Arbeitslosenbewegung im Maghreb

von Bernard Schmid

04-2013

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In der knappen Woche vom 26. bis 30. März 2013 war das, seit 2000 jährlich stattfindende, Weltsozialforum zum ersten Mal in einem arabischsprachigen Land zu Gast. In den Tagen vom Dienstag bis Samstag kamen dazu, laut unterschiedlichen Schätzungen, zwischen 50.000 und 70.000 Menschen von verschiedenen Kontinenten und aus 125 bis 130 Ländern in Tunis zusammen. Die Hauptstadt Tunesiens wurde gewählt, weil von diesem Land der zündende Funke des so genannten Arabischen Frühlings, der Umbrüche und Umbruchsversuche von Marokko bis in die Golfstaaten, ausgegangen war.

Das Land hatte im Januar 2011, nach mehrwöchigen Demonstrationen und Unruhen, seinen langjährigen Präsidenten Zine el-Abidine Ben ’Ali gestürzt. Die Umwälzung war auch mit starken Hoffnungen auf soziale Veränderungen verbunden, die jedoch heute in breiten Kreisen enttäuscht worden sind. Erst am 12. März dieses Jahres steckte sich ein junger Arbeitsloser, der 27jährige Adel Khadri (bisweilen auch Khazri aus dem Arabischen transkribiert), der bis dahin im Stadtzentrum von Tunis Zigaretten auf der Straße verkauft hatte, in der Öffentlichkeit in Brand. Sein tragischer Selbstmord erinnert in vielen Punkten an jenen des damals 26jährigen Mohamed Bouazizi. Er verbrannte sich im Dezember 2010 in der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid selbst, was erste Unruhen auslöste.

„Diplomierte Arbeitslose“

Die so genannten diplômés chômeurs oder „Arbeitslose mit Hochschulabschluss“ bilden eine eigene soziale Kategorie in den Ländern des Maghreb wie Marokko (vgl. http://www.rfi.fr/emission und http://pmb.cereq.fr/ ), Algerien oder Tunesien, wo man dieses Phänomen grenzüberschreitend antrifft.

Anders, als man dies aus europäischen Staaten kennt, steigt – und nicht sinkt – dort für junge Menschen, je höher ihr Bildungsabschluss ist, sofern sie nicht über Unterstützung durch ein familiäres Beziehungsnetz verfügen. Junge Menschen mit guter Bildung gelten als potenziell gefährlich. Und ein „Arbeitsmarkt“, der vor allem nach „gering qualifizierten“, billigen und möglichst willigen Lohnabhängigen sucht. Wenn europäische Firmen Investitionen nach Tunesien oder Marokko vornehmen, dann behalten sie in aller Regel die anspruchsvolleren, „qualifizierten“ Tätigkeiten auf der Nordseite des Mittelmeers.

Eine Statistik der marokkanischen Direction des statistiques wies im Jahr 2006 einen Arbeitslosenanteil von 4,8 % unter den „Nichtdiplomierten“, aber von 30,1 % bei HochschulabgängerInnen aus; vgl. http://anneemaghreb.revues.org/376  - Seit 2008 hat sich die Kluft zwar zu verringern begonnen, u.a. weil viele internationalen Banken in Marokko ansiedelten, um von dort aus Afrika zu durchdringen, und nach Personal suchten. Doch nach wie vor ist ein Studium alles andere als eine Jobgarantie. Die offizielle Arbeitslosenrate betrug in Marokko (2012) insgesamt 9,9 Prozent, aber 19,2 % bei den unter 24jährigen, vgl. http://www.afriquinfos.com  – andere Quellen nennen höhere Zahlen, etwa 30 % für die junge Generation (vgl. http://www.aufaitmaroc.com). Zu Anfang des Jahres 2013 blieb sie einigen Quellen zufolge stabil, vgl. http://www.lavieeco.com , anderen zufolge stieg im Laufe des Jahres 2012 an (vgl. http://www.afriquinfos.com ) Wobei es für arbeitslose Gewordene (nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses) erst seit kurzem eine Absicherung, in Form einer Erwerbslosen-Unterstützung, für eine Dauer von maximal sechs Monaten gibt. Und diese steht unter Bedingungen. Vgl. dazu http://www.agenceecofin.com  sowie http://www.lavieeco.com

Tunesien lag sie zur Jahresmitte 2012 offiziell bei knapp 18 Prozent (vgl. http://www.tunisienumerique.com ), auch dort existiert eine Dunkelziffer, u.a. aufgrund einer hohen Beschäftigungsquote im „informellen Sektor“ ohne soziale Absicherung – dessen Lohnabhängige oftmals gerne in ein „reguläres“ Beschäftigungsverhältnis überwechseln würden.

Khadri (/ Khazri) stammte aus einem westtunesischen Dorf. Dort lebten noch seine Mutter und seine Brüder, die er von Tunis aus zu versorgen versuchte, nachdem sein Vater gestorben war. Hinterbliebenenrenten erlauben in Tunesien ebenso wenig wie die erst seit 2011 in Ansätzen vorhandene Arbeitslosenunterstützung, auch nur halbwegs menschenwürdig zu leben. Die Beerdigungsfeierlichkeiten Adel Khadris am 14. März 13 wurden zum Anlass für eine Wut- und Protestdemonstration von Hunderten Menschen in dem kleinen, schwer zugänglichen und kaum an den Verkehr angebundenen Dorf. Am selben Tag versuchten in Tunis erneut gleich drei Menschen, sich selbst zu verbrennen. Zur selben Zeit, während der das neue Regierungskabinett unter Premierminister Ali La’arayedh vereidigt wurde.

Viele Arbeitslose, besonders jene mit Hochschulabschluss (siehe Infokasten dazu), organisieren sich im gesamten Maghreb. In Marokko hat diese Strukturierung schon 1991 mit der offiziellen Zulassung ihrer Vereinigung, der Association nationale des diplômés chômeurs, begonnen. (Vgl. zu ihrer Geschichte: http://anneemaghreb.revues.org ) In Tunesien dagegen war sie erst nach dem Sturz des Polizeistaats von Ben Ali überhaupt möglich geworden; daraufhin begannen die Betreffenden sich in der Union des diplômés chômeurs (UDC) zusammenzuschließen; vgl. zu ihr auch neben stehenden Artikel zum Weltsozialforum in Tunis.

Heute tauschen sich diese Verbände in den benachbarten Ländern des Maghreb intensiv untereinander aus – in Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien. Am 20. Februar 2013 versuchten sie, gemeinsam eine Delegiertenkonferenz in Algier abzuhalten, die auch der inhaltlichen Vorbereitung des Weltsozialforums in Tunis dienen sollten. Doch die Tagung im Gewerkschaftshaus der algerischen Hauptstadt, wo die unabhängige Staatsbediensteten-Gewerkschaft SNAPAP sie als Gastgeber aufgenommen hatte, wurde jäh unterbrochen: Die Polizei umzingelte das Gebäude, nahm die Teilnehmer fest und durchwühlte später auch die Hotelzimmer von Delegierten. Ein Dutzend ausländische Delegierte wurden, nachdem sie anderthalb bis zwei Tage unter polizeilicher Bewachung am Flughafen festgehalten wurden, mit den nächstmöglichen Flügen nach Tunesien und Marokko abgeschoben. Auch drei algerische Gewerkschafter der SNAPAP wurden vorübergehend festgenommen. Aus Frankreich, Spanien, Marokko und aus Algerien selbst kamen daraus heftige gewerkschaftliche Proteste, aus Deutschland traf ein Solidaritätsschreiben vom „Runden Tisch gegen Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung“ ein.

Die Arbeitslosenproteste in Algerien selbst konnte dies nicht bremsen. Es ist die mit Abstand größte soziale Bewegung in Algerien seit den massiven Riots im Januar 2011 und dem – letztendlich gescheiterten – Versuch im Februar 2011, mittels Demonstrationen eine Oppositionsdynamik (ähnlich jener in Tunesien und Ägypten zur selben Zeit) zu initiieren. Schon seit Ende Februar dieses Jahres mobilisieren in dem nordafrikanischen Land Erwerbslose ganz massiv zu Protesten.

Von massiven Protesten betroffen sind insbesondere Städte in Südalgerien – d.h. südlich der Grenze der Sahara-Ausdehnung – wie Ouargla, Laghouat oder Hassi R’Mel. Dort haben die Menschen den Sektor der Erdöl- und Erdgasförderung, der den Löwenanteil der algerischen Staatseinnahmen erwirtschaftet, in unmittelbarer Nachbarschaft. Gleichzeitig verfügen sie, sofern überhaupt, meist nur über „Jobchancen“ bei Sub-Sub-Unternehmen, die oft üble Arbeitsbedingungen anbieten. Am 13. März sprach die algerische Tageszeitung El-Watan diesbezüglich von „einer neuen Form der Sklaverei“.

Am 14. März 13 – einem Donnerstag, der als Vortag des wöchentlichen moslemischen Gebetstags ungefähr dem Samstag in Europa entspricht - fand eine Demonstration von über 10.000 Arbeitslosen aus unterschiedlichen Landesteilen in Ouargla statt. Dazu rief zunächst das „Nationale Komitee für die Verteidigung der Rechte der Arbeitslosen“ (CNDDC) auf; es folgte die Mobilisierung vieler lokaler Gruppen. Die Stadt in der Sahara-Region selbst zählt insgesamt rund 133.000 Einwohner/innen. Doch Aktivisten waren zum Teil mit Bussen und Flugzeugen, aus dem übrigen Algerien angereist. Auf dem Weg nach Ouargla waren jedoch Delegierte aus Algerien und aus den östlich davon gelegenen Städten Sétif und M’sila auf den Straßen angehalten und vorübergehend festgenommen worden, wie sie den Organisatoren telefonisch mitteilen konnten.

Am Vortag des Protestzugs waren noch in aller Öffentlichkeit „Differenzen um den Marsch“ laut geworden, wie es El Watan formulierte. Einige der vorgeblichen Veranstalter oder Mitorganisatoren verkündeten eine angebliche (ersatzlosen) Absage des angekündigten Marschs. Der Hintergrund dazu ist folgender: Wie es zu seinen üblichen Gepflogenheit gehört, hatte das algerische Regime selbst „Aktivistengruppen“ bilden lassen, die als die einzig wahren und berechtigten Sprecher de Bewegung auftraten – um ihr die Spitze abzubrechen, und die ganz Sache alsdann fehlzuleiten oder notfalls zu spalten. Diese Praktiken kennt man allzu gut: So sind viele „autonome“, d.h. staatsunabhängige und nicht dem Dachverband UGTA angehörende, Gewerkschaften in Algerien damit konfrontiert, dass neben ihnen jeweils so genannte „Klon“ existieren. Also Organisationen sehr ähnlichen Namens, die zur Verwechselung einladen, aber an den Staatsapparat angebunden sind.

Der „harte Kern“ der Aktivisten um den Sprecher Tahar Belabès ließ sich jedoch nicht irre machen, sondern behielt ihren Protesttermin bei. Im Vorfeld hatten diverse Sprecher der Machthaber, aber auch vorgeblicher Oppositionsparteien – wie der linksnationalistischen Partei PT („Werktätigenpartei“, Parti des travailleurs), einer früher einmal trotzkistischen Kleinpartei, die im Parlament vertreten und seit etwa 2000 eng in das Spiel der Machthaber eingeflochten ist – mit Verschwörungstheorien wild um sich geworfen. Sie beschworen ständig die Vorstellung, eine „ausländische Hand“ stecke hinter den Protesten. Die PT etwa behauptete, es gehe darum, auch in Algerien einen durch die USA gelenkten und gesteuerten „arabischen Frühling“ à la Tunesien und Ägypten einzuläuten. Da bleibt, folgt man diesen traurigen politischen Figuren, dann doch lieber alles beim Alten...

Auch ein Abgeordneter der Regierungspartei FLN sprach von einer bewussten Strategie, die darauf ziele, Algerien in „den Schlammpfuhl des Chaos“ zu zerren. Der unabhängige Gewerkschafter und Unterstützer der organisierten Arbeitslosen Yacine Zaid, der im algerischen Laghouat lebt, sagte im Gespräch mit dem Verf. Dieser Zeilen: „Wer soll uns angeblich nicht alles unterstützt haben… Die CIA! Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, angeblich um eine Destabilisierung Algeriens und ein Szenario ähnlich wie in Libyen 2011 einzuleiten. Oder Qatar.“ Alles unhaltbare Vorwürfe, wie jene Journalisten feststellen mussten, die anlässlich der Proteste vor Ort waren.

Trotz solcher Schmutzkampagnen, aber auch der einschüchternden Drohung mit massiver Polizeipräsenz konnte der Marsch von über 10.000 Arbeitslosen reibungslos stattfinden. Die Polizei hielt sich weitestgehend zurück und trat zwar massiv mit Zivilbeamten, doch wenig sichtbar in Erscheinung.

Am Samstag, den 23. März 13 fanden weiterhin massive Demonstrationen von wütenden Arbeitslosen in den südalgerischen Städten Laghouat und Touggourt statt. (Vgl. http://www.liberte-algerie.com/ und http://www.liberte-algerie.com/ ) Hingegen kam es in Ouargla zum gewalttätigen Eingreifen der Gendarmerie, nachdem Teilnehmer die Freilassung von Festgenommen gefordert hatten; diese waren zuvor durch die Polizei aufgegriffen worden, weil Erwerbslose mehreren Stunden lang die Strae zwischen Ouargla und Ghadraïa blockierten konnten. Vgl.
http://www.elwatan.com/ oder http://maghrebinfo.fr/

Erneute Protestmärsche in Algerien sind für den 03. April d.J. geplant,
vgl. http://www.letempsdz.com//content/view/90018/1/  

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.