Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Protestcamp am Oranienplatz

von Lucho Espinoza Müller

04-2014

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Seit zweieinhalb Jahren protestieren Flüchtlinge am Berliner Oranienplatz gegen die rassistische Migrationspolitik Deutschlands. Zu Beginn tolerierte der Bezirk Kreuzberg/Friedrichshain das Protestcamp, doch nun schließen sie Schulter mit dem Berliner Senat, welcher mit allem Mitteln eine mittelfristige Räumung vorbereitet.

In der Berliner Oranienstraße reiht sich mittlerweile ein teures Café neben dem anderen. Unzählig viele Restaurants und Musikkneipen. Während sich in einem der Cafés zwei alternativ gekleidete, junge, weiße Frauen mittags mit einem Latte Macchiato gegenüber sitzen und quatschen, stochert im Restaurant nebenan ein Krawattenträger lustlos in seinem Salat herum. Die goldenen Buddha-Statuen eines Chinesischen Restaurants flankieren den Weg und die Fassaden der frisch sanierten Häuser leuchten bunt im gleißenden Mittagslicht. Geht man die Straße weiter hinauf, öffnen sich die Häuserschluchten zu einem Park und das Panorama verändert sich schlagartig. Plötzlich erhebt sich in Mitten dieser Luxuswelt eine Siedlung aus Hütten und Zelten, die aus Planen, Europaletten und kaputten Spanplatten zusammen gezimmert sind. Ein Transparent mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“ ist wie ein Ortsschild am Eingang des Camps aufgespannt. Kleine Grüppchen von mehrheitlich schwarzen Männern sitzen auf dem gepflasterten Platz, der die kleine Siedlung in zwei Teile trennt. Nur Männer. Auf Bänken und alten Sofas sitzend, quatschend oder schweigend. Und aus einem der Zelte klingt Bob Marleys „Get up, Stand up. Stand up for your Rights“.

Seit eineinhalb Jahren kampieren hier auf dem Kreuzberger Oranienplatz Flüchtlinge, die gegen die deutsche Migrationspolitik protestieren. Sie kommen aus Libyen und dem Sudan, aus Mali, Afghanistan, Iran und der Türkei. Krieg, Hunger, Armut und Verfolgung zwangen sie, ihre Heimat zu verlassen. Viele von ihnen nahmen oft jahrelange Fluchten auf sich, um in das so viel versprechende, demokratische, freie und reiche Europa zu gelangen. Die hier im Camp versammelten haben es geschafft, die oft horrenden Geldsummen aufzutreiben um die Schlepper zu bezahlen, haben viele Grenzen überquert, die Gefahren langer Fußmärsche und die Wellen des Mittelmeeres überlebt.
Viele konnten sich vorher die Strapazen der Reise nach Europa nicht vorstellen. Noch weniger hatten sich ausmalen können, was im Land ihrer Träume auf sie warten würde. Ohne Recht ihren Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu verdienen, der ständigen Angst vor Abschiebung und einer verwehrten Freizügigkeit leben die meisten Flüchtlinge in Deutschland oft jahrelang isoliert in AsylbewerberInnen-Lagern. Ein Leben in der Warteschlange.

Hier auf dem Oranienplatz wurden die ersten Zelte im Oktober 2012 aufgeschlagen. Von Flüchtlingen, die in einem 600km langen Protestmarsch von Würzburg nach Berlin liefen und im Anschluss den Oranienplatz besetzten. Die Flüchtlinge, die hier wohnen, haben die Blechcontainer der Lager gegen die kleinen und zugigen Hütten in Berlins Mitte getauscht. Einerseits, um sich so der ständigen Überwachung und Bevormundung durch die Lagerleitung zu entziehen, aber vor allem, um für einen Wechsel der Migrationspolitik zu kämpfen. Sie fordern den Stopp der Abschiebungen, einen freien Zugang zu Arbeit und Bildung, die Aufhebung des Dublin III Abkommens – auf dessen Basis Deutschland die Flüchtlinge in das EU-Land abschiebt, wo sie als erstes europäischen Boden betreten haben – sowie die Abschaffung der Residenzpflicht. Diese verpflichtet die MigrantInnen dazu, sich lediglich in dem ihnen zugewiesenen Landkreis oder Bundesland aufzuhalten.

Immer wieder drehen sich PassantInnen im Vorbeigehen um. Mit verwunderten, ängstlichen, bemitleidenden oder neugierigen Blicken. Einige bleiben stehen. Und einige betreten auch das am Straßenrand aufgebaute Infozelt der Protestierenden. Dessen einst weiße Zeltwände sind durch die Zeit grau geworden. Auf den sonnigen Bänken vor dem Zelt und den kaputten, leicht modrig riechenden Sofas im inneren sitzen einige Menschen und unterhalten sich. Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch. Hinter einem großen, quergestellten Tisch wippt einer der Flüchtlinge gelangweilt in einem schwarzen Büro-Ledersessel. Einst herrschte hier ein geschäftiges Kommen und Gehen. Ein PC brummte auf dem Tisch, hinter dem eine Pinnwand Neuigkeiten verkündete und Pläne für Info- und Sicherheitsschichten hingen. Auch die Schränke, in denen Sachspenden gesammelt wurden und Regale mit Aktenordnern sind verschwunden. Übrig geblieben ist lediglich ein kleiner Haufen mit abgetragenen Kleiderspenden, die auf einer Europalette in der letzten Ecke des Zeltes liegen. Die Dynamik hier scheint im Moment etwas nachgelassen zu haben – obwohl Gerüchte über einen erzielten Kompromiss und die bevorstehende Räumung des Protestcamps die Runde machen.
Eine kleine, vielleicht Mitte 60 jährige Frau betritt das Zelt. Sie läuft gebeugt unter der Last ihres Rucksacks. „I have something for you!“ bemüht sie sich in gebrochenem Englisch. Sie stellt den Rucksack auf die Couch, verschnauft erst einmal und wischt sich eine ihrer weißen Locken aus dem faltigen Gesicht. Der Mann auf dem Ledersessel schaut auf und über sein Gesicht spielt ein kurzes Lächeln. Es dauert einen kleinen Moment bis er aufsteht und der Frau hilft, die Tüte mit den mitgebrachten Spenden auszupacken. Er angelt Kekse und eine Rolle Müllsäcke aus der Tüte. Ein breites Lächeln zieht sich über sein Gesicht. „Diese Säcke können wir besonders gut gebrauchen!“ meint er. „Auch um Sachen aufzubewahren und gegen Nässe zu schützen.“

Dann wird sich über die Kekse her gemacht und die Packung wandert durch das ganze Zelt. Die alte Frau, die sich als Almuth Lehmann vorstellt, kommt alle zwei Wochen aus ihrem Wohnort Lankwitz zum Oranienplatz, um Lebensmittel und sonstige Verbrauchsartikel zu bringen. Doch bringe sie nur noch kalte Lebensmittel mit, erzählt sie. „Die Brandgefahr in den Zelten ist einfach zu groß um darin zu kochen.“ Die Lücke, wo am 4.März zwei Zelte brannten, ist immer noch zu sehen und wird von einer weißen Plane abgedeckt. Eine im Zelt schlafende Person konnte noch von anderen Bewohnern des Camps aus den Flammen gerettet werden. Am Tag zuvor hatte die rechtsextreme „Bürgerbewegung Hellersdorf“ auf ihrer Facebook-Seite dazu aufgerufen, das Camp am Oranienplatz anzuzünden. Eineinhalb Wochen später brannte ebenfalls in den frühen Morgenstunden der Toilettenwagen aus. Ob Brandanschläge oder nicht, die Bewohner fühlen sich bedroht und Neonazis mobilisieren weiter gegen das Camp. So hat die NPD am 26.4. eine Demo in Berlin-Kreuzberg gegen das Protestcamp angemeldet.

Der Mann hinter dem Tisch zieht eine weitere Packung Waffeln aus der Tüte. „Sind das Kekse oder Maccheroni?“ fragt er, da er die deutsche Aufschrift nicht lesen kann. Als Almuth die Frage versteht sagt sie nur „Nicht kochen, nicht kochen!“ Alle fangen an zu lachen. Sie ist sichtlich erfreut über die Freude der Flüchtlinge.

Nach einer Weile holt sie eine aktuelle Tageszeitung aus ihrem Rucksack. Diese zieht sogleich die gesamte Aufmerksamkeit der sich im und vor dem Zelt befindenden Menschen auf sich. Die Zeitung wandert von Hand zu Hand. Die Männer lachen und johlen. „Das ist ja Turgay auf dem Foto!“
Turgay ist einer der 8 VertreterInnen der Flüchtlinge, die seit mehreren Wochen mit dem Senat über eine Lösung des Konflikts verhandeln. Kurz darauf betritt dieser das Infozelt und wird mit Schulterklopfen begrüßt. Sein einst schwarzes, kurz geschnittenes Haar ist schon zur Hälfte ergraut. Doch hinter einer eckigen Brille leuchten zwei aufmerksame Augen. Lachend erwidert der die Begrüßungen.

Er lacht! Und das obwohl er politisch gesehen wahrscheinlich grade nicht so viel zu lachen hat. Am Dienstag den 13.3. propagierten viele rechte Regionalzeitungen eine „Lösung für die Flüchtlinge“ und triumphierten „Camp verschwindet vom Oranienplatz“. An diesem Tag unterschrieben 3 der 8 VertreterInnen der Flüchtlinge ein Einigungspapier mit dem Berliner Senat, in welchem sie die Räumung des Protestcamps am Oranienplatz und eine de-facto Räumung des durch Flüchtlinge besetzten Gebäudes der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg zusicherten. Nach einer Räumung will der Senat eine erneute Einzelfallprüfung durch die Ausländerbehörde vornehmen lassen um zu entscheiden, wer eine Duldung zugesprochen bekommt und wer abgeschoben wird. Das einzige Zugeständnis welches der Berliner Senat an die Flüchtlinge machte, war die Abschiebung für die Zeit der Prüfung aus zusetzten. „Davon profitieren nur einige Lampedusa-Flüchtlinge“ meint Turgay. „Aber auch die haben keine Garantie, dass sie nach 6 Monaten doch nicht wieder nach Italien abgeschoben werden.“

Von einer mündlich zugesicherten alternativen Unterbringung steht im Einigungspapier nichts drin.
Auch Turgay hätte nichts von dieser Einigung. Die für ihn zuständige Ausländerbehörde ist die Hannoveranische und nicht die Berliner. „Außerdem wollen wir eine kollektive Lösung und keine individuelle! Alleine sind wir schwach.“

Er starrt gedankenverloren ins Nichts. Mit Einsamkeit und Machtlosigkeit hat er viel Erfahrung. 15 Jahre saß der türkische Journalist und Schriftsteller im Gefängnis. Ohne Anklage. Er wurde gefoltert, um ein nicht begangenes Verbrechen zu gestehen. Nach 15 Jahren Gefängnis musste er aus der „Untersuchungshaft“ entlassen werden. Er flüchtete sofort nach Griechenland. Ein Istanbuler Gericht verurteilte ihn wenige Tage später in Abwesenheit zum Tode.

Von der BRD in die Türkei abgeschoben werden kann er nicht, da ihm dort Folter und der Tod drohen. Politisches Asyl bekommt er jedoch nicht gewährt.

„Der Großteil der Flüchtlinge profitiert nicht von der Vereinbarung“ sagt er. Dieser Meinung ist auch der Berliner Flüchtlingsrat. Dessen Sprecherin Martina Mauer erklärt in einer Presseerklärung vom 19.März, dass diese „Schein-Einigung“ lediglich dazu diene, eine polizeiliche Räumung medial und in der Öffentlichkeit vorzubereiten.

Angst vor einer Räumung hat Turgay jedoch nicht. Auf die Frage hin schnallst er nur mit der Zunge und schüttelt den Kopf. „Das werden die sich nicht trauen.“

Was der Senat mit dieser Einigung allerdings geschafft hat, ist die Flüchtlingsbewegung zu spalten. Der Wortführer der UnterzeichnerInnen des Kompromisses ist der aus Libyen geflüchtete Bashir Zakarjan. Wohnen tut dieser sowie die meisten seiner MitstreiterInnen schon lange nicht mehr auf dem Oranienplatz. Ende Januar zog er vor einer drohenden polizeilichen Räumung des Camps gemeinsam mit 80 weiteren Lampedusa-Flüchtlingen in ein Haus der Caritas. Auf dem Platz wird mittlerweile gemunkelt, dass dieser große, kräftige Mann, der mit ansehen musste wie seine Familie im Mittelmeer ertrank, persönliche Vorteile für die Unterzeichnung der Einigung angenommen hätte.
Die Unzufriedenheit der Bewohner des Oranienplatzes mit ihrer Situation ist groß. Einer der Bewohner kann die Wut nicht länger hinter seinem Lächeln verstecken. „Denkst du, das ist ein menschenwürdiges Leben hier?“ entgegnet er in gereiztem Ton auf die Fragen eines Unterstützers. „In Libyen habe ich Arbeit gehabt. Eine Wohnung. Und konnte meiner Familie Geld schicken. Und jetzt? Jetzt bin ich auf eure Almosen und Altkleiderspenden angewiesen.“

Alleine stehen die protestierenden Berliner Flüchtlinge jedoch nicht. In ganz Deutschland organisieren sich Proteste. Neben Berlin fanden auch in München, Stuttgart, Hannover, Freiburg und Eisenhüttenstadt im letzten Jahr Hungerstreiks der Flüchtlinge statt. SchülerInnen, Studierende und LehrerInnen streikten in Solidarität mit ihnen und am 17.5. wollen Flüchtlinge aus Spanien, Italien, Frankreich, Deutschland und Griechenland gemeinsam nach Brüssel zur EU-Kommission Laufen um ein Ende der mörderischen Flüchtlingspolitik der EU zu fordern.

So schnell werden die Hütten und Zelte wahrscheinlich nicht vom Oranienplatz verschwinden. Eine Weile wird das Protestcamp wohl die Blicke der PassantInnen und PolitikerInnen auf sich ziehen und im sozialen Gewissen des immer reicher und touristischer werdenden Kreuzberg brennen.

Quelle: http://de.indymedia.org/2014/03/353359.shtml