dagegen gerade erst dort an, wo der Marxismus mit dem Fragen schon aufhört. Z.B.: Warum wurden gerade Männer in frühen Gesellschaften Privateigentümer von Vieh und SklavInnen? Ist das Patriarchat wirklich eine Folge der Entstehung von Privateigentum? Oder wurden Männer Eigentümer dieser Produktionsmittel, weil es sich eh schon um patriarchale Gesellschaften handelte? Und war es überhaupt so, daß ausschließlich Männer Eigentum an SklavInnen haben konnten?

I.3. Einige hilfreiche Unterscheidungen

These: Marxismus und Feminismus sind sowohl engere Begriffe als Arbeiter- und Frauenbewegung, als auch engere Begriffe als Klassen- und Geschlechterverhältnisse.

I.4. Feminismus im strengen Sinne

These: Feminismus ist jedenfalls nicht nur und vielleicht gerade nicht, der Kampf um bloße „Gleichberechtigung“. Vielmehr analysiert Feminismus das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis – und zwar als Herrschaftsverhältnis zwischen Männern und Frauen. Dies schließt ein, dieses Herrschaftsverhältnis in seiner relativen Unabhängigkeit von den Klassenverhältnissen zu analysieren und neue Begriffe, wie Sexismus, in die politische und Gesellschaftstheorie einzuführen und neue Bereiche, wie Sexualität, für diese zu erschließen. Weit davon entfernt, Männerverhalten und Männereinstellungen verallgemeinern zu wollen, bestreitet Feminismus die Maßgeblichkeit und Maßstäblichkeit von Männern, Männerverhalten und Männereinstellungen für Frauen.

In diesem Sinne kann von Feminismus, wie wir ihn heute verstehen, erst ab der sog. zweiten Welle der Frauenbewegung seit der zweiten Hälfte der 1960er gesprochen werden.

II. Hauptteil

II.1. Das marxistische Verhältnis zum Feminismus

These: MarxistInnen hatten und haben zwar ein zutreffendes intuitives Gespür dafür, daß der Feminismus eine politische Bedrohung für den Marxismus – für seinen Monopolanspruch in Sachen Gesellschaftstheorie und sozialer Emanzipation – darstellt. Aber mir scheint: Im Großen und Ganzen haben die meisten – der heute nur noch sehr wenigen – MarxistInnen auch im Jahre 2015 weiterhin weder verstanden, aus welchen gesellschaftlichen und politischen Gründen ihnen seit den 1960er Jahren – nicht nur in Sachen Geschlechterverhältnis, sondern auch in Sachen Rassismus, gay and lesbians issues und Ökologie (um nur einige Beispiele zu nennen) – eine solche Bedrohung erwachsen ist; noch haben sie sich auch nur bemüht, die theoretischen Argumente dieser damals neuen politischen und theoretischen Ansätze zu verstehen.

Es gibt zwar zahlreiche marxistische Polemiken gegen den Feminismus und einzelne feministische Positionen und mehr noch gegen das, was MarxistInnen für „feministisch“ halten, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung von MarxistInnen (Marxistinnen, die zugleich Feministinnen sind, ausgenommen) mit dem Feminismus als Theorie. Eins solche ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Feminismus als Theorie müßte zunächst einmal die Bedeutung der von Feministinnen neu eingeführten Begriffe, d.h.: deren – impliziten oder expliziten – Definitionen und die Art und Weise, in der sie mit einander verknüpft sind, zur Kenntnis. Aber schon daran fehlt es bei den meisten marxistischen Polemiken gegen den Feminismus. Deshalb greifen sie nicht durch, sondern verfehlen das Objekt, das sie zu treffen versuchen.

II.1.1. Der liberale Feminismus

These: Wenn der Marxismus überhaupt ein nahes Verhältnis zu irgendeinem Feminismus hat, dann ausgerechnet zum liberalen Feminismus. Denn, daß Frauen das gleiche Wahlrecht wie Männer haben sollen, daß sie den gleichen Zugang zu Berufen (im Kapitalismus: zu Lohnarbeit) haben sollen usw. – das unterschreiben auch die größten AntifeministInnen unter den MarxistInnen. Zugleich stehen Marxistinnen keinem Feminismus so fern, wie dem liberalen Feminismus: Denn zu dem Herzensanliegen von MarxistInnen – den Klassenverhältnissen – haben Liberale (seien es Feministinnen oder nicht) nichts oder aber nur Affirmatives zu sagen.

II.2.2. Der Radikalfeminismus

These: Die marxistische Reaktion auf den Radikalfeminismus mußte umso aversiver oder umso mehr von Unverständnis geprägt sein: Denn dieser griff den Marxismus auf seinem eigenen Feld (Werttheorie; Bestimmung des revolutionären Subjekts) an: Die Hausfrauen, die die Arbeitskraft der LohnarbeiterInnen überhaupt erst (re)produzieren, seien die wahren Produzentinnen des Mehrwertes und daher das wahre revolutionäre Subjekt, daß die ‚historische Mission’ habe, ‚die Menschheit’ zu befreien.

II.2.3. Der sozialistische Feminismus

These: Die sozialistischen Feministinnen ließen dagegen die marxistische Terminologie auf dem Feld der Klassenverhältnisse weitgehend unberührt: Der Mehrwert, z.B., wurde auch für sie in der Lohnarbeit und nicht in der Hausarbeit produziert; der Frauenkampf war für sie auch nicht wichtiger oder grundlegender als der Klassenkampf. Insofern hätte sich also durchaus ein gewisses Näheverhältnis zwischen sozialistischen Feministinnen und nicht-feministischem Marxismus ergeben können. Aber die sozialistischen Feministinnen ergänzten die marxistische Analyse der Klassenverhältnisse um eine parallele (eigenständige), materialistische Analyse der Geschlechterverhältnisse (geschlechtshierarchische Teilung sowohl [in] der Haus- als auch Erwerbsarbeit etc.). Schon dies war für den nicht-feministischen Marxismus zuviel – zuviel, zu akzeptieren, daß Mehrwertproduktion nicht die einzige Produktion; daß Klassenkampf nicht der einzige Kampf ist.

II.2.4. Exkurs 1: Feminismus-Rezeption in der autonomen (und antiimperialistischen) Szene der 1980er und frühen 1990er Jahre

These: Was des weiteren die Feminismus-Rezeption in Teilen der autonomen und antiimperialistischen Szene der späten 80er- und frühen 90er Jahre (die ihrerseits ein höchst prekäres Verhältnis zum Marxismus hatte und weiterhin hat) anbelangt, so war sie damals vor allem auf den Radikalfeminismus, insbesondere in Form des sog. Bielefelder Ansatzes der Entwicklungssoziologinnen Maria Mies, Veronika Bennhold-Thomsen und Claudia von Werlhof bezogen. Der Bielefelder Ansatz zeichnet sich u.a. durch eine starke analytische und politische Fokussierung auf die trikontinentale Subsistenzproduktion – also Produktion ausschließlich für den eigenen Bedarf und nicht für den kapitalistischen Markt – aus. Damit war der Bielefelder Ansatz für die autonome Kampagne gegen die IWF/Weltbank-Tagung 1988 in Westberlin als Alternative zur mainstream-marxistische Fokussierung auf die – als ‚integriert’ angesehene IndustriearbeiterInnenschaft und die sozialdemorkatisch dominierten – Gewerkschaften interessant. Diesem autonomen Interesse an dem Bielfelder Ansatz tat auch keinen Abbruch, daß Claudia von Werlhof 1981 in der taz eine Polemik gegen die Frauen aus den Revolutionären Zellen – später Rote Zora (s. dazu sogleich) – veröffentlicht hatte.

II.2.5. Exkurs 2: Der feministische Teil der Stadtguerilla

These: Die Rote Zora hat sich selbst nie explizit in eine spezielle der verschiedenen feministischen Strömungen einsortiert. Aber ich verstehe die Rote Zora-Äußerungen in ihrem Selbstinterview, das 1984 in der Emma erschien. als eher sozialistisch-feministisch und die Äußerungen in ihrem Papier Mili’s Tanz auf dem Eis von 1993 als eine gemäßigte Version von Differenzfeminismus.

II.2.6. Gleichheits- und Differenzfeminismus

These: Im übrigen trat in den 1980er Jahren – an Stelle der Dreiteilung der 70er Jahre (liberaler, sozialistischer und Radikalfeminismus) – eine Zweiteilung in Gleichheits- und Differenzfeminismus, wobei liberaler und sozialistischer Feminismus eher Varianten des Gleichheitsfeminismus und der Differenzfeminismus eher ein neuer Name für den Radikalfeminismus war.

Der Gleichheitsfeminismus blieb – wie es Cornelia Eichhorn später rückblickend ausdrückte – „implizit auf männliche und eurozentristische Normen fixiert“ und schrieb diese fort. Der Differenzfeminismus perpetuierte demgegenüber „biologistische und kulturalistische Zuschreibungen […], die erst die Unterdrückung von Frauen absichern. […]. Ein Ausweg aus dem […] Dilemma, sich immer entweder auf eine essentielle Ursprünglichkeit der Differenz oder aber auf eine die Evidenz der Differenz leugnende Egalität im Menschsein berufen zu müssen, schien […] noch nicht in Sicht.“

II.2.7. Der de-konstruktivistische Feminismus

These: Ein Ausweg aus diesem Dilemma bot in den 1990er Jahren dann der de-konstruktivistische Feminismus, indem er die Differenz weder leugnete noch essentialisierte, sondern als hergestellte analysiert. Und wiederum läßt sich ein paradoxes Verhältnis von Nähe und Distanz zum Marxismus feststellen.

Eine Nähe besteht auf der Ebene der Metaphysik-Kritik:

  • Karl Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie bestand unter anderem in dem Argument: Auch wenn es schon immer ProduzentInnen, schon immer Produktionsmittel, schon immer Produktionsrohstoffe und schon immer Produktionsergebnisse gab, so waren doch die Arbeitskraft der ProduzentInnen sowie die Produktionsmittel und Rohstoffe nicht schon immer variables und konstantes Kapital und die Produkte nicht schon immer Waren – und sie müssen es auch nicht für alle Zukunft bleiben. Eine kommunistische Welt ist möglich.

  • Und der Gedankengang von Judith Butler ist ein ganz ähnlicher: Auch wenn es schon immer Menschen mit Vaginas und schon immer Menschen mit Penissen gab und auch einige wenige (und weniger beachtete), die – ich beschreibe das vielfältige Phänomen der Intersexualität (im Volksmund: „Zwitter“) der Kürze halber hier sehr schematisch – sowohl eine Vagina als auch einen Penis haben, so ist doch die Vereinheitlichung der Personen mit Vagina zum Geschlecht „Frauen“ und die Vereinheitlichung der Menschen mit Penis zum Geschlecht „Männer“ und die zwangsweise, operative Vereindeutigung von Intersexuellen kein natürliches Verhältnis, kein biologisches Verhältnis, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis. Eine Gesellschaft ohne Geschlechter; ein Postpatriarchat ist möglich.

Während der De-Konstruktivismus als Metaphysik-Kritik durchaus in der Tradition des dialektischen Materialismus steht, ist seine starke Diskursorientierung ein Problem für den historischen Materialismus. Zwar gibt es diverse Stellen, an denen sich Judith Butler bspw. gegen einen ‚linguistizistischen Monismus’ – also dagegen, das Sprachliche zur einzigen Ursache von allem zu machen – wendet und in denen sie auf den gewaltsamen Charakter der bestehenden Geschlechterordnung hinweist und Äußerungen von Marx und Engels zum materiellen Charakter der Reproduktion zustimmend zitiert… – und doch gibt es aber eine Reihe von Formulierungen, in den De-KonstruktivistInnen die Existenz einer materiellen Realität bzw. deren objektive Erkennbarkeit zu bestreiten scheinen.

II.2.8. Berliner Lokalkolorit: „Queerfeminismus“

These: Die Berliner möchte-gern-linksradikale Queer-Szene meint sich zwar auf den internationalen de-konstruktivistischen Feminismus berufen zu können. Während aber der de-konstruktivistischen Feminismus die gesellschaftliche Herstellung von Geschlechtern als Gruppen analysiert, faßt der Berliner „Queerfeminismus“ das individuelle Geschlecht als individuelle Wahl auf. Der Essentialismus wird nicht überwunden, sondern vervielfacht; revolutionäre Praxis durch Individualismus ersetzt. Es wird nicht mehr – wie es für grundlegende Gesellschaftsveränderung notwendig wäre – in erster Linie über Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, nicht mehr in erster Linie über gesellschaftliche Strukturen und wie Individuen darin positioniert sind, sondern in erster Linie über Individuen und deren Befindlichkeiten geredet.

Der Blick in erster Linie auf Strukturen und erst in zweiter Linie auf die darin positionierten Individuen wird als Verfehlung der essentiellen Einzigartigkeit und Maßstäblichkeit der Individuen und deren je individuellen Sichtweisen verworfen; die Kritik richtet sich nicht gegen Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen, sondern gegen Versuche, sie zu analysieren und zu bekämpfen.

III. Traditionelle „sozialistische Frauenbewegung“

These: Der Schwachpunkt der traditionellen sozialistischen Frauenbewegung lag darin, daß sie keine Frauenbewegung, sondern bloß der weibliche Teil der ArbeiterInnenbewegung war.

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Demnächst wird auch noch eine – um Fußnoten/Literaturangaben, drei Anhänge und Schlußfolgerungen/Schlußthesen ergänzte – schriftliche Fassung des Vortrages zur Verfügung stehen.

Vorab schon mal ein paar ergänzende Literaturhinweise zur hiesigen These II.2.8.:

  • Sieben einfache, grundlegende und politische Fragen an alle queeren GenossInnen

http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=17176&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=3ab3a0df76; zusammen mit engl. Übersetzung in einer Datei: http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Sieben_einfache_Fragen_dt_engl.pdf

  • Eine revolutionär-feministische Perspektive auf die „linksradikale, queerfeministische Perspektive“ auf den 8. März [2014]

https://linksunten.indymedia.org/de/node/108153

  • Worum geht es eigentlich dem transgenialen CSD? Eine feministisch-kommunistische Kritik

http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Worum_geht_es_dem_transgenialen_CSD_eigentlich.pdf / http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/04/19/worum-geht-es-eigentlich-dem-transgenialen-csd/

  • Diesseits der Geschlechtergrenzen: Die Kulturalisierung des Feminismus als Naturalisierung der Geschlechterdifferenz – nebst einem Vorschlag, wie revolutionär Abhilfe zu schaffen ist [Vortrag an der Universität Hamburg; Audio-Mitschnitt vom Hamburger Freien Sender Kombinat (FSK) veröffentlicht]

http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000004728

  • queere Globalisierung & imperialen Begehrens [Anmerkungen zu einer Veranstaltungs-Ankündigung und – im Kommentar unter dem Artikel – Bericht von dieser Veranstaltung]

http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/05/05/heute-5-5-11-17-h-queere-globalisierung-imperialen-begehrens/

  • Reden wie der Mainstream. Für eine feministische Kritik an queerer Politik

http://www.akweb.de///////ak_s/ak563/index.htm

  • Gegen queere politische und gesellschaftsanalytische Indifferenz [Kritik am Umgang des tCSD-Vorbereitungsplenums mit einer Vergewaltigung am Rande des tCSD 2011]

http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/08/05/aus-gegebenen-anlass-gegen-queere-politische-und-gesellschaftsanalytische-indifferenz/

  • De-konstruktiv oder destruktiv? – queer Lesbianismus

in: Gabriele Dennert / Christiane Leidinger / Franziska Rauchut (Hg.), In Bewegungen bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Querverlag: Berlin, 2007, 322 - 325.

  • Intersektionalität und Gesellschaftstheorie

http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/07/03/intersektionalitaet-und-gesellschaftstheorie/

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(*) RPB ist im bundesweiten Bündnis „Perspektive Kommunismus“ organisiert; vgl. dazu: http://www.perspektive-kommunismus.org/.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.