Für Befreiung und Emanzipation!
Kritik der marxistisch-leninistischen Organisierung - oder: Nur wer das Ziel kennt, findet den Weg!
von Harry Waibel04/11
trend
onlinezeitung Welches dialektische Verhältnis besteht zwischen einer revolutionären Organisation und dem Proletariat? Was ist aus den Fehlern und Niederlagen des marxistisch-leninistischen Flügels der Internationalen Arbeiterbewegung zu lernen?Durch meine Studien auf der Grundlage von Archivmaterial zum Rassismus und Anti-Semitismus in der DDR, habe ich Einblicke in interne Abläufe der gesellschaftspolitischen Hierarchie im Allgemeinen und der SED im Besonderen. Dabei wurde ich in Lernprozesse verwickelt, mit deren Hilfe ich die furchtbare Praxis des „Demokratischen Zentralismus“, als wesentlichen Bestandteil der marxistisch-leninistische Ideologie, verstehen konnte. Die daraus entwickelte historisch begründete Kritik der marxistisch-leninistischen Ideologie beschreibt die Auswirkungen dieser autoritären Konzeption auf das Modell einer Kommunistischen Partei, also der KPdSU, so wie es auch von Lenin und Trotzki vertreten wurde. Welche historisch-politischen Folgen sind dabei zu gegenwärtigen, besonders seit sich J. Stalin der leninistischen Organisationsform willkürlich bedienen konnte.
I.
In ihrem kritischen Aufsatz „Zur russischen Revolution“ (1918 geschrieben und 1922 posthum durch Paul Levi veröffentlicht), beschreibt die Genossin Luxemburg beinahe prophetisch die Auswirkungen eines „Diktatorischen Sozialismus“, wie er bis dahin von Lenin und Trotzki vertreten wurde:
„Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne […] Ja noch weiter: Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate, Geiselerschießungen, etc. Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag.“1
Diese Kritik der Genossin Luxemburg trifft den entscheidenden Punkt revolutionärer Auffassung: Die Dialektik zwischen einer kommunistischen Partei zu den Massen. Lenin und Trotzki setzten auf autoritäre Unterwerfung, also auf den „Demokratischen Zentralismus“, einer Befehlsstruktur die sie dem Militärischen entlehnten. R. Luxemburg konnte jedoch bei aller theoretischen Klarheit und präziser Formulierkunst nicht voraussehen, dass sich die von ihr kritisierte Entwicklung in eine blutrünstige Mordmaschine verwandelte, mit der jeder innere oder äußere Widerspruch, ob vollzogen oder nicht, vernichtet werden konnte.
II.
Das erste Exempel auf dieser Linie war die Zerschlagung des Aufstands der Kronstädter Kommune von Ende Februar bis zum 18. März 1921, durch regierungstreue bolschewistische Truppen. Die bolschewistischen Führer hätten eine Wahl gehabt, und das sie hier keine Verhandlungslösung angestrebt haben, ist nur mit ihrer dogmatischen und autoritären Haltung zu verstehen! Zum besseren Verständnis stelle ich hier auszugsweise Forderungen der Kronstädter Matrosen und Arbeiter vor, gegen die die Bolschewisten ihre Truppen in Marsch gesetzt hatten:
- „Neu-Wahlen mit geheimer Abstimmung
- Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter, Bauern, Anarchisten und linksstehende sozialistische Parteien
- Sicherung der Versammlungsfreiheit für Arbeitergesellschaften und Bauernorganisationen
- Einberufung einer Konferenz parteiloser Arbeiter, Soldaten der Roten Armee und Matrosen von Petrograd, Kronstadt und der Petrograder Provinz für nicht später als den 10. März 1921
- Befreiung aller politischen Gefangenen der sozialistischen Parteien und aller in Verbindung mit Arbeiter- und Bauernbewegungen eingesperrten Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen
- Wahl einer Kommission zur Revision der Fälle von Inhaftierten (in der deutschen Übersetzung: „in Gefängnissen und Konzentrationslagern“ befindlichen“)
[…]“
Das Programm der Kronstädter Kommune stellt den letzten Versuch dar, die proletarischen, revolutionären Ideale des Oktober 1917 zu verwirklichen und der Vergleich mit der Pariser Commune von 1871 drängt sich auf. An diesem Programm war nichts konterrevolutionär, konterrevolutionär waren die Bolschewisten unter der Führung von Lenin und Trotzki, die die humanistischen und demokratischen Ideale der Internationalen Arbeiterbewegung verraten hatten.
Lenin forderte auf dem 10. Parteitag der KP Russlands in Moskau vom 8. bis 15. März 1921:
„Wir brauchen jetzt keine Opposition. […] Und ich denke, der Parteitag wird diese Schlussfolgerung ziehen müssen, dass es jetzt mit der Opposition zu Ende sein, ein für allemal aus sein muß, daß wir jetzt der Opposition müde sind!“.
Daraufhin beschloss der Parteitag, dass alle oppositionellen Gruppen in der Partei aufgelöst wurden und/oder aus der Partei ausgeschlossen wurden. Opposition wurde somit zum Verbrechen erklärt. Der Aufstand von Kronstadt zerstörte einen sozialen Mythos: den Mythos, daß im bolschewistischen Staat die Macht in den Händen der Arbeiter liegt. Weil dieser Mythos unzertrennlich mit der ganzen bolschewistischen Ideologie verbunden war und ist, weil in Kronstadt mit der Verwirklichung der echten Arbeiterdemokratie ein bescheidener Anfang gemacht wurde, deshalb bildet Kronstadt für die an der Macht befindenden Bolschewiki eine tödliche Gefahr. Aus diesem Grund waren die bolschewistischen Führer „gezwungen“, den Aufstand in Kronstadt niederzuschlagen. In ihrer Presse bezeichneten die Führer der Bolschewisten den Aufstand in Kronstadt als Konterrevolution und dieser Schwindel wird seither von Trotzkisten und Stalinisten bis heute verbreitet.
Die bolschewistische Partei holte sich ihre geistigen Waffen beim Marxismus, der einzigen radikalen Theorie, bei der sie anknüpfen konnte. Dies war aber der theoretische Ausdruck eines hochentwickelten Klassenkampfes, wie ihn Rußland nicht kannte und für den in Rußland auch das richtige Verständnis fehlte. So geschah es, daß das, was sich auf russischem Boden als „Marxismus“ entwickelte, mit dem Marxismus nur den Namen gemein hatte, in Wirklichkeit aber dem jakobinischen Radikalismus eines Auguste Blanqui zum Beispiel viel näher stand, als den Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels. Der Marxismus wurde in Rußland zu einer staatstragenden Ideologie, und entwickelte sich unter Stalin zum pseudo-theoretischen Marxismus-Leninismus. Der kaum entwickelte Kapitalismus wurde nicht gestürzt; es blieb die Lohnarbeit. Nicht die russische Arbeiterklasse bekam die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, sondern sie fiel der bolschewistischen Partei bzw. dem Staat zu. Von einer Machtausübung durch die Arbeiterklasse kann keine Rede sein. Aufgrund des Fehlens einer wirklichen Arbeitermacht entwickelte sich die politische Herrschaft nicht in die Richtung einer von ökonomischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung befreiten Gesellschaft, sondern wurde selbst zu einem neuen, anderen Instrument der Ausbeutung und Unterdrückung. In Kronstadt zwangen russische Matrosen und Arbeiter die bolschewistische Partei dazu, in ihrem wahren Gewande aufzutreten: als eine unverhüllt arbeiterfeindliche Institution, deren einziger Zweck die Errichtung einer staatskapitalistischen Ordnung war. Mit der Niederwerfung des Aufstands unter der Führung von Trotzki wurde dafür der Weg frei. [1]
III.
In den 1920er Jahren wurden echte oder vermeintliche politische Gegner aus der KPdSU ausgeschlossen. Ab den 1930er Jahren wurden vom staatlichen Terror Betroffene zunehmend mit gefälschten Vorwürfen in Schau- und Geheimprozessen zum Tod oder zu Lagerhaft und Zwangsarbeit im GuLag verurteilt. Dafür wurden regelmäßig entsprechende Geständnisse unter Folter erpresst. Die politischen Säuberungen erreichten ihren Höhepunkt im „Großen Terror“ in den Jahren 1936 bis 1938. In dieser Zeit wurden täglich etwa 1.000 Menschen ermordet. Zu Beginn des Jahres 1953 zählte das GuLag-System dann über 2,7 Mio Häftlinge.[2] Die zweite „Säuberungswelle“ setzte Ende des Jahres 1947 ein und war hauptsächlich auf Juden gerichtet, die als „wurzellose Kosmopoliten“ denunziert worden waren. Am 19. Dezember 1947 wurden mehrere Mitglieder des „Jüdisch-Antifaschistischen-Komitees“ verhaftet. Wenige Wochen später, am 13. Januar 1948 wurde der Vorsitzende des Komitees, Salomon Michoels, in Minsk ermordet aufgefunden. Nach offiziellen Angaben war er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein paar Monate später, am 21. November 1948, wurde das „Jüdisch-Antifaschistische Komitee“ unter dem Vorwand aufgelöst, es sei zu einem „Zentrum antisowjetischer Propaganda“ geworden. In den darauffolgenden Wochen wurden alle Mitglieder des Komitees verhaftet. Im Februar 1949 startete die sowjetische Presse eine breite „antikosmopolitische“ Kampagne. In den ersten Monaten des Jahres 1949 wurden, vor allem in Leningrad und Moskau, Hunderte von jüdischen Intellektuellen verhaftet. Juden wurden systematisch kaltgestellt, vor allem in der Kultur, dem Informationswesen, der Presse, dem Verlagswesen, der Medizin, kurz: in all den Bereichen, in denen sie an verantwortlichen Stellen gesessen hatten. Der Prozess gegen die Mitglieder des „Jüdisch-Antifaschistischen Komitees“ fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter strengster Geheimhaltung vom 11. bis 18. Juli 1952 statt, das heißt zweieinhalb Jahre nach Festnahme der Angeklagten. 13 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt und am 12. August hingerichtet, gleichzeitig mit zehn anderen „Sabotage-Ingenieuren“ der Stalin-Autowerke, die alle Juden waren. Insgesamt kam es in der „Sache“ des „Jüdisch-Antifaschistischen Komitees“ zu 125 Verurteilungen, davon 25 Todesurteile, die alle vollstreckt wurden und zu 100 Verurteilungen zu Lagerhaft zwischen 10 und 25 Jahren.
Im Oktober 1951 ließ Stalin eine Gruppe altgedienter jüdischer Funktionäre aus dem Sicherheitsdienst und aus der Staatsanwaltschaft verhaften. Zu den Verhafteten gehörte u. a. der sowjetische Geheimdienstoffizier Oberstleutnant Naum I. Eitingon, der 1940 auf Befehl von Lawrenti Berija, damals Minister für Staatssicherheit, die Ermordung Trotzkis organisiert hatte. Weiterhin gehörten zu den Verhafteten General Leonid L. Schwarzmann, der Folterer des Journalisten und Schriftstellers Isaak Babel und des Regisseurs und Schauspielers Wsewolod Meyerhold, sowie der Untersuchungsrichter Lew Scheinin, er war der rechte Arm von Andrej J. Wyschinski, Staatsanwalt der Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938. Unter der Leitung von Wiktor S. Abakumow, er war von 1946 bis 1952 Minister für Staatsicherheit und Nachfolger von Lawrenti Berija, wurden die Angeklagten beschuldigt, eine großangelegte „jüdisch-nationalistische Verschwörung“ organisiert zu haben.
Von Ende 1952 bis zum Tod von Stalin am 5. März 1953, haben Stalin und die KPdSU unter der Überschrift „Ärzteverschwörung“, einige der angesehensten und bekanntesten Ärzte der UdSSR beschuldigt, sie wären beteiligt an einer riesigen, „jüdisch-zionistischen Verschwörung“, deren Ziel es gewesen sei, im Auftrag US-amerikanischer Geheimdienste, die oberste sowjetische Politik- und Militärführung zu vergiften. Es kam zu Massenverhaftungen von sowjetischen Juden, die in Lager verbracht oder hingerichtet wurden. Die Prawda verkündete am 13. Januar 1953, dass die Verschwörung einer „terroristischen Ärztegruppe“, die aus neun, später aus 15 angesehen Ärzten bestand, aufgedeckt worden war. Sie wurden beschuldigt, ihre hohen Ämter im Kreml genutzt zu haben, um das Leben von Andrej Schdanow, dem im August 1948 verstorbenen Mitglied des Politbüros, und das Leben des 1950 verstorbenen Alexander Scherbakow „abgekürzt“ zu haben. Außerdem sollten sie auf Befehl des US-Intelligence-Service und der jüdischen Hilfsorganisation „American Joint Distribution Committee“ versucht haben, hohe sowjetische Militärführer zu ermorden. Wie bei den „Säuberungen“ von 1936 bis 1938 organisierte die KPdSU Tausende von Kundgebungen, auf denen u. a. die Bestrafung der Schuldigen sowie die Rückkehr zur wahren „bolschewistischen Wachsamkeit“ gefordert wurde. Auf diesem paranoiden Nährboden entwickelten offizielle Stellen der Sowjet-Union anti-zionistische und anti-semitische Vorstellungen, die in der Abteilung Agitation und Propaganda des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU besonders stark vertreten waren. In dieser Abteilung war bereits im August 1942 ein internes Schreiben verfasst worden, in dem über eine angeblich „beherrschende Stellung der Juden in künstlerischen, literarischen und journalistischen Kreisen“ fantasiert wurde. Nach dem Tod Stalins, wurden am 3. April 1953 die Verhafteten vom Präsidium der KPdSU offiziell freigesprochen.
Parallel zu diesen Ereignissen in der Sowjet-Union, wurde in der CSSR, in Prag, am 22. November 1952 ein Prozeß eröffnet gegen Rudolf Slansky, dem ehemaligen Generalsekretär der tschechoslowakischen KP und gegen 13 andere kommunistische Parteifunktionäre. Elf von ihnen wurden zum Tode verurteilt und gehängt. Eine der Besonderheiten dieser Justizfarce, die von Anfang bis Ende von den sowjetischen Beratern der politischen Polizei inszeniert worden war, war ihr offen anti-semitischer Charakter. Elf von den 14 Angeklagten waren Juden, und was man ihnen vorwarf, war die Bildung einer „trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Terrorgruppe“.
Auch in der DDR kam es durch die SED zu Verfolgungen von jüdischen Funktionären und Kommunisten, ohne das es dort jedoch zu Todesurteilen gekommen war. Einer der prominenten Fälle war hier die Verurteilung und Inhaftierung des nicht-jüdischen Kommunisten Paul Merker. Hunderte von Jüdinnen und Juden verließen in diesem Klima der Verfolgung Anfang der 1950er Jahre die DDR und flüchteten nach West-Berlin. Die Entwicklung der sogenannten anti-zionistischen Außenpolitik gegenüber Israel und den arabischen Staaten, hat in diesem anti-semitischen Klima ihren Anfang genommen.
IV.
Der Militarismus blieb eine mögliche Variante der bolschewistischen Führung der KPdSU auch über den Tod Stalins hinweg und zeigte sich in den militärischen Interventionen gegen oppositionelle Bewegungen in der Sowjet-Union selbst und in den Staaten, die von der Sowjet-Union kontrolliert worden waren. So kam es im Juni 1953 Juni in der DDR zum Einsatz von Einheiten der Volkspolizei und der Sowjetischen Armee, die den Aufstand der ost-deutschen ArbeiterInnen blutig niederschlugen. Im März 1956 geschah in der Hauptstadt Georgiens, in Tiflis, ein Massaker durch Einheiten der Sowjetischen Armee. Ebenfalls im Oktober und November 1956 wurde die Opposition in Ungarn, u. a. wurden dort „Freie Wahlen“ gefordert, von Einheiten der Sowjetischen Armee blutig niedergeschlagen. In der SED wurde damals überlegt, ob Freiwilligen-Verbände nach Ungarn geschickt werden sollten, um den ungarischen Widerstand zu brechen. Im August 1968 beendeten Truppen des Warschauer Paktes den Versuch in der CSSR einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen mit brachialer Militärgewalt. Die SED hatte Truppen der „Nationalen Volksarmee“ (NVA) und der Grenzschutzeinheiten mobilisiert, die in Sachsen in Bereitschaft gehalten wurden.
Gleiches geschah bei der Niederschlagung der polnischen Arbeiterbewegung von 1981 bis 1983 durch eine Diktatur des polnischen Militärs. Auch hier hatte die SED Truppenteile der „Nationalen Volksarmee“ (NVA) an der Grenze zur VR Polen in Bereitschaft gestellt, um bei Bedarf in Polen einmarschieren zu können.
Roter Terror gegen Angehörige von KPD bzw. SED und KPdSU
Die Beziehungen der KPD bzw. SED zur KPdSU haben ihre Anfänge in den 1920er Jahren und sie waren geprägt von der Unterwerfung der deutschen Kommunisten unter die KPdSU bzw. unter die Knute der Kommunistischen Internationale. Die Ermordung deutscher Kommunisten im sowjetischen Exil ist nur im Zusammenhang mit den Stalinschen „Säuberungen“ zu verstehen, bei denen nicht nur über 1 Million sowjetischer Kommunisten ermordet worden waren, sondern bei denen im Sinne der Sippenhaftung auch Familienangehörige der Verhafteten von Repressalien betroffen waren. Von den 32 Mitgliedern des Politbüros der KPdSU zwischen 1919 und 1938 fielen 17 den „Säuberungen“ zum Opfer. 40 Mitglieder des Zentralkomitee (ZK) der KPdSU wurden liquidiert, 18 frühere Volkskommissare, 16 Botschafter und Gesandte, fast sämtliche Vorsitzende der einzelnen Republiken wurden erschossen oder kamen in der Verbannung in Sibirien um. Auch in der sowjetischen Armee wütete der Terror: Ihm fielen fast alle 80 Mitglieder des 1934 geschaffenen obersten Kriegsrates und circa 40.000 höhere Offiziere zum Opfer. Allein aus dem höheren Offizierskorps verschwanden drei von fünf Marschällen, sowie 13 von 15 Armeekommandeuren. Die Willkürherrschaft Stalins und der Bolschewiki forderten nicht nur Opfer in der KPdSU. Repressalien richteten sich auch gegen die Führer der Kommunistischen Internationale. Die beiden Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale, Grigori J. Sinowjew und Nikolai I. Bucharin wurden hingerichtet, zugleich wurde das Personal des Apparates der Komintern fast völlig dezimiert, die wichtigsten Führungskräfte wurden liquidiert.
Vor allem auch deutsche Kommunisten wurden verfolgt. Die KPD war seit 1933 durch das NS-Regime in die Illegalität gedrängt und die Führung und viele Funktionäre flüchteten ins Ausland um von dort den Kampf gegen den NS-Faschismus fortzusetzen. Nur ein Teil der emigrierten deutschen Kommunisten gelangte in die Sowjet-Union, die vor 1933 als „Vaterland“ angesehen worden war. Seit 1935 residierte der Kern des Politbüros der KPD in Moskau. Während der Stalinschen „Säuberungen“ ab 1936 sind von den dort weilenden mehreren tausend deutschen Kommunisten, vermutlich Tausende inhaftiert und davon etliche Hundert ermordet worden. So bestand ihre Tragödie vor allem darin, daß sie von Gleichgesinnten, auf Befehl ihres Idols Stalin fälschlich als Agenten der SS und der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) beschimpft, ihrer Ehre beraubt und schließlich ermordet wurden. Nach der Niederlage des NS-Faschismus verschwiegen die deutschen Kommunisten zunächst, daß in den Moskauer „Säuberungen“ auch Funktionäre der KPD verhaftet und ermordet worden waren. Margarete Buber-Neumann berichtete 1949 erstmals über die Geschehnisse um deutsche Kommunisten in der Sowjet-Union in ihrem Band: „Als Gefangene bei Stalin und Hitler“. Durch sowjetische Behörden wurden deutsche Kommunisten, darunter auch Juden, an Hitler-Deutschland ausgeliefert (ca. 4.000 Personen). West-Deutsche Kommunisten hatten die Schilderungen Buber-Neumanns als Fälschung denunziert und es kam deswegen sogar zu einem Gerichtsverfahren in Frankfurt (Main). Alle DDR-Veröffentlichungen der 1960er Jahre praktizierten die Methode, die von der SED später als „Rehabilitierung“ umgedeutet worden war: Namen und Funktionen wurden wieder genannt und Bildretuschierungen wurde unterlassen, doch über das Schicksal der Stalin-Opfer, über ihre Ermordung wurde weiterhin, bis 1989, nichts geschrieben.[3]
V. Schluss und Ausblick
Wie wird ein Ausweg aus dem krisenhaften Auf und Ab der kapitalistischen Volkswirtschaft aussehen können? Immer wieder stehen neue Generationen von Arbeiterinnen und Arbeitern vor der bitteren Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise nur zu haben ist, mit ihren periodisch auftretenden Krisen und der strukturellen Unterprivilegierung der Proletarier und ihrer Familien auf fast allen wesentlichen Gebieten des politischen und sozialen Lebens unter kapitalistischen und bürgerlichen gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den proletarischen Klassenkampf und für die Veränderung der politischen und ökonomischen Ordnung des Kapitalismus? In ihrer berühmt gewordenen Schrift „Zur russischen Revolution“ reflektiert die Genossin Luxemburg den Zusammenhang von demokratischen und sozialistischen Strukturen:
„Sozialistische Demokratie beginnt mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats.“[4]
Vorstellungen über eine sozialistische Revolution sind eng verbunden mit Vorstellungen über Gewalt, also über Straßenkampf, brennende Barrikaden oder terroristisches Vorgehen. Diesen falschen Vorstellungen hat Luxemburg einen Riegel vorgeschoben, und sie hat die proletarische Revolution an die Bewegung von Millionen von Menschen geknüpft, die revolutionäre Veränderungen wollen:
„Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie haßt und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmaße des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen.“[5]
Karl Marx beschreibt 1880 in der Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei nötige Überlegungen für Subversive, die sich an bürgerlichen Wahlen beteiligen:
„[…] in Erwägung, daß die kollektive Aneignung nur von einer revolutionären Aktion der Klasse der Produzenten – dem Proletariat –, in einer selbständigen politischen Partei organisiert, ausgehen kann; daß eine solche Organisation mit allen Mitteln, über die das Proletariat verfügt, angestrebt werden muß, einschließlich des allgemeinen Wahlrechts, das so aus einem Instrument des Betrugs, daß es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt wird;[6]“
Für Sozialisten/Kommunisten ist es nicht nur die Aufgabe selbstkritisch aufzuklären über die Niederlagen, Fehler und Irrtümer der alten Arbeiterbewegung, sondern es gilt die Klasse der Lohnabhängigen darüber zu informieren, dass es für sie erst dann eine Chance für eine individuelle und kollektive Emanzipation, für ein Leben ohne ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung geben kann, wenn der Kapitalismus abgeschafft und eine neue, sozialistische Gesellschaft erkämpft sein wird, wenn also politische und soziale Voraussetzungen geschaffen worden sind, die es ermöglichen die alten Träume der Menschheit für gerechte Verhältnisse zu verwirklichen.
Rudi Dutschke beendete seine Analyse „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus“ mit einem Ausruf:
„Abschaffung des Herrschaftsstaates und Abschaffung der Lohnarbeit als höchstes Ziel. Entwicklung konkreter Übergangsprogramme, damit die historischen Schritte immer auch die Schritte der Annährung an eben diese Utopie sind. Diese Programme haben wir nicht. Wir brauchen sie. Wir brauchen sie jetzt. […] Sozialismus mit konkreter Freiheit oder modernisierte Barbarei – das ist erneut die Frage.“[7]
Die hier vorgestellten sechs Thesen sind als Begründung zu verstehen, für die Notwendigkeit einer proletarischen Organisierung, deren wesentlichstes Merkmal eine horizontale Struktur ist, die also ohne Führer auskommt. Die Rolle der Kommunisten im Klassenkampf ist, so wie ich es sehe, nicht wie die von Chefs über ihre Arbeiter bzw. Angestellten oder wie die von Offizieren über ihre Soldaten. Das ist im Kern die wesentliche Differenz zum Parteikonzept des „Demokratischen Zentralismus“, so wie es von Lenin und Trotzki entwickelt und durchgesetzt worden ist. Im Grunde genommen ist das der Kern einer nicht autoritären Partei, bei der die proletarische Basis die Bedingungen des Klassenkampfs selbst formuliert und durchsetzt.
Anmerkungen
1 Luxemburg, GW 4, 1983, S. 362.[1] Vgl. Klaus Gietinger: Die Kommune von Kronstadt, in: www.bone-net.de/textgut/kronstadt1.htm; Vgl. Volin (Ps. Wsewolod Michailowitsch Eichenbau): Der Aufstand von Kronstadt, neu herausgegeben und bearbeitet von Jochen Knoblauch, Münster 1999; Vgl. Cajo Brendel: Kronstadt: Proletarischer Ausläufer der Russischen Revolution, in: www.infopartisan.net/archive/brendel/crnstadt.html[2] Vgl. Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjet-Union, in: Stéphan Courtois u.a.: Schwarzbuch des Kommunismus, München 2004, S. 51-295; Vgl. Victor Serge (Ps. Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch): Für eine Erneuerung des Sozialismus, Hamburg 1975; Vgl. Victor Serge: Für eine Erneuerung des Sozialismus. Unbekannte Aufsätze. Hamburg 1975.[3] Vgl. Hermann Weber: „Weiße Flecken“ in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Berlin 1990.[4] Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, GW, Band 4, S. 362-365.[5] Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund?, GW, Band 4, S. 442-443.[6] Karl Marx: Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei, Anfang Mai 1880, MEW 19, S. 238.[7] Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und de westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, Berlin 1974, S. 334.Editorische Hinweise
Der Text ist das überarbeitete Manuskript des Vortrags, den Harry Waibel am 25.1.2011 zur Eröffnung des Veranstaltungswochenendes 15 Jahre TREND Onlinezeitung gehalten hat.
Wir bekamen ihn vom Autor für diese Ausgabe.