Der Monat der Frau in der patriarchalen Gesellschaft
Kritische Anmerkung zum verstrichenen "Monat der Frau"

von
Luise

04-2014

trend
onlinezeitung

Der März, "Monat der Frau", wurde begangen, und der Verdacht drängt sich auf, dass es damit für das ganze übrige Jahr wieder getan ist mit der gesellschaftlichen Präsenz des Themas Frau-Sein, Ausgrenzung und Gewalt gegen Frauen und LGBTI.

Die Autorin dieses Artikels steht dem 8. März seit längerem skeptisch gegenüber. Besonders, da wir uns bewußtmachen müssen, dass der März eine willkommene Alibi-Veranstaltung für die kapitalistische Ordnung ist. So wäre es mittlerweile schon angebracht, eine Art "alternativen 8. März" zu proklamieren, aber auch ein anderer Überraschungsmonat im Jahr wäre nicht schlecht, in dem der kapitalistische patriarchalische Ablauf unvermutet sabotiert wird. Aber auch eine Anmerkung zu den ernsten Kämpfen von libertären und linken Initiativen möchte ich hier geben, da ich eine Gefahr der idealisierenden Betonung von einem oft formulierten breiten Bündnis sehe. Dabei beziehe ich mich auf eine aufschlussreiche Stelle aus "Politische Theorie und sexuelle Differenz" der Feministin Andrea Günter.

Kapitalistischer Gedenktag, männliche Dominanz non-stop

Die kapitalistische Gesellschaft regelt den 8. März allerdings in verlogener Art, mit doppelter Moral. Einerseits berichtete die Presse anläßlich dieses Tages, dass in einer Bilanz des Verbandes zur Koordinierung der Frauenhäuser festgestellt wurde, dass z. B. in 2010 neunzig Prozent der Frauenhäuser wegen Überbelegung schutzsuchende Frauen ablehnen mußten. Und jede dritte bis vierte Frau – von den gemeldeten deutschen Frauen bundesweit- sei Opfer von sexueller oder anderer Gewalt geworden. Andererseits beläßt mann es in der Politik und Gesellschaft mit solchen Betroffenheitsberichten. Die Gewalt gegen nichtdeutsche Frauen in deutschen Asylheimen und Lagern wird dabei noch gar nicht kritisiert und auch nicht systematisch dokumentiert. Und zur Situation der Frauenhäuser: Seit Jahren wurden die finanziellen Mittel für öffentliche Einrichtungen gekürzt, da machten Frauenhäuser und Hilfsorganisationen keine Ausnahme. Wie auch in anderen Bereichen wird hier die Hilfe zunehmend auf ehrenamtliches Engagement verlagert. An den eigentlichen Grund für die soziale Misere, besonders die Misere Gewaltbetroffener, rührt der politische und der allgemein akzeptierte Denkansatz natürlich nicht: An das "Wachstum", das immer mehr Profitorientierung bei Kommunen und Einrichtungen verlangt. Mit sozialer Hilfe oder Frauenhäusern macht mensch eben keine Gewinne. Und weshalb sollte ein Druck dazu aufgebaut werden? Herrscht doch grundsätzlich das Tabu des Opfers, das zur Siegermoral in der kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft dazugehört. Da bleibt die Realität der Gewaltbetroffenen alltäglich dem Schweigen überantwortet, solange nicht politische Autoritäten, wie zum Beispiel Frauenbeauftragte, das Thema anschneiden. Ist es nicht die gleiche gesellschaftliche Wirklichkeit, in der stets die Schwächeren zum Schweigen gebracht werden: die durch Armut Ausgegrenzten, die Opfer rassistischer Gewalt, die Geflüchteten, die in Deutschland durch Asylverfahren ausgegrenzt werden, aber auch die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen, die sich an das Leistungsprinz nicht anpassen können? Solange die Gesellschaft ihrem sozialdarwinistischen Prinzip treu bleibt, wird sie sich mit dem Frauentag nur maskieren können. Dieser wird- wie alles in der kapitalistischen Logik- noch einmal verwertet zum Gedenktag und zur schön gestalteten Feier, und wirkt rein äußerlich mit Beruhigung.

Die großen Medien verbreiten deshalb im März gern sensationelle Berichte von manchen Fällen häuslicher Gewalt, ohne die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit einzubeziehen: Leistungsdruck, Hektik, die Präsenz des Geldes, soziale Gleichgültigkeit, wenig Zeit für familiäre oder andere zwischenmenschliche Bindungen, und ein weiterhin männlich-durchtrainiertes Ideal in Werbung und Unterhaltungsindustrie.

Dann fanden auch, im politischen Ablauf, schöne Ansprachen zum Thema der Frau in der Gesellschaft statt. Dabei wird viel von "Ungerechtigkeit" und "Ungleicheit" geredet, wiederum, ohne soziale Verhältnisse zu thematisieren. Zwischenmenschliches Verhalten wird als der Übergriff hinter der verschlossenen Tür, als "häusliche Gewalt", ins private Geschehen verortet. Doch dass Strukturen abseits von der menschenfeindlichen Verwertungsmoral gestärkt werden müssten, davon hören wir kein Wort. Die Logik der Arbeitsgesellschaft läßt da höchstens zu mehr sozialen Kontrollen in Haushalten aufrufen. Und sie wird nicht dazu gelangen, mehr finanzielle Mittel für hierarchiefreie Räume, für soziale Entfaltung und für autoritätsfreie Hilfen zu stellen.

Am 21. März folgten öffentliche Veranstaltungen zur Einkommensungleichheit, auch hier wurde von Gewerkschaften und manchen Politiker/innen daran erinnert, dass Frauen durchschnittlich rund 20 Prozent weniger verdienen als männliche Erwerbstätige. Und auch hierfür gilt: Was soll sich denn daran ändern, solange die verbreitete Moral sich an Wachstum klammert, und die Allgemeinheit sich die gesellschaftliche Segnung von wirtschaftlichen Verbänden, "Arbeitgeberverband" und Konzernen erwartet?

Des weiteren gehörten zum bürgerlichen Repertoire verschiedene Fernsehausstrahlungen über "Starke Frauen", biographische Verfilmungen (meines Erachtens) kitschiger Machart über Frida Kahlo und Rosa Luxemburg, und auch hier wieder das gleiche Scheuklappendenken: Aktuelle soziale Verhältnisse in der bundesdeutschen Realität wurden ausgeklammert: Zunehmende Armut, kälteres soziales Klima und zunehmender Rassismus und Faschismus.

Schweigen herrschte zugleich seitens der politischen Ordnung von der Situation der geflüchteten Frauen, die in Deutschland mit Abschiebegefahr und Entrechtung konfrontiert werden. Und diese Art von "Ungleichheit" wäre ganz einfach von der Regierung zu beseitigen, wenn sie die diskriminierenden Gesetze des Asylverfahrens ändern würde. Dies ist aber nicht gewollt. So wurde in den politischen Ansprachen und den großen Medien kein Thema daraus gemacht, wie Flüchtlingsfrauen in den Lagern ausgegrenzt werden und um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder fürchten müssen, wie sie hier noch nicht einmal per Gesetz psychologische Betreuung für die Traumata ihrer Fluchterfahrung erhalten. Auch, dass Flüchtlinge, die wegen Zwangsheiraten oder Diskriminierung wegen ihrer geschlechtlichen Identität nach Deutschland kommen, hier oftmals abgewiesen werden, war kein Thema zum Frauentag. "Women in Exile" und andere Initiativen von Geflüchteten liefern von der gefährdeten und entrechteten Situation der Frauen in deutschen Lagern immer wieder ihre aktuellen Berichte- diese verbleiben in linken Medien, Randmedien im Vergleich zur großen Presse. Sie werden von der Bundespolitik und von der großen medialen Berichterstattung auch im "Monat der Frau" ausgegrenzt.

Nicht angesprochen wird von der politischen Doppelmoral zum "Monat der Frau" auch die sexuelle Belästigung im Alltag gegenüber Frauen und Trans-Inter-Queeren Menschen. Gemeint sind hier tägliche Verhältnisse, die gar nicht sensationell daherkommen, und die ungeeignet sind für die medialen Schock-Erlebnisse, die zu schönen hohen Verkaufsauflagen bürgerlicher Zeitungen genutzt werden können, Dominanzverhalten in körperlichem und verbalem Auftreten. Die manchmal subtilen, abwertenden Platzverweise von patriarchalen Personen sind gegenwärtig, aber sie taugen nicht für die Journale und Sensationsblätter. Z.B: An einem Arbeitsplatz unterhalten sich ein langjähriger höherer Angestellter, zwei Angestellte und eine neue Praktikantin im lockeren Stil. Das Thema dreht sich um Freizeit-Betätigungen vom letzten Wochenende; der hierarchieoberste Mann in der Gruppe erzählt von einem Segelausflug auf dem Wannsee. Jovial und etwas selbstgefällig äußert er, dass er hoffe, ein paar Pfunde abzunehmen. Beiläufig klopft er der Praktikantin vor den Bauch und meint: Bei ihr sei ja auch noch etwas abzunehmen, oder sei sie schwanger?

Dieses Beispiel ist allerdings noch ein harmloses Beispiel für einen patriarchalisch-sexistischen Übergriff in Form einer körperlichen Anmaßung an einer Arbeitsstelle. Ich nenne es nur als eines, das uns allzu banal erscheint. Solche Situationen dürften zum selbstverständlichen Erwerbsalltag der Gesellschaft zählen, sie erhalten weiterhin Rollenzuweisungen und männliche Dominanz .. Aber auch andere Belästigungen wie z.B. Beschimpfungen von Frauen oder Transinter* -queeren Personen in der Öffentlichkeit, z.B. in der U-Bahn sind an der Tagesordnung. Und schließlich gehört in fließenden Grenzen das verbale und körperliche Auftreten von patriarchalem Ego-Gebaren gegenüber Frauen bis hin zum Schlagen zur Realität, Situationen, in denen die betroffene Person in Wohnungslosigkeit, Notsituation und Schweigen landen kann. Solches vollzieht sich selten wie es in Politik und Sensations-Presse dargestellt wird, als der rasche Übergriff, nach dem sich das Opfer mit einem blau geschlagenen Auge sogleich an die staatliche Hilfsstelle wendet. Sondern viel wahrscheinlicher vollziehen sich Gewaltereignisse jahrelang in Strukturen des Schweigens und in der erlernten Subordination, in Anpassung und im Versagen von Selbstgefühl bei den Betroffenen. Interessante Hinweise dazu können Judith Herman „Narben der Gewalt“, und Senta Trömel-Plötz, „Gewalt durch Sprache“, geben.

Schweigen herrscht ebenfalls in der deutschen kapitalistischen Moral am Frauentag über die sexistische Werbeindustrie. In ihr hat sich die frauenverachtende und verdinglichende Darstellung etabliert. Ihren Siegeszug hat sie offensichtlich gehabt und wird seit vielen Jahren schon nicht mehr in der bürgerlichen Presse thematisiert. Das weibliche, leichtbekleidete Model schwebt durch die Bilder-Welt der Konsumindustrie, von der Packung mit Kopfschmerztabletten, über Bekleidungs-Werbung bis hin zu Lebensmitteln, von der im Internet präsenten Sexwerbung ganz abgesehen. An Berliner U-Bahnhöfen war im März eine Mode-Werbung ausgeschildert, die eine Frau mit nacktem Unterleib zeigte, der nur von einer Transparenz-Strumpfhose bekleidet ist. Das Anreizen mit männlichen Pin-Up-Wünschen konterkarierte die heuchlerische Veranstaltung zum Frauentag ( indirekt aber könnte das ständige Hochalten von weiblichen Hintern und anderen Körperteilen an Bahnhöfen und Straßenzügen vielleicht auch als sexuelle Belästigung gegen andersgeschlechtliche Personen verstanden werden- wenn es auch männlichen Konsumenten als lästig erscheint, dauernd wie ein konditionierter Hund bei den sexuellen Reizen angepackt zu werden ?). Die Wohnungsbaugesellschaft Arwobau wirbt in Bezirken mit einem Großplakat am Straßenrand, das eine junge Frau in halb zerfetzter Kleidung, deutlich als Prostituierten-Typus, zeigt, die ein Schild hochält: "Nicht nur für eine Nacht". Die primitiven Signalreize rechtfertigen im kapitalistischen Ablauf die Verdinglichung und Benutzung der Frau, während "Gleichheit" das Sonntagswort für Politiker/innen bleibt.

Besonders in der deutschen Konsumindustrie, scheint`s, herrscht die Inflation sexistischer Kultur, Fühllosigkeit und Frauenverachtung sind verpartnert. Da gestaltet sich jeder Auslandsaufenthalt wie ein Urlaub von der deutschen kommerziellen Fleischbeschau. Was Laurie Penny in "Fleischmarkt" (England) über die Kommerzialisierung weiblicher Körper schrieb, gilt hier allemal. Zeigt diese Bildersprache nicht, dass die Entfremdung vom Menschen und von dem, was ein gleichheitliches, respektvolles Miteinander bedeuten könnten, hier besonders fortgeschritten ist? Im deutschen Alltag hat mann sich offenbar an die Charaktermaske des technokratisch-aufgeklärten Menschen gewöhnt: Einerseits strikt ausgerichtet, für den Job oder für Regelwerke im Leistungsalltag zu funktionieren - "Sachlichkeit" und ökonomische Logik herrschen – andererseits stillschweigend benutzt als erotisches Reflex-Objekt. Die sexualisierte Werbe-Sprache ( sogar mit Werbesprüchen auf Berliner Abfalleimern wird sexualisiert) liefert die Pseudo-Erotik zum Alltag beziehungslosen und emotionslosen Daseins.

Wie weit die Kommerzialisierung des weiblichen Körpers schon allgemein akzeptiert ist, zeigte mir ein Vorfall kurz vor dem 8. März: An der Türe eines Buchladens, der vor allem linksliberale Werke verkauft, hing ein Plakat, das in Überlebensgröße einen weiblichen Po zeigte, der mit Ornamenten bemalt war. Es handelte sich um ein Werbeplakat einer Kunstkommerzgruppe, die für ihre Ausstellungeröffnung 8. März in Kreuzberg warb. Ich sprach den Verkäufer auf die sexistische Werbung an, die im Laden auch als vervielfältigte Visitenkarte zu Dutzenden auslag, und hielt ihm zugleich die Ausgabe des aktuellen "Stressfaktor"-Magazins zum Monat der Frau entgegen: Auf dessen Titelseite waren Clara Zetkin und Rosa Luxemburg abgebildet. Dabei betonte ich, dass diese verschiedenen Leitbilder zum 8. März nicht vereinbar seien: einerseits die Köpfe zweier weiblicher klassenkämpferischer Denkerinnen und andererseits ein anonymer weiblicher Hintern, der die Kommerzialisierung des weiblichen, austauschbaren Körpers reproduziert. Der Händler reagierte darauf verblüfft und antwortete, er müsse erst mit den anderen Leuten aus dem Kollektiv kommunizieren, ehe er das Plakat entfernt. Ich mußte beinahe lachen, weil sein Bürokratismus zum rohen Fleischkommerzialismus in so einem schönen Verhältnis stand. Es wurde mir deutlich, dass die Gentrifizierungs-Logik in Kreuzberg schon bedenklich fortgeschritten ist....Pseudo-Kunst kann hier hoffen, sich mit der üblichen Masche der kapitalistischen Konsumlogik durchzusetzen, während zahlreiche männliche – und vielleicht auch weibliche?- Kiezbewohner/innen das Bewußtsein für den Sexismus verloren haben. Im gleichen Moment war jedoch im Laden auch noch eine andere Frau anwesend, die ich als aktive Streiterin in antirassistischen Kämpfen bereits kennengelernt hatte. Natürlich solidarisierte sie sich mit mir, wir gingen zu zweit vor die Tür und entfernten das Plakat.

Das breite Bündnis zum Frauentag und eine Gefahr des Imaginären

Der konformistischen Heuchelei der Profitgesellschaft steht eine Vielzahl von längst schon wütenden, kritischen Köpfen gegenüber. Wie formiert sich der Widerstand? Ich sehe zumindest eine Gefahr in der Tendenz, zum Frauentag zu viele Anliegen auf einmal zu präsentieren und ein "breites Bündnis" darzustellen, während es im Alltag doch darum geht, die vielen Aspekten unseres Wissens konkret umzusetzen. Da sollte das Anliegen nicht zu hoch formuliert werden.

Manche Ansprüche der libertären Bewegungen zum Tag der Frau können überborden, sich im Manifest-ähnlichen abarbeiten. Vielleicht kommt das aus der fortgeschrittenen kritischen Kultur parallel zur kapitalistischen Ordnung: Ohne dass mensch heute schon die Durchsetzung gegen die alte Verwertungsgesellschaft erreicht hätte, hat mensch ein enormes Wissen entwickelt, sei es in sozialen Kämpfen und Klassenkämpfen, sei es in der Gendertheorie. Das kann und muss sich natürlich formulieren: Das Wissen von ausgegrenzten Minderheiten, vom Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit und von Dominanzverhalten und den Strukturen, die solches Dominanzverhalten stärken, das Wissen vom fortschreitenden Rassismus, von menschlicher Ausbeutung und von der hegemonialen Weltordnung. Das Wissen von Diskursen und von der zerstörerischen Vernunft der Profitlogik, und von zahlreichen globalen Kämpfen für ein hierarchiefreies und souveränes Dasein für soziale Gemeinschaften.

Vielleicht führt dieses große Wissen dazu, dass Initiativen zunehmend eine große Vernetzung beschwören. In der Suche nach der gemeinsamen Sprache nähern wir uns einem Bündnis-Streben, das ein gutes Signal setzen kann, aber sich auch in idealen Sätzen von einer freien Gesellschaft äußert: mit dem Wissen von LGBTI, Antirassismus, Anti-Psychiatrie, Dekonstruktion der Identitäten und Ausübung der Geschlechterfreiheit, globaler Umverteilung. Problematisch wird es, wenn dabei die Sprache selbst dominiert- wenn die gemeinsame Sprache fast zu einer eigenen Kultur fortgeschritten ist, in der jede/r erstmal zu korrekten Formulierungen und breiten Kenntnissen avancieren muss, ehe der Blick auf das alltägliche Umfeld erfolgt. So diskutiert mensch, ob Judith Butler dekonstruiert werden müsse, und ob der Einsatz in Klassen- oder Antira-Kämpfen paternalistisch sein könne. Und oft wird für Selbsterklärungen in Artikeln und Flugblättern die Sprache gesucht, in der alle Befreiungsanliegen auf einmal formuliert werden können.

Steht nicht bei den perfekten Ausformulierungen das konkrete Dasein in vereinzelten, immer noch herrschenden Existenzkämpfen im Hintertreffen? Mit dem Wissen, das vorhanden ist, auch alltäglich zu arbeiten, gestaltet sich schwierig. Bei Forderungen für eine freie Gesellschaft finden konkrete und begrenzte Einzelheiten des Alltags manchmal keine Erwähungen mehr, wie etwa Begebenheiten von Dominanz oder Belästigung. Möglicherweise gelten sie als zu banal, z.B. Kampagnen gegen sexuelle Belästigung in der U-Bahn oder anderes zu thematisieren, könnte mit einem "Drüberstehen" in der linken Bewegung ausgeklammert werden.

Bei einem Wunsch nach dem "breiten Bündnis" , auch am Frauentag, sehe ich eine problematische Seite, weil das einem "imaginären" Vorstellungsdenken folgen könnte. Ein "imaginäres" Bündnisstreben der feministischen Bewegung sah z.B. die Feministin und Literaturwissenschaftlerin Andrea Günter 1998 in ihrem Buch "Politische Theorie und sexuelle Differenz. Feministische Praxis und die symbolische Ordnung der Mütter". Sie schreibt, mit Bezug auf die damaligen feministischen Wertvorstellungen: "Das frauenbewegte Versprechen, für eine Frau sei alles zu vereinbaren, nämlich: Engagement und Zeit für sich, für Freunde, für die Liebe, für Kinder und für Politik, beruflicher Erfolg, gesellschaftliche Anerkennung und Ruhm (...)- ist größenwahnsinnig." "Warum komme ich nun auf die Idee, dass die Vorstellung der Vereinbarung und Vereinigung eine imaginäre Vorstellung ist, der das Realitätsprinzip fehlt?...Das Streben nach Vollständigkeit und Erfüllung zählt zum Imaginären, es ist Träger einer Phantasie, in der es keine Reibungen ...gibt." (S. 111)

Günter versteht unter dem "Imaginären" das Vorgestellte, dessen Entstehungsgrund sie der Psychologie entlehnt: In der Lacan`schen Psychologie ( Freud weiterentwickelnd) zählen zur sprachlichen Funktion beim heranwachsenden Mensch sowohl das Symbolische: die Dimension von Worten und das So-Gesprochene, wie auch das Imaginäre: der vorgestellte und erzielte Sinn, den ein Mensch zu artikulieren glaubt. Im Imaginären wähnt sich der Mensch vollständig und erhält seine Ordnung aufrecht. Im Symbolischen wirkt aber die Sprache fort, die er erlernt hat, und die von der Versagung des kindlichen Wunsches durch das "Nein des Vaters" mitgeprägt wurde. Das soll an dieser Stelle heißen: Das Imaginäre steht für die bewußte Selbstdefinition des Menschen, aber das Symbolische auch für seine nichtbewußte Gewordenheit. Und mit Günters Blick auf die feministischen politischen Diskussionen wird daraus angewendet, dass sie in jenen Kämpfen- in ihrer Zeit der 90-er Jahre- den vorherrschenden Anspruch von Vollständigkeit kritisiert, während Unterschiede, Gewordenheiten und Reibungen ins Hintertreffen gerieten. Dabei würde zu wenig von "Niederlagen" gesprochen, um Änderung zu finden, und "Reibungen" hätten weniger Raum, schreibt Günter.

Zumindest bei der oft hochgehaltenen großen Vernetzung sehe ich eine Gefahr des Imaginärem. Wie viel sprechen wir noch über Beziehungen, Niederlagen, Konflikte in den Gemeinschaften oder im Alltag? Doch gibt es auch konkretere Ansätze bei Berliner libertären Gruppen, wenn Workshops zu verschiedenen Themen, wie neuerdings zum Thema der Traumaaufarbeitung, organisiert werden. Ich denke, das Streben nach einer perfekten Sprache sollte nicht zu sehr aufgesucht werden, sondern es geht darum, einer Aufsplittung von Kämpfen gerecht zu werden und in Offenheit tätig zu werden. Ein Anschein von Stärke sollte nicht dominieren, der Wunsch nach einer "breiten Bewegung" legt so einen Anschein aber manchmal nahe. Bevor das Bündnis formuliert wird, sollte gewißheit da sein: Ist die Vereinzelung denn überwunden? Die Sprache sollte nicht nach Perfektion streben, sondern das Sprechen sollte interessieren: Findet es statt? Niederlagen und das (vermeintliche) Banale, Ereignisse im Alltag sollten nicht von intellektuellen Debatten übertönt werden, ein Gestus- "Da stehen wir ohnehin drüber" würde sich fatal auswirken. Es sollte möglich sein, konkrete Ereignisse und Reibungen zu thematisieren.

Editorische Hinweise

Wir bekamen den Text von der Autorin für diese Ausgabe.