Europa erhält eine Schocktherapie wie Lateinamerika in den 80er und 90er Jahren

Interview mit Eric Toussaint

04/12

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Wie würden Sie die Zwangslage von EU-Ländern mit einer riesigen Staatsverschuldung wie Griechenland beschreiben?

Ihre Situation kann mit jener in Lateinamerika in den späten 1980ern verglichen werden.

Inwiefern?

Die Schuldenkrise in Lateinamerika brach 1982 aus. Die Krise des privaten Bankensektors in den Vereinigten Staaten und in Europa nahm in den Jahren 2008/2009 ihren Anfang und hatte sich bis 2010 zu einer Staatsverschuldungskrise entwickelt, die unter anderem von der Vergesellschaftung der von den Privatbanken erwirtschafteten Verluste1 und durch die krisenbedingten Steuerausfälle ausgelöst wurde. In Europa wie in Lateinamerika haben die Privatgläubiger und ihre Repräsentanten für mehrere Jahre nach Beginn der Krise erfolgreich sämtlichen Regierungen ihre Konditionen auferlegt. Sie zwingen die Regierungen dazu, brutale Strukturanpassungsprogramme durchzuführen, die zu Kürzungen öffentlicher Ausgaben und bei der Mehrheit der Bevölkerung zu einem Rückgang der Kaufkraft führen. Das wiederum bedeutet, daß die Volkswirtschaften in eine dauerhafte Rezession abrutschen.

Und trotzdem erreichte Lateinamerika selbst in den schlimmsten Momenten seiner Krise niemals ein Ausmaß der Verschuldung, welches mit dem vergleichbar wäre, was wir derzeit in den meisten Ländern der Euro-Zone erleben – hier liegt die Verschuldung bei über 100 % ihres Bruttoinlandprodukts.

Das Ausmaß der Verschuldung, das die europäischen Länder erreicht haben, ist in der Tat beeindruckend. In Griechenland beläuft sie sich auf 160 % des BIP und viele andere Länder in der EU stehen vor einem Schuldenberg, der bei 100 % ihres BIP liegt oder sogar übersteigt. Natürlich gibt es zwischen den beiden Krisen Unterschiede, aber für meinen Vergleich haben sie keine grundlegende Bedeutung.

Sie meinen, Ihr Vergleich konzentriert sich auf die politischen Konsequenzen der beiden Krisen?

Ja, natürlich. Wenn ich die aktuelle Situation in Europa mit der Situation in Lateinamerika während der zweiten Hälfte der 80er Jahre vergleiche, möchte ich darauf hinweisen, daß die Gläubiger – im Falle Europas die europäischen Banken und die Troika – Griechenland (und, daran besteht kein Zweifel, demnächst auch weiteren Ländern) Maßnahmen auferlegen, die stark an den Brady-Plan erinnern, der Ende der 1980er in Lateinamerika umgesetzt wurde.

Würden Sie das erläutern?

Ende der 1980er Jahre ist es den Gläubigern, d.h., der Weltbank, dem IWF, dem Pariser Club wie auch dem US-Finanzministerium und dem Londoner Club gelungen, gegenüber den lateinamerikanischen Ländern ihre Agenda und Auflagen durchzusetzen. Privatgläubiger haben einen Teil ihrer Kredite durch „Sekurisierung“, soll heißen, durch die Verbriefung von Krediten in Wertpapiere auf multilaterale Institutionen und die Staaten übertragen. Andere Bankkredite werden herabgestuft und in festverzinsliche Wertpapiere umgewandelt. Der Brady-Plan spielte also bei der Wahrnehmung der Interessen der Banker und der Durchsetzung einer permanenten Sparpolitik eine wichtige Rolle. Der Rettungsplan für Griechenland bewirkt das Gleiche: Er verringert den Wert des Schuldenbestands, der dann wie nach dem Brady-Plan in neue Schuldverschreibungen umgetauscht wird. So reduzieren die Privatbanken ihre Anfälligkeit gegenüber Griechenland (oder Portugal, Irland, ...) wie sie es gegenüber Lateinamerika getan haben. Dann übernehmen langsam aber allmählich die öffentlichen Gläubiger das Steuer und üben einen enormen Druck aus um zu gewährleisten, daß die von den Banken übernommenen neuen Anleihen auch in voller Höhe zurückgezahlt werden – Zinsen wie auch Kapital. Jeder Cent der Kredite an Griechenland wird für die Schuldenbegleichung aufgewendet werden. Währenddessen fordern Griechenlands öffentliche Gläubiger, also die Troika, eine permanente Sparpolitik im Sinne von Kürzungen bei Ausgaben für Soziales, massive Privatisierungen und eine Beschneidung wirtschaftlicher und sozialer Rechte, wie sie es seit Ende des 2. Weltkriegs vor 65 Jahren nicht mehr gegeben hat. Hinzu kommt eine umfassende Preisgabe der nationalen Souveränität in jenen Ländern, die das Pech haben, auf die Aufnahme weiterer Kredite zurückgreifen zu müssen. In Lateinamerika nannte man diese Zeit „die lange neoliberale Nacht“.

Die Gläubiger haben die lateinamerikanischen Länder auch gezwungen, Löhne, Renten und Sozialausgaben zu reduzieren und dem Imperativ der Schuldenrückzahlung in voller Höhe nachzukommen.

Deshalb sage ich ja auch, daß wir uns in einer ähnlichen Situation befinden. Derzeit sind noch nicht alle europäischen Länder involviert, lediglich die schwächeren Glieder in der Kette wie Griechenland, Portugal, Irland, Italien, Spanien, Ungarn, Rumänien, die baltischen Republiken und Bulgarien. Aus diesen Ländern stammen jedoch etwa 170 Mio. Einwohner der EU-Gesamtbevölkerung von 500 Mio. Menschen. Und auch die Mehrheit der übrigen europäischen Länder betreibt eine konservative Sozialpolitik, wenn auch in weniger brutaler Weise: Großbritannien (62 Mio. Einwohner), Deutschland (82 Mio. Einwohner), Belgien (10 Mio. Einw.) und Frankreich (65 Mio. Einwohner).

Das politische Ergebnis der Schuldenkrise in Lateinamerika war die Entstehung des neoliberalen Staats. Steuern auch wir in Europa darauf zu?

Das ist doch nichts Neues. Schon seit drei Jahrzehnten wird in Europa neoliberale Politik betrieben. Die Antwort auf die Krise, die der IWF und die Regierungen, die die Interessen der herrschenden Klassen wahren, die die Großbanken und die Multis formulieren, besteht ganz offensichtlich in der Verabreichung einer Schocktherapie, wie sie von Naomi Klein beschrieben wird. Ihr Ziel ist die Vollendung des neoliberalen Projekts, das 1979/80 von Margaret Thatcher in Großbritannien begonnen und in den 1980ern auf das restliche Europa ausgeweitet wurde. Für die mittel- und osteuropäischen Länder, die früher Teil des sowjetischen Lagers waren, ist das schon die zweite Schocktherapie innerhalb von 25 Jahren.

Aber in Europa existieren doch immer noch Restbestände des Sozialstaats.

Wie ich gerade sagte, haben die Regierungen die Zerschlagung der Sozialpartnerschaft und die Abschaffung der sozialen Rechte, die man zwischen 1945 und 1970 erworben hatte, in Angriff genommen. Nach dem 2. Weltkrieg haben die Menschen im Laufe von fünfunddreißig oder vierzig Jahren eine Reihe von Siegen errungen und sich mühsam ein recht solides System der sozialen Absicherung erkämpft: Tarife, Arbeitsrecht, etc., was die Arbeiter schützte und den Missbrauch der Leiharbeit verhinderte. Thatcher wollte all das abschaffen, aber nach dreißig Jahren neoliberaler Politik ist das zerstörerische Werk immer noch nicht vollendet worden. Ein paar Dinge sind einfach übrig geblieben.

Und die Schuldenkrise gibt die Gelegenheit, das fortzusetzen, was Thatcher begonnen hat.

Die Krise liefert den Grund für eine Schocktherapie, wie sie von den Gläubigern und den herrschenden Klassen in Lateinamerika in den 1980ern und 1990ern durchgefochten wurde.

In Peru wurde sie im August 1990 durchgesetzt.

Wir sind in ein Stadium weiterer Privatisierungen getreten. In Europa beabsichtigt man die Privatisierung der wichtigsten noch bestehenden staatlichen Unternehmen.

Wird auch Europa mit einer wie in Lateinamerika angewandten Sicherheitsdoktrin konfrontiert sein, wo Gewerkschaften als terroristisch eingestuft wurden?

Ein Trend zu autoritäreren Formen der Machtausübung ist in Europa ganz eindeutig gegeben. In Europa sind in den vergangenen 10 Jahren Anti-Terror-Gesetze verabschiedet worden, die soziale Bewegungen kriminalisieren. Die Repression nimmt zu, aber sie schließt nicht die physische Eliminierung von Aktivist_Innen mit ein, wie es in Lateinamerika Ende der 1970er und in den frühen 1980ern der Fall gewesen ist. Aber auch in folgender Hinsicht ist die Situation in Europa ähnlich der Lage, in der sich die lateinamerikanischen Länder befanden: Nach einer Zeit grausamer Diktaturen wurden in Argentinien, Chile, Uruguay und in Brasilien Übergangsregimes oder Demokratien errichtet, in denen man eine rigide neoliberale Politik verfolgte. In Europa durchlaufen wir eine Periode, in der die gesetzgebende Gewalt an den Rand gedrängt wird, Unternehmer wie in Italien zu Regierungschefs werden und man sich der Sozialpartnerschaft entledigt. Zur gleichen Zeit wird das Streikrecht beschnitten, die Aufstellung von Streikposten verboten und werden Demonstrationen unterbunden.

Wie reagieren die nationalen Parlamente in Europa auf diese vorgeschriebenen Sparmaßnahmen?

Sie werden einfach kaltgestellt, indem die Troika den Regierungen sagt: „ Wenn ihr Kredite wollt, müsst ihr Strukturanpassungsprogramme durchführen, für parlamentarische Debatten ist keine Zeit.“ Manche Programme wurden innerhalb weniger Tage angenommen, manchmal sogar in weniger als 24 Stunden.

Wie man an Griechenland sehen kann.

Ja, das ist das, was gerade in Griechenland passiert. Die Troika forderte die Verabschiedung eines weiteren Programms, das schließlich am Sonntag, den 12. Februar, die Zustimmung des Parlaments erhielt. Doch am nächsten Tag erklärte der EU-Wirtschaftskommissar, daß eine zusätzliche Kürzung von 325 Mio. € vonnöten sei, über die die griechische Regierung innerhalb der nächsten 48 Stunden zu entscheiden habe. Das zeigt, daß das griechische Parlament keine Entscheidungsmacht besitzt und daß das Regierungsgeschäft eigentlich von der Troika betrieben wird.

Das führte zu riesigen Demonstrationen.

Nicht nur in Griechenland, sondern auch in Portugal, Spanien, Frankreich und Italien, bis jetzt zwar nicht so massiv, aber das wird noch kommen. In mehreren europäischen Ländern, einschließlich Großbritannien, wird mobilisiert. In Belgien hatten wir Ende Januar 2012 den ersten Generalstreik nach 18 Jahren, der Wirtschaft und Transportwesen für 24 Stunden lahmgelegt hat.

Was sollte Griechenland tun, um aus dieser fürchterlichen Lage herauszukommen?

Griechenland muss mit einer einseitigen zeitweiligen Aufhebung der Schuldenrückzahlung aufhören, dem Diktat der Troika zu gehorchen, um seine Gläubiger in eine ungünstige Verhandlungsposition zu zwingen. Wenn Griechenland wie Ecuador im Februar 2008 die Rückzahlungen einstellt, werden sämtliche Inhaber ihre Schuldverschreibungen zu maximal 30 % ihres Nennwerts abstoßen. Das wird die Position der Wertpapierinhaber schwächen und der griechischen Regierung selbst in einer solchen prekären Situation eine erhöhte Kaufkraft verleihen.

Ecuador stellte nach einem Schuldenaudit (Prüfung der Schuldenlast – Anm. d. Ü.) im November 2008 die Zahlung für Wertpapiere ein, wobei man dort nicht so schlecht dran war wie derzeit in Griechenland. Argentinien hörte 2001 in einer Situation auf zu zahlen, die der in Griechenland ähnlich war.

Tatsächlich funktioniert der Vergleich mit Argentinien besser; da Argentinien für die Rückzahlungen zu wenig Geld hatte, setzte man dort die Zahlungen aus, und was die Finanzmärkte betrifft, wurden sie drei Jahre lang, vom Dezember 2001 bis zum März 2005, nicht mehr aufgenommen. Mit den Rückzahlungen an den Pariser Club hat man noch gar nicht angefangen. Und weil man das in Argentinien so gemacht hat, wurde das Wirtschaftswachstum wieder angeschoben und von den Gläubigern eine Umschuldung erzwungen, die um 60 % unter dem ursprünglichen Wert lag.

Mit der Folge, daß Argentinien bis zum heutigen Tag keinen Zugang mehr zu den Finanzmärkten hat.

Das stimmt, aber Argentinien ist in den 10 Jahren, in denen es von den Finanzmärkten ausgeschlossen ist und dem Pariser Club nicht zurückzahlt, in den Genuss einer jährlichen Wachstumsrate von durchschnittlich 8 % gekommen. Das beweist, daß ein Land auch außerhalb der Finanzmärkte anderweitig Finanzierungsmöglichkeiten auftun kann. Auch Ecuador legt auf den Finanzmärkten keine neuen Anleihen mehr auf – und seine Wachstumsrate betrug 2011 6 %, während Griechenlands Bruttoinlandsprodukt um 7 % gefallen ist.

Aber Ecuador borgt von China zu sehr hohen Zinsen.

Stimmt. Angesichts dieser neuen Finanzquelle wird Ecuador Wege finden müssen, seine Souveränität zu wahren. Genau aus diesem Grund muss die „Bank des Südens“ unbedingt funktionstüchtig gemacht werden.

Lassen Sie uns wieder auf Griechenland zurückkommen. Viele Analysten, Sie eingeschlossen, behaupten, daß ein großer Teil der griechischen Schulden illegitim sind.

Selbstverständlich.

Aber das kann doch nur durch eine Prüfung bestimmt werden.

Teile der sozialen Bewegung in Europa haben aus den Erfahrungen, die man in Lateinamerika gemacht hat, ihre Lehren gezogen. Unsere Forderung nach einem Schuldenaudit durch die Bürger ist von weiten Kreisen aufgenommen worden. In sieben europäischen Ländern (Griechenland, Frankreich, Portugal, Spanien, Irland, Italien und Belgien) werden derzeit zivilgesellschaftliche, von der Regierung unabhängige Prüfungen der Schuldenlast entweder durchgeführt oder in die Wege geleitet.

Meinen Sie, das führt insbesondere in Griechenland zu einem offiziellen Schuldenaudit?

Das werden wir sehen. Dafür wäre ein Regierungswechsel nötig, was bedeutet, daß die soziale Bewegung stark genug sein muss, um den Maßnahmen der Regierung, die die Gläubiger begünstigen, ein Ende zu setzen und eine andere Regierung an die Macht zu bringen. Um das in Ansätzen zu erreichen, brauchte Lateinamerika 20 Jahre.

Dann muss noch eine Menge getan werden, bevor wir einen Kurswechsel der europäischen Regierungen, vor allem der Regierung in Griechenland, erleben.

Die gegenwärtige Krise könnte durchaus noch die nächsten 10 bis 15 Jahre andauern. Wir befinden uns lediglich im ersten Stadium des Widerstands. Es wird ein langer und harter Kampf werden. Eine absolute Notwendigkeit ist, daß die sozialen Bewegungen in Europa all ihre Kräfte bündeln, um ihre aktive Solidarität mit der griechischen Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen und eine gemeinsame europäische Plattform für den Widerstand gegen die Sparpolitik und für die Streichung unrechtmäßiger Schulden zu errichten.

Anmerkungen

1Die Kosten für die Bankenrettung sind von den europäischen Regierungen übernommen worden. Die von der Schuldenkrise am stärksten betroffenen Länder sind Irland, Großbritannien, Spanien, Belgien und die Niederlande. Weitere Bailouts sind zu erwarten.

Editorische Hinweise

Das Interview führte Carlos Alonso Bedoya und wurde in der peruanischen Tageszeitung La Primera veröffentlicht. Die vorliegende Fassung ist von Eric Toussaint vollständig überarbeitet worden. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Andrea Eismann. Diese Fassung wurde erstveröffentlicht bei http://wz.subfiles.net

Wir erhielten ihn von der Übersetzerin zur Zweitveröffentlichung.

Eric Toussaint, Doktor der Politikwissenschaft und Präsident des Brüsseler Komitees für Schuldenstreichung in der Dritten Welt (CADTM) ist Mitglied der Kommission für einen Schuldenaudit in Ecuador (CAIC), deren Befunde dazu führten, daß Ecuador die Zahlung eines Teils seiner Schulden einstellte. Er behauptet, daß Griechenland mit der Schuldenrückzahlung aufhören und sich gegen die Troika (die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds und die EU-Kommission) auflehnen muss, wenn es nicht im Sumpf einer Dauerrezession versinken möchte.