Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Rassismus statt „Geist des 11. Januar“?
Über die Notwendigkeit gegen die rassistische Gefahr zu kämpfen

04-2015

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Geist des 11. Januar“, bist Du noch da? Diese Frage wird derzeit in Frankreich vielfach aufgeworfen - und oft mit Nein beantwortet. Das Datum spielt auf die Großdemonstrationen nach den jihadistischen Anschlägen in Paris vom 07. und 09. Januar dieses Jahres an. Damals war zwar vielfach kritisiert worden, dass die Regierung die ursprünglich spontane Mobilisierung kanalisiert habe, und dass sie zur Pariser Demonstration auch Staats- und Regierungschefs übelster Sorte einlud. Aber zumindest war auch klar, dass es der extremen Rechten und anderen ausgemachten Rassisten nicht gelungen war, sich an die Spitze zu setzen und die Empörung in der Weise auf ihre Mühle zu lenken, dass sie eine Hexenjagd gegen Muslime anführen könnten. Die Demonstrationen am 11. Januar 11 waren eher linksliberal und universalistisch ausgerichtet, mit einem Überhang der mittelständisch-intellektuellen Beteiligung.

Zwei bis drei Monate später ist die Erinnerung daran teilweise verflogen. Und vor allem der eher integrative Aspekte der ersten „zivilgesellschaftlichen Mobilisierung“ stehen zur Disposition. Am Sonntag, den 22. März 15 zeichnete etwa der 1980 geborene Cartoonist Martin Vidberg, regelmäßiger Karikaturist bei Le Monde, eine Schautafel mit folgenden zur Auswahl stehenden Angeboten: „Geist des 11. Januar?“ Antwort: Fragezeichen, im Sinne von: Was ist das noch mal? „Geist des 21. April?“ Antwort: 26 Prozent. „Geist der großen Ferien?“ Antwort: 49 Prozent. Die Prozentzahlen bezogen sich dabei auf das Abschneiden der extremen Rechten –der Front National erhielt rund 26 Prozent der Stimmen, und der „21. April“ verweist auf den Einzug Jean-Marie Le Pens in die Stichrunde der französischen Präsidentschaftswahl im Jahr 2002 – sowie auf die Höhe der Wahlenthaltung. Dabei fiel der Ausgang der französischen Bezirksparlamentswahlen im ersten Durchgang sogar noch etwas „glimpflicher“ aus als erwartet. In Umfragen waren zuvor der extremen Rechten bis zu 33 Prozent vorhergesagt, und es war eine Wahlenthaltung in Höhe von bis 57 Prozent prognostiziert worden. (Anm.: Die zweite Runde dieser Wahl am 29. März fand nach Redaktionsschluss dieses Artikels statt; vgl. dazu nebenstehenden Artikel.)

Die rassistischen Kräfte, die an jenem 11. Januar 2015 eher an den Rand gedrängt worden, melden sich also deutlich zurück. Sicherlich, sie waren nie verschwunden. An der Pariser Demonstration konnte die Partei von Marine Le Pen zwar nicht teilnehmen, sie flüchtete sich in die Teilnahme an Kundgebungen in wesentlich kleineren Städten. Aber zwischen dem 07. Januar und dem 07. Februar dieses Jahres fanden zugleich 153 gewalttätige Übergriffe auf muslimische Einrichtungen (oder, erheblich seltener, direkt auf Personen) statt. Das waren ungefähr so viel wie zuvor im ganzen Jahr 2014, aber im Zeitraum eines Monats. Und Umfragen auch von großen Meinungsforschungsinstituten unterhielten ein bedrohliches Klima. Eines von ihnen befragte in der Woche nach den Demonstrationen vom 11. Januar 14 die Französinnen und Franzosen unter ausdrücklichem Verweis auf die Attentate, ob aus ihrer Sicht „die muslimische Gemeinschaft eine Bedrohung für die französische Identität“ darstelle. Eine Fragestellung, die bereits zwei rein ideologische Unterstellungen enthielt: Es gebe eine homogene „muslimische Gemeinschaft“, und eine eben solche „nationale Identität“. Wer saudumme Fragen stellt, erhält auch dumme Antworten: 40 Prozent antworteten auf die Frage mit Ja, in der FN-Wählerschaft waren es 86 Prozent.

Nicht allein die extreme Rechte hat sich aus diesem gesellschaftlichen Potenzial bedient. In den letzten Tagen vor den französischen Bezirksparlamentswahlen (erster Durchgang) befeuerte etwa Nicolas Sarkozy, Chef der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP – derzeit stärkste Oppositionspartei – die ideologische Kampagne. Lautstark sprach er sich kurz vor der Wahl für die Abschaffung von „Ersatzmahlzeiten“ (repas de substitution) in Schulkantinen aus. Damit ist die Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler gemeint, zumindest an Tagen, an den Schweinefleisch aus dem Speisezettel steht, über ein Wahlessen zu verfügt. Das kann muslimische, jüdische oder auch vegetarische bzw. allergiebehaftete Heranwachsende betreffen – bei der ideologischen Kampagne geht es aber hauptsächlich um die Erstgenannten, denn religiöse jüdische Familien schicken ihre Kinder meist auf konfessionell gebundene Privatschulen. Bislang bietet die große Mehrheit französischer Kommunen ein solches Auswahlessen an, um Konflikte zu vermeiden.

Der Streit darüber, ob diese Wahlmöglichkeit aufrecht erhalten bleiben soll oder nicht, flammt in den letzten Jahren immer wieder auf. Unter anderem in fünfzehn Kommunen, deren Rathäuser seit März 2014 rechtsextrem geführt werden. Aber eben nicht nur dort wird bewusste Symbolpolitik damit betrieben. Fünf Tage vor der jüngsten Wahl machte der UMP-Bürgermeister von Chalon-sur-Saône, Gilles Platret, Schlagzeilen – mit der Ankündigung vom Montag, den 16. März 15, die „Ersatzmahlzeiten“ ersatzlos abzuschaffen. Ihm kam dann Sarkozy lautstark zu Hilfe. Seine eigene Partei war darüber gespalten; Ex-Premierminister François Fillon distanzierte sich bspw. davon.

Nicht ausschließlich der antimuslimische Rassismus gedieht in diesen Tagen. Die Zielauswahlbestimmung der jihadistischen Attentäter (die neben der Redaktion von Charlie Hebdo auch einen koscheren Supermarkt angriffen) belegt, dass es auch Menschen gibt, die jüdische Menschen oder Einrichtungen ins Visier nehmen. Zwar handelt es sich bei Jihadisten dabei weniger um Rassismus im engeren Sinne, sondern um eine Facette einer Ideologie, die einen apokalyptischen Endkampf zwischen Religionen erwartet. Doch neben diesem politisch-konfessionellen Kriegsruf (der sich gern hinter der „Palästinafrage“ verschanzt) gibt es – nicht nur, aber auch in Teilen der sozialen Unterklassen – eine ethnisierende, rassifizierende Sichtweise auf jüdische Menschen, die letztere mit „Geld“, mit Reichtum, Arroganz und einer „Nähe zur Macht“ assoziiert. Verbrechen gegen einzelne junge Juden, die zwar hauptsächlich kriminell motiviert waren, aber eben auch mit der Vorstellung einhergingen, Geld sei am leichtesten „bei Juden“ zu finden, zeugen davon. In grausamer Erinnerung bleibt die Entführung, drei Wochen dauernde Misshandlung und anschließende Ermordung von Ilan Halimi im Januar 2006, aber auch ein mit sexueller Aggression einhergehender Raubversuch gegen ein junges jüdisches Paar im Pariser Vorort Créteil im Dezember 2014.

Die Antwort des französischen Staates, der infolge der Attentate nun bestrebt ist, jüdische Einrichtungen besser zu schützen, ist dabei fragwürdig. Nichts spricht gegen einen besseren Schutz, etwa auch durch Anbringen von Kameras und Bewachung von Synagogen oder jüdischen Schulen. Aber seit der Intensivierung des als Plan Vigipirate („Plan Piratenwache“) bezeichneten Notstandsplans, dessen erste Auflage von 1995 stammt, sind nunmehr Soldaten sichtbar vor manchen jüdischen Einrichtungen positioniert. Bspw. vor Gebetsräumen, aber bspw. im elften Pariser Bezirk auch vor nebeneinander liegenden jüdischen Restaurants. Es bleibt fraglich, ob dies auf Dauer die beste Methode ist. Denn viele „jüdische Orte“, die manchen Außenstehenden bis dahin gar nicht auffielen, werden so erst richtig sichtbar gemacht. Zwar wurde die im Januar d.J. begonnne spezielle Mobilisierung von 10.000 Soldaten zu solchen und ähnlichen Schutzzwecken kürzlich bis in den Hochsommer 2015 hinein verlängert. Aber irgendwann wird der martialisch wirkende Schutz wieder wegfallen, denn auf ewig wird der französische Staat diese Mobilisierungsanstrengung nicht aufrecht erhalten. Und dann?

Als Antwort auf die ebenso unangenehme wie gefährliche ideologische Großwetterlage gab es in jüngerer Zeit unterschiedliche Mobilisierungsansätze. Eine Achse der Gegenmobilisierung war der Versuch verschiedener Kräfte, sich auf eine Schwerpunktkampagne gegen antimuslimischen Rassismus zu einigen. Am Freitag, den 06. März fand dazu in Saint-Denis bei Paris eine Saalveranstaltung statt, die mit über 500 Teilnehmenden ein echter Erfolg wurde. Dabei gab es etwa Zeugenaussagen von Kopftuch tragenden muslimischen Frauen, die nicht nur über Diskriminierung im sozialen Alltag, sondern über mancherorts im Pariser Raum (besonders etwa in Argenteuil) zunehmende körperliche Angriffe berichtete. Im Jahr 2014 wurden, wenn man verbale Übergriffe und Propagandadelikate – rassistische Beleidigung und Verhetzung – einberechnet, 764 moslemfeindliche Vorfälle registriert. Über 80 Prozent davon richteten sich gegen Frauen, auch wenn diese im islamfeindlichen Diskurs zugleich fast stets als „Opfer“ dargestellt werden.

Der Minimalkonsens dieser Veranstaltung, die auch von linken Kräften im Vorfeld unterstützt wurde (KP, Ensemble, NPA – hingegen zogen die Grünen eine anfängliche Unterstützungszusage wieder zurück), beruhte auf einer Kampagne gegen diese Rassismusform. Umstritten waren dagegen manche Mitveranstalter, insbesondere die „Partei der Eingeborenen der Republik“ (abgekürzt PIR), die 2005 als angebliche Interessenvertretung der Nachfahren von Kolonisierten und Eingewanderten gegründet worden war. Entgegen mancher anderslautender Gerüchte verurteilt diese Kleinstpartei zwar durchaus Antisemitismus; ihre Sprecherin Houria Bouteldja grenzte sich 2014 etwa von den antisemitischen Bewegungspolitikern Alain Soral und Dieudonné M’bala M’bala ab, die mit einem Diskurs der „Opferkonkurrenz“ andere Minderheiten gegen Juden aufzustacheln sowie in Banlieues und Migrantenjugend zu rekrutieren versuchen(1). Aber in einer jüngst veröffentlichen Erklärung, die bei den Antirassismusdemonstrationen vom 21. März d.J. auch als Flugblatt verteilt wurde, kritisierte die Kleinpartei etwa auch scharf einen „Staats-Philosemitismus“ – den es tatsächlich gibt, der aber in der Gesellschaft aber mit real existierendem Antisemitismus koexistiert. Da Juden aber heute in Frankreich „nicht mit staatlicher Unterstützung verfolgt“ und nicht „im Wirtschaftsleben diskriminiert“ würden, geht der Text dann schnell auf die Araber und Schwarzen als eigentliche Diskriminierungsopfer über. Zwar gibt es Unterschiede in den Mechanismen von Diskriminierung und zwar verfolgt die politische Elite heute tatsächlich keine antisemitische Staatsideologie. Dennoch wurde aus der antifaschistischen Linken auch schnell Kritik daran laut, dass hier doch eine relativ klare Hierarchisierung zwischen Rassismusformen (und der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung) vorgenommen wird.

Am 21. März 15 fanden ferner Demonstrationen in gut zwanzig französischen Städten zum alljährlichen weltweiten „Tag der Erziehung gegen Rassismus“ statt. Dieser wird zwar seit Jahrzehnt begangen, im Gedenken an das Massaker von Sharpville in Südafrika von 1960. Doch erst seit dem vergangenen Jahr wird er auch als Aktionstag mit Demonstrationen genutzt, bis dahin dominierten eher Diskussions- und schulische Unterrichtsveranstaltungen.

Im Pariser Aufruf war etwa Wert darauf gelegt worden, unterschiedliche Formen von Rassismus zu attackieren: „Islamophobie“, „Antisemitismus“ und „Rassismus gegen Roma“ wurden ausdrücklich benannt. Und die Gefahr der extremen Rechten wurde betont, während bis dahin in Frankreich eine auf Arbeitsteilung zwischen antirassistischer und antifaschistischer Bewegung vorherrschte, die auf Dauer zum schädlichen Auseinanderdriften zu werden schien.

Mit rund 2.500 bis 3.000 Menschen, was für Pariser Verhältnisse eine schwache Mobilisierung darstellt – unter ihnen rund eintausend Sans papiers oder „papierlose“ Migranten, also Hauptbetroffene – und eher schwachen Teilnahmezahlen in weiteren Städten blieb der Mobilisierungserfolg allerdings deutlich hinter den Erwartungen zurück. In Paris hatten 125 Organisationen den Aufruf unterzeichnet, manche von ihnen glänzten schlicht mit Abwesenheit. In zwei Städten, Calais am Ärmelkanal und Saint-Affrique im Zentralmassiv, waren die Demonstrationen unterdessen behördlich verboten worden, wegen „zu großer Wahlnähe“ im einen und „Gefahr von Auseinandersetzungen“ im anderen Falle.

Offensichtlich ist die Notwendigkeit, gegen die rassistische Gefahr zu kämpfen, noch nicht in Aller Augen hinreichend zur Priorität geworden. Einschließlich beträchtlichen Teilen der Linken.

Anmerkungen

1) Bouteldja wirft jenen Menschen mit Migrationshintergrund, die Soral und Dieudonné folgen wollen, vor, „sich neuen ideologischen Herren aus der weißen rassistischen Rechten zu unterwerfen“, statt „eine autonome Bewegung der Kolonisierten aufzubauen“.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.