Nordafrika
Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten – Versuch eines Überblicks

von Bernard Schmid

04/11

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Aufgeschoben ist, in diesem Falle muss man wohl sagen: leider, nicht aufgehoben. Ursprünglich sollte die so genannte „Konferenz von Karthago“ Ende März dieses Jahres 2011 stattfinden, doch zu Anfang desselben Monats wurde sie um einen Zeitraum von zwei bis drei Monaten verschoben. Karthago - oder französisch Carthage - ist nicht nur eine aus der Antike bekannte Stadt, sondern auch ein Vorort von Tunis, wo der tunesische Präsidentenpalast steht. An der Konferenz sollten, und sollen, neben Spitzenpolitikern Tunesiens vor allem auch führende Vertreter der Europäischen Union teilnehmen, unter ihnen die Auβenministerin der Union, Catherine Ashton. Es wird bei ihr insbesondere darum gehen, nach den politischen Umbrüchen in Tunesien ein angeblich „bewährtes“ Wirtschaftsmodell festzuzurren - und auch nach dem Abgang des alten Regimes einen autoritären Neoliberalismus unter nunmehr demokratisierter Fassade beizubehalten. 

Vereinbart worden war die Abhaltung dieser Konferenz am 10. Februar 11 telefonisch, zwischen dem damaligen tunesischen Übergangspremierminister Mohamed Ghannouchi und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (vgl. http://www.africanmanager.com/articles/132265.html). Obwohl Deutschland politisch keine derart wichtige Rolle in Nordafrika spielt wie die frühere Kolonial- bzw., im Falle Tunesiens, Protektoratsmacht Frankreich, hat die führende Wirtschaftsmacht des europäischen Kontinents dort doch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.  

Übergangspremierminister Mohamed Ghannouchi - ein „Überbleibsel“ des alten Regimes, denn er hatte bereits seit dem 17. November 1999 als Regierungschef des gestürzten Präsidenten Ben ’Ali amtiert - ist inzwischen durch die tunesische Demokratiebewegung gestürzt worden. Infolge äuβerst massiver Proteste musste er am 27. Februar, nach mehreren Wochen zähen Hinhaltens, aufgeben und seinen Hut nehmen. Zu seinem Nachfolger wurde der 84jährige Béji Caïd Essebsi, der zwar in der Vergangenheit ebenfalls als Innenminister des Regimes amtierte - allerdings nicht unter dem verhassten Präsidenten Ben ’Ali, sondern unter dessen (jedenfalls im Nachhinein und mit zeitlichem Abstand etwas stärker geschätzten) Amtsvorgänger Habib Bourguiba. Letzterer war Staatschef zwischen dem Jahr der Unabhängigkeit 1956 und seiner Absetzung durch Ben ’Ali im November 1987. Essebsi, der es bislang geschafft hat, nicht derart schlecht beleumdet zu sein wie sein Vorgänger Ghannouchi, hat den Protesten an mindestens einem zentralen Punkt stattgegeben: Das nächste Parlament, das am 24. Juli 2011 gewählt wird, soll als Verfassungsgebende Versammlung fungieren und neue politische Spielregeln ausarbeiten. Erst danach, und nach erneuten Wahlen, soll sich eine neue politische Führung konsolidieren können. Eine Überarbeitung der Verfassung war eine der grundlegenden Forderungen der (linken und sonstigen) Opposition gewesen. 

Sehr fraglich ist bislang jedoch, ob auch das „Wirtschaftsmodell“ einer gründlicheren Veränderung unterzogen wird. Dies müsste es zwar, möchte man den Hoffnungen, Wünschen und Forderungen der sozialen Unterklassen - die seit der Arbeitslosenrevolte vom Dezember 2010 und dann im Rahmen der tunesischen Demokratiebewegung in Bewegung gekommen sind - halbwegs befriedigende Antworten entgegenbringen. Doch gleichzeitig ist der Druck derer, die nicht wollen, dass dieses „Wirtschaftsmodell“ nicht oder nicht ernsthaft angetastet wird, stark. Dabei wird mit Zuckerbrot und Peitsche gearbeitet. Ersteres besteht in der groβzügigen Ankündigung etwa seitens der EU, den tunesischen politischen Eliten „unterstützend“ und „beratend“ bei den allfälligen „Reformen“ zur Seite zu stehen. Letztere handhaben unterdessen die wirtschaftlichen Investoren, ausländische wie einheimische übrigens: Angesichts der anhaltenden Streiks auf breiter Front, häufig stattfindenden Demonstrationen und übrigen politisch-sozialen Konflikte in Tunesien drohen sie derzeit massiv damit, ihre Gelder abzuziehen und im „ruhigeren“ Marokko anzulegen. Zwar haben auch dort inzwischen soziale Proteste gegriffen, so kam es am 20. Februar und seit dem 20. März d.J. und jeweils in den Tagen danach mehrfach zu gut befolgten Protesttagen (mit zum Teil starker Repression durch die örtlichen Polizeikräfte); aber ein Umsturz des bestehenden monarchisch-autoritären Regimes ist bislang ausgeblieben. 

Rückblick auf die Anfänge einer Revolte, die heute die ganze Grobregion erfasst 

Ein Wind der Revolte hat in den ersten Jahreswochen 2011 einen Grobteil der arabischsprachigen Länder erfasst – von Marokko über Syrien bis zu den Golfländern Bahreïn (wo inzwischen der Ausnahmezustand herrscht und die Regionalmacht Saudi-Arabien eingriff) und Oman. Ihren Ausgang nahmen die Ereignisse am 17. Dezember 2010 im geographischen Zentrum Tunesiens. 

Dort übergoss sich an jenem Tag ein junger Arbeitsloser respektive „prekär Beschäftigter“, der 26jährige Mohammed Bouazizi, mit einer brennbaren Flüssigkeit und steckte sich selbst in Brand. Fünf Tage später folgte ihm in derselben Stadt, Sidi Bouzid (rund 40.000 Einwohner), der 24jährige Houceine Neji in den Freitod. Vor den Augen einer kleinen Menschenmenge, die sich unten versammelt hatte, stieg er auf einen Hochspannungsmast und stürzte sich mit den Worten, er könne das Leben in Elend und Würdelosigkeit nicht mehr ertragen, in die elektrischen Leitungen. Unterdessen war es in den Tagen zuvor bereits zu heftigen Zusammenstößen zwischen jungen Protestierern und massiven Polizeikräften gekommen. Den so genannten Sicherheitskräften wurde vorgeworfen, sie hätten den jungen Mohammed Bouazizi zu seiner Handlung getrieben. Er war, in seiner Tätigkeit als „illegaler“ Gemüseverkäufer im informellen Wirtschaftssektor, zuvor immer wieder durch Polizeibeamte schikaniert worden, die ihm seine Ware abnahmen und mutmablich Geld von ihm erpressen wollten. In ihm erkannten sich Tausende Angehörige seiner Generation spontan wieder. 

Mohammed Bouazizi, der am 04. Januar 11 in einem Krankenhaus in Tunis seinen schweren Verletzungen erlag, ist seitdem in ganz Nordafrika zum prominenten Helden und zum Sinnbild der Revolution geworden. Kurz zuvor, am 28. Dezember 10, hatte der Noch-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali – dessen Thron just in jenen Tagen erheblich zu wackeln anfing – sich sogar dazu bequemen müssen, Bouazizi an seinem Krankenbett zu besuchen. Die Szene, auf der man den jungen Mann am ganzen Körper einbandagiert – nicht einmal die Augen sind zu erkennen - und daneben den ziemlich blöde und ratlos in die Landschaft blickenden Präsidenten sieht, wurde auf Bildern für die Nachwelt festgehalten. Noch Tage zuvor hatte Ben Ali (laut inzwischen bekannt gewordenen Aussagen seiner damaligen Berater) den Vorfall von Sidi Bouzid gegenüber seiner engeren Umgebung mit den Worten kommentiert: „Soll er doch krepieren!“ 

Die unruhige Jugend, vor allem jene in den von der (sehr relativen) Prosperität des Küstenlands abgehängten Regionen Zentral-, West- und Südtunesiens, hatte zu dem Zeitpunkt den Stein bereits ins Rollen gebracht. Die Protestwelle hatte bereits die Hauptstadt Tunis erfasst, wo am Wochenende des 25./26. Dezember 10 – während in Europa viele Leute Weihnachten feierten – die ersten Demonstrationen stattfinden. Dort verband sich der Funken der Revolte, der aus den sozialen Unterklassen und den benachteiligten Regionen gekommen war, mit den Anliegen von Anwälten, die grundlegende Menschenrechte gegen die Willkür des Staates und die verbreitete Folter verteidigen wollten, von Schülern und Studierenden oder auch von Gewerkschaften. Aus dem örtlich begrenzten Aufstand von Jugendlichen aus dem Subproletariat wurde eine demokratische Revolution. 

Heute hat Letztere insofern stattgefunden, als nicht nur Präsident Ben Ali verjagt worden ist, sondern auch mehrere auf ihn folgende Regierungen. Drei Mal wurden Umbildungen der am 17. Januar gebildeten Übergangsregierung erzwungen, beim dritten Mal musste endlich auch der Übergangs-Premierminister Mohamed Ghannouchi seinen Hut nehmen. Ghannouchi hatte den Posten des Premierministers bereits seit dem 17. November 1999 inne gehabt, also über elf Jahre lang unter dem alten Regime amtiert. Am 27. Februar dieses Jahres, einem Sonntag, nahm er nun definitiv seinen Hut. Und dies unter dem Druck massiver Proteste: Am Freitag zuvor hatten rund 200.000 Menschen in Tunis gegen ihn demonstriert, und am Samstag hatten die Proteste eine militante Fortsetzung gefunden. An drei Stellen in der Innenstadt brach Feuer aus, und – je nach Angaben – fünf oder sechs Demonstranten kamen durch polizeilichen Gewalteinsatz zu Tode. (Seit dem 31. März/01. April ist es in Tunis erneut „unruhig“ geworden und zu mehr oder minder militanten Demonstranten in der Kernstadt Al-Kasbah, wo der Sitz der politischen Macht liegt, gekommen.) 

Eine besonders zentrale Rolle spielte dabei die unruhige Jugend. Wie schon in den letzten Januartagen, als Proteste bereits den Abgang mehrerer aus dem alten Regime kommender Minister der Übergangsregierung erzwangen, ohne dass es damals bereits gelungen wäre, auch den Premier zu schassen, wie einen Monat später. Seinerzeit hatten über 1.000 Jugendliche aus Zentral- und Südtunesien, die im Rahmen einer „Karawane der Befreiung“ in Richtung Tunis marschiert und quasi im Triumphzug dort empfangen worden waren, wochenlang Tag und Nacht vor dem Amtssitz des Premierministers campiert. Und dies bei nächtlichen Aubentemperaturen, die bis auf 8° Celsius fielen, von zahlreichen Anwohnern mit Essen und Kaffee versorgt. 

Un-theologisch unterlegter Protest gegen ein verdammt schlechtes Leben  

Auch zukünftig werden das politische Establishment und die Bourgeoisie in Tunesien – aber auch in den anderen Ländern der Region, wo gewisse politische Umwälzungen stattfinden werden oder wie in Ägypten stattgefunden haben – mit solchen Protesten und vor allem mit der Jugend ihrer Länder rechnen müssen. Letztere hat vor allem eines deutlich gemacht: dass sie ein besseres Leben führen möchte; und dass ein bestimmtes bisheriges Leben, welches sie oft zu führen gezwungen war, ihr noch schlimmer erschien als der Tod. Und dies ganz ohne religiöses Pathos oder gar islamistische Ideologisierung: Deren Anhänger konnten sich nämlich in überhaupt keinerlei Weise mit  diesen Ausdrucksformen sozialen Unmuts, die in extremen Fällen bis hin zur Selbstverbrennung führen konnten, identifizieren. Nach orthodox-islamischer Lehre ebenso wie im politischen Weltbild der Islamisten ist ein Freitod etwas, was vollkommen tabu ist und einem religiösen Verbot unterliegt: Nach gängiger theologischer Doktrin führt er nämlich dazu, dass man „sowohl das irdische Leben, das einem von Gott gegeben wurde und also nicht verschenkt werden darf, als auch das Leben im Jenseits verliert.“ Und das Paradies aufs Spiel zu setzen, möchte ein Islamist bestimmt nicht riskieren. (Ausgenommen von dieser Lehre ist bei manchen islamischen Strömungen der zwar sicher voraussehbare und insofern selbstgewählte Tod, der bei Kampfhandlungen gegen einen „Glaubensfeind“ eintritt. Dasselbe gilt aber auf keinen Fall für eine reine Selbstmordhandlung.) Infolge der Ausbreitung des Phänomens – allein in Algerien fanden seit Ende Dezember vergangenen Jahres rund 40 Selbstverbrennungen oder Selbstverbrennungsversuche statt, und ähnliche Vorfälle ereigneten sich selbst im wahhabitischen Religionsstaat Saudi-Arabien – haben manche islamischen Vordenker allerdings im Nachhinein versucht, sich der Situation anzupassen und ihre Ideologie doch noch irgendwie in Einklang mit ihr zu bringen. So bastelte sich der prominente Prediger Yussuf al-Qaradawi, der in ganz Nordafrika seine Ideologie abzusetzen versucht und einen gewissen Anklang dabei findet, eine Rechtfertigung zurecht: Zwar sei Selbstmord strikt verboten, aber da jener von Mohammed Bouaziz zum Sturz eines gottlosen Tyrannen erheblich beigetragen habe, könne man da ja vielleicht einmal eine theologische Ausnahme in kauf nehmen. Ihm antworteten jedoch sofort aufgebrachte islamische Theologen aus Ägypten, die eine solche Position völlig aus der Fassung brachte. 

Aber was treibt den Protest dieser Jugend genau an? Was bringt sie auf die Barrikaden? 

Neben politischen Faktoren, dem Ekel über eine seit Jahrzehnte regierende und dabei unverändert gebliebene Gerontokratie, spielen offenkundig auch soziale Elemente eine Schlüsselrolle. Dies gilt jedenfalls in hohem Ausmaβ für Tunesien und Ägypten; wie auch für Staaten, in denen Proteste auf bisher noch niedrigerer Eskalationsstufe stattgefunden haben, wie beispielsweise Marokko. Aber auch Protest gegen das Wiederaufkommen der – seit einem Jahrzehnt zunächst im Rückgang befindlichen – Folter war beispielsweise in Marokko ein Schlüsselelement. 

Diese Dimension der Verteidigung oder Erringung minimaler Bürgerrechte spielt auch in den Nachbarländern wie Tunesien oder Ägypten eine Rolle. Die ersten gröβeren Demonstrationen in Tunis etwa wurden durch Anwaltsverbände, deren Angehörige qua Beruf mit Fragen der Folter und der Behördenwillkür konfrontiert und zumindest teilweise stark politisiert waren, mit auf die Beine gestellt. Und in Ägypten waren vor dem Ausbruch der Massenproteste, die am 25. Januar anfingen, beispielsweise 450.000 überwiegend junge Menschen in einem Internet- und Facebook-Netzwerk unter dem Namen „Wir alle sind Khaled Saïd“ organisiert. Diesen Namen trug ein Mann, der 2009 in Alexandria durch Zivil- und uniformierte Polizisten in der Öffentlichkeit buchstäblich totgeschlagen worden war. Aus diesem Aktivistenmilieu heraus wurde der erste  Funke des Protests gezündet, und anders als in Ägypten traten die sozialen Unterklassen nicht als Erste, sondern in den drei Tagen nach den anfänglich von jungen Intellektuellen initiierten und erfolgreichen Demonstrationen vom 25.01. in Bewegung.  

Auf jeden Fall vermischten sich in diesen Ländern, die nicht denselben Ressourcenreichtum bei geringer Bevölkerungszahl aufweisen wie Libyen - in Tunesien gibt es so gut gar kein Erdöl oder Erdgas, und in Ägypten trägt es nur circa zehn Prozent zu den Einnahmen des Landes bei -, solche Fragen des Bürgerrechtsprotests schon zu einem frühen Zeitpunkt mit „der sozialen Frage“. Dadurch erst wurde der Molotow-Cocktail scharf und konnte zur Explosion kommen. 

Exkurs: Sonderfall Libyen?

Nuancieren müsste man diese Feststellung lediglich im Falle Libyens, da der ebenso bevölkerungsarme  wie erdölreiche Staat nicht derart manifeste soziale Probleme in Form von greifbarem Elend aufweist wie seine Nachbarländer: im libyschen Falle ist das Proletariat oder Subproletariat im Wesentlichen kein einheimisches, sondern stammt aus Tunesien oder Ägypten, aber auch aus dem subsaharischen Afrika. Es sind vor allem die Staatsbürger dieser Länder, von denen Ende Februar und Anfang März dieses Jahres bereits über 200.000 aus Libyen flohen - eine Massenflucht libyscher Staatsbürger hat bislang (bis Redaktionsschluss) nicht stattgefunden, was sich dann ändern könnte, falls die Rebellen je eine schwere Niederlage hinnehmen müssten. Unter der Herrschaft von Muammar al-Gaddafi, der, während politische Parteien und Gewerkschaften strikt verboten waren, tribale und clanförmige Strukturen in den Staatsapparat integriert hat, ist die Gesellschaft - obwohl im Alltag modern und überwiegend städtisch - nach wie vor stark durch regionale und „Stammes“unterschiede fraktioniert. Aufgrund der Bevorzugung einiger, der Benachteiligung anderer Abstammungsgruppen, welch letztere von der Umverteilung der Erdölrente ausgeschlossen bleiben, kommt es nun unter dem Eindruck der Proteste im übrigen Nordafrika zu Konflikten entlang dieser Bruchlinien.  

Aber auch eine andere Dimension spielt im libyschen Falle eine wichtige Rolle, nämlich der politisch motivierte Protest gegen Despotismus und staatliche Willkür, gegen die Nichtanerkennung elementarer Freiheitsrechte, gegen Folter. Der erste Protest am 16. Februar dieses Jahres, der aufgrund der massiven Gewalt der staatlichen Sicherheitsorgane notgedrungen schnell in massive Konfrontationen und eine bewaffnete Rolle umschlug, fand nicht zufällig vor dem Gerichtsgebäude in Benghazi (Bengasi) statt.  

Auslöser für den Protest war die Inhaftierung des Anwalts Fethi Terbel, der Familienangehörige von bei einem Gefängnismassaker 1996 in Tripolis erschossenen Häftlingen vertritt, gewesen. Angeführt wurde er zunächst durch andere Anwälte, Richter und Menschenrechtsverteidiger. Erst später kamen abtrünnige Militärs, nicht in Loyalität zu Gaddafi stehende „Stammes“strukturen und Abtrünnige aus den herrschenden Eliten hinzu. Zu Letzteren gehören Figuren wie Gaddafis früherer Justizminister Mustapha Abdeljalel, der zwar dem alten Regime angehörte und damals Todesurteile unterzeichnete, aber sich immerhin auch für eine schriftliche Verfassung und minimale Rechtsgarantien sowie gegen willkürliche Inhaftierungen ohne Anklage eingesetzt hatte. Heute führt Abdeljalel den „Nationalen Übergangsrat“ in Benghazi an, welcher heterogen zusammengesetzt ist und aufgrund des hohen Zeitdrucks - hätten die Rebellen nicht in Windeseile die Verteidigung ihrer Stadt organisiert, wären sie ohne Zweifel buchstäblich massakriert worden - nicht gewählt, sondern per Akklamation aus den sich zur Verfügung stellenden „Führungsfiguren“ zusammengesetzt wurde.  

Dem „Übergangsrat“ gehören auch Frauen, örtliche Unternehmer - die bislang zwar reich werden konnten, aber auch von jeglicher politischer Machtteilbeteiligung ausgeschlossen waren - und junge Informatiker an. Zweifellos verfügt er über keine Orientierung, die sich in Links-Rechts-Kategorien einteilen lieβe, denn Libyen verfügte bisher über so gut wie kein (vom Staat unabhängiges) politisches Leben und, im Gegensatz zu Tunesien oder Ägypten, nicht über nennenswerte Ansätze zur Formierung einer Arbeiterbewegung. Negativ zu vermerken wäre, dass der „Übergangsrat“ in jüngster Zeit sich, seitdem besonders Frankreich und Groβbritannien ihn - aus politischen Gründen, die diesen Staaten eigen, und gegen Widerstände auch innerhalb der NATO - hofieren, immer stärker auf „Realpolitik“ gegenüber diesen Groβmächten einlässt. So erklärte der Rat zu Anfang der letzten Märzwoche 2011, er werde auch künftig die Verträge Libyens etwa mit Italien zur „Kontrolle“ und Zurückhaltung „illegaler Migration“ einhalten und auch weiterhin, wie bislang das Regime Gaddafis, unerwünschte Einwanderer von Europa fernhalten. Umgekehrt hatte das Gaddafi-Regime schon vier Wochen zuvor gedroht, dieses Grenzregime auszusetzen und Migranten aus Afrika „unkontrolliert“ nach Europa zu lassen, dadurch an „Überschwemmungs“ängste (unter anderem) der europäischen Rechten anknüpfend. Auf diese Weise verspricht der „Übergangsrat“, just einen der negativsten und kritikwürdigsten Aspekte der libyschen Politik im internationalen Kontext - neben der grauenhaften Lage der Menschenrechte im Lande - zu übernehmen. 

Auf militärischer Ebene erwiesen sich die Rebellen zugleich dem Gaddafi-Regime, jedenfalls vor dem Eingreifen äuβerer Groβmächte in Gestalt der (überwiegend) französisch-britischen Intervention, hoffnungslos unterlegen. Ein Hauptgrund dafür ist, dass ihre Kämpfer - neben einigen früheren Offizieren Gaddafis - vor allem aus militärisch unerfahrenen und, aus Sicht einer Armee, „disziplinlosen“ jungen Männern besteht. Diese, vor allem von ihrem (legitimen) Drang nach Sturz des seit 42 Jahren amtierenden Regimes beseelt, gingen überstürzt zum weitgehend plan- und strukturlos durchgeführten Angriff auf die Bastionen des Regimes in Westlibyen über. Doch dieser Angriff brach umso schneller zusammen, als die Natur der Rebellenarmee ziemlich eindeutig die einer klassischen Guerilla ist - die sich anderswo, trotz klarer militärischer Unterlegenheit gegenüber den Regimetruppen, möglicherweise dennoch bewähren und überdauern könnte. Nur nicht in Libyen, denn in einem Wüstenstaat lässt sich kein Guerillakrieg führen: In der libyschen Sahara gibt es keinen Unterschlupf, wo man sich für längere Zeit aufhalten könnte, und auβerhalb der Städte und weniger groβer Ausfallstraβen droht schon nach ein bis maximal zwei Tagen Aufenthalt unmittelbar der Tod. Auf einem solchen Terrain können nur „klassische“, durchstrukturierte, „reguläre“ Armeen Erfolg haben. 

Die haushohe militärische Überlegenheit der Truppen des Gaddafi-Regimes sorgte dafür, dass es tatsächlich Lebensrettung in quasi letzter Minute war, als die britisch-französische Intervention am 19. März 11 ihren Angriff vor Benghazi stoppte. Nur erwächst daraus alsbald das politische Problem, dass das, was als gesellschaftliche Rebellion begann, schnell in einen klassischen Krieg umgewandelt wurde. Nun werden auch jene Mächte, die in Libyen militärisch eingriff, künftig ein Wörtchen über die Entwicklung des Landes mitreden wollen. Und dies selbstverständlich nicht selbstlos: Sie werden sich ihre willfährigen Pendants zum afghanischen Präsidenten Hamid Karzai oder zur Kosovo-Protektoratsmafia der UCK schon suchen & ggf. finden...   

Liegt es am „Jugend-Überschuss“? 

Im Westen respektive (in Anbetracht der Tatsache, dass Tunis westlich von Berlin liegt) im Norden wurde der Druck, der von der unruhigen Jugend ausgeht, in den Interpretationen durch die bürgerliche Presse oft auf einen Nenner gebracht: es handele sich um ein automatisches Resultat des ‚youth bulge’ oder „Jugendüberschusses“. Solches liest man bei der FAZ, aber auch aus der Feder des früheren Internationalisten - der solchem Denken gründlich abgeschworen hat  - Hans Branscheidt, welch letzterer schreibt, es drehe sich um „den demographischen Überhang junger arbeitsloser und unausgebildeter Männer“. Letzter sei ebenso negativ wie eine Fatalität, denn da es sich bei den Ländern Nordafrikas um Rentierstaaten handele, gelte das Prinzip: „Produktiv ist das alles nicht ! Eine Wertschöpfung findet hier nicht statt!“ Die werte Wertschöpfung aber, die kapitalistische, die braucht es unbedingt - denn sonst: Katastrophe! Ansonsten sollten die überflüssigen Münder vielleicht, fährt der Autor fort, nicht auch noch Ansprüche stellen, denn: „Ihnen Bildung zu verschaffen hat solang geringen Sinn, wie keine Arbeit da ist. Arbeit ist nicht da, weil diese Gesellschaften samt ihren Eliten zwar unentwegt Forderungen stellen und ausgesprochen ressentimentgeladen agieren, sich aber selten die Frage stellen, wie denn ihre Realproduktion aussehen sollte und könnte.“ (Quelle: http://www.wadinet.de

Ob man die These von der „demographischen“ Erklärung nun positiv auffasst - im Sinne von: endlich rappelt es einmal irgendwo, dank der so zahlreichen Jugend - oder negativ, wie der soeben zitierte Autor, sie ist unsinnig. Wie es schon immer und überall unsinnig war, mechanische Schlussfolgerungen aus „der Demographie“ ziehen zu wollen. Im Zweifel landet man dabei dann bei Bevölkerungspolitik, um nicht zu sagen: sozialdarwinistische Rassenplanung. 

Tunesien beispielsweise müsste, ginge es nach den üblicherweise von bürgerlichen Ökonomen angelegten Kriterien, „eigentlich“ ein für Wachstum und Kapitalakkumulation prädestiniertes Land sein. Denn erstens stellen bürgerliche Ökonomen einen „Überhang von Unproduktiven“ respektive „nicht Aktiven“ gern als Wirtschaftshemmnis dar. Zu viele Rentner - verteilt auf zu wenige Köpfe von wirtschaftlich Aktiven - oder nicht Arbeitsfähige ernähren zu müssen, so behaupten bürgerliche Ökonomen etwa im Hinblick auf die „alternde Bevölkerung“ in Europa, sei ein wirtschaftlicher Hemmschuh. Deswegen auch müssten das Rentenalter angehoben und/oder die Zahlungen an Rentner und Empfänger von anderen sozialen Transferzahlungen abgesenkt werden, um das Volumen der Bezüge einzuschränken. Auf Länder wie Tunesien oder Ägypten trifft das, angesichts des deutlichen Überhangs von jungen Erwachsenen gegenüber den älteren Generationen, mit Bestimmtheit absolut nicht zu. 

Aber auch umgekehrt wird kein Schuh daraus, denn die von sozialdarwinistischen Ökonomen für die so genannte Dritte Welt oft beschworene „Bevölkerungsexplosion“ gibt es in Nordafrika ebenfalls nicht. Die Grundidee hinter dem Begriff lautet: „Weil die Bevölkerungen so schnell wachsen, wird das gesellschaftliche Mehrprodukt ständig durch eine Zahl zusätzlicher Esser, im Kindes- und (schulpflichtigen) Jugendalter, aufgegessen.“ Unabhängig davon, ob diese These - wonach Armut angeblich auf Bevölkerungswachstum zurückgeht - überhaupt jemals zutrifft, was kaum der Fall sein dürfte, stimmen im Hinblick auf Nordafrika schon ihre Grundvoraussetzungen nicht. Die Bevölkerung wächst hier nämlich seit 15 Jahren nur noch langsam, in Tunesien kaum schneller als derzeit in Frankreich (welch letzteres einen höheren Geburtenanteil aufweist als Deutschland). Denn zwar wiesen in den 1970er Jahren Frauen in den drei Hauptländern des Maghreb - Marokko, Algerien und Tunesien - noch durchschnittlich sieben Kinder auf. Doch im Jahr 1995 war diese Zahl auf einen Durchschnittwert von zwei Kindern pro Frau abgesunken, in Frankreich sind es augenblicklich 1,8. Sicherlich war dieser statistische Durchschnittswert der Ausdruck sehr unterschiedlicher Phänomene: Einerseits widerspiegelte er die Modernisierung der Lebensverhältnisse im Alltag, aufgrund derer Frauen später heiraten und Kinder bekommen, mehrheitlich Verhütungsmittel benutzen und oft einer Berufstätigkeit nachgehen. Zum Anderen widerspiegelte er auch einen Armutsfaktor, denn in Algerien wie auch in Ägypten könne viele junge Menschen es sich im heiratsfähigen Alter - trotz gegenteiligen Wunsches - über lange Jahre hinweg aus wirtschaftlichen Gründen gar nicht leisten, eine Ehe einzugehen. Denn ihnen fehlen fester Job, Einkommen oder (vor allem) eine eigene Wohnung. Zum Dritten hing das starke Absinken der Geburtenrate im gesamten Maghreb aber in den frühen neunziger Jahren auch mit dem blutigen Bürgerkrieg in Algerien und den daraus resultierenden düsteren Zukunftsperspektiven zusammen. Unter anderem deswegen, weil dieser zu Ende ging, ist die durchschnittliche Geburten-Rate im gesamten Maghreb derzeit wieder auf 2,5 Kinder pro Frau geklettert. 

Die „starken“ Jahrgänge sind also, sowohl in Marokko und Algerien als auch in Tunesien, keineswegs jene, die im Kindesalter stecken. Es sind vielmehr die Jahrgänge, die derzeit ungefähr zwischen der Volljährigkeit und dem 40. Lebensjahr stehen. Als im perfekt „arbeitsfähigen“ Alter. 

An mangelnder Bildung scheitert die Wirtschaft ebenfalls nicht, folgt man den Theoremen bürgerlicher Ökonomen. Denn beispielsweise in Tunesien und Ägypten wurde und wird auf Bildung hoher Wert gelegt. Im Falle Tunesiens genieβt Schulbildung einen enorm hohen sozialen Stellenwert, wie man ihn sonst vor allem aus Ostasien kennt: Viele Eltern (übrigens aus allen sozialen Klassen) brachten in der Vergangenheit erhebliche finanzielle Opfer, um ihren Kindern eine möglichst lange Ausbildung an Schulen und Hochschulen zu ermöglichen. Dieses soziale Prestige der Bildung ist nach wie vor weitgehend ungebrochen. Man konnte es an den Lehrerstreiks während der Proteste zu Anfang des Jahres ablesen. Diese wurden zwar mitunter zu 99 Prozent befolgt, dauerten aber in der Regel nur 24 Stunden lang, weil nach einem Tag Eltern und Schüler den Fortgang des Unterrichts reklamieren - nach dem Motto: „Mit Bildung spaβt man nicht.“ Allerdings resultierte eine Enttäuschung und Verbitterung vieler - auch sozial besser gestellter - Eltern daraus, dass sich in den letzten Jahren zunehmend herausstellte, dass die von Bildung versprochenen Aufstiegschancen eben nicht mehr existierten. In Ägypten, das eine weit höhere Bevölkerungszahl (allein im Groβraum Kairo) aufweist als Tunesien, liegt das staatliche Bildungswesen zwar aufgrund von Unterfinanzierung stärker im Argen. Doch auch hier schwor Altpräsident Hosni Mubarak auf die, von bürgerlichen Ökonomien weltweit beschworene, „Wissensgesellschaft“. Ab 1997 etwa machte er aus der Entwicklung des Internet und dem Zugang möglichst vieler Ägypter zu Informatik und World Wide Web eine nationale Priorität - die Entwicklung dieser Produktivkraft hat sich längerfristig dann gegen ihn gekehrt, da sie den Protestierenden ein Medium liefern, um sich jenseits der zensierter Presse untereinander zu verständigen. 

An Bildung - oder dem Willen dazu - mangelte es also im Grunde ebenso wenig in diesen Ländern wie an einer, nach bürgerlicher Wirtschaftslehre eigentlich vorteilhaften, Rate zwischen Bevölkerungsteilen „im arbeitsfähigen Alter“ bzw. „im unproduktiven Stadium“. Auch blieb Wirtschaftswachstum, wie es den bürgerlichen Ökonomen heiligt ist, keineswegs aus: Im tunesischen Falle variierte es in den letzten Jahren im jährlichen Mittelwert zwischen 4 % (2006) und 6 % (2008). Wir hatten es also keinesfalls mit „schrumpfenden“ Ökonomien zu tun. 

Und dennoch zeigten diese Nationalökonomien - handele es sich nun um die Nicht-Erdöl-Länder Marokko und Tunesien, oder um erdölreiche „Rentierstaaten“ wie Libyen oder auch Algerien - sich in den letzten Jahren zunehmend chronisch auβerstande, ihrer Jugend halbwegs erträglich erscheinende Berufsperspektiven zu bieten. Die Eingliederung der jungen Generation ins Arbeitsleben funktionierte in den letzten 10 bis 15 Jahren immer schlechter. Sogar im Falle Libyens, das aufgrund von Erdölreichtum und Bevölkerungsschwäche (siehe oben) nicht dieselben sozialen Probleme aufweist wie seine Nachbarländer, und dennoch einen wachsenden Teil seiner Jugend vom Arbeitsmarkt „ausschloss“. 

Die (ökonomische) Rolle der EU 

Doch woran liegt? Wenn es nicht oder nicht hauptsächlich an der Bevölkerungsstruktur liegt, dann wohl eben an der Struktur der jeweils vorhandenen Ökonomie. Diese sind übrigens keineswegs generell dazu unfähig, „Arbeitsplätze anzubieten“ - nur eben nicht auf einem Niveau, das dem bei vielen Angehörigen der jungen Generationen vorhandenen Schulbildungs- und Ausbildungsniveau entsprechen würde. In allen drei zentralen Ländern des Maghreb liegt die Arbeitslosenquote bei den beruflich „Unqualifizierten“ - die so genannte einfache Tätigkeiten in Landwirtschaft oder Industrie verrichten - jeweils unter fünf Prozent. Erst mit steigenden Schul- oder gar Hochschulabschlüssen wächst das Risiko, arbeitslos zu bleiben, spürbar an. In Marokko beispielsweise wuchs es in den letzten Jahren beinahe linear mit fortschreitendem Bildungsniveau. Dort betrug die gesamtgesellschaftliche Arbeitslosenrate zuletzt 9,1 Prozent. Doch die Arbeitslosigkeit bei den unter 30jährigen - die meist wesentlich besser ausgebildet sind als die Generation ihrer Eltern - betrug im Jahr 2008 hingegen 17,6 Prozent. Unter den Hochschulabgängern betrug sie gar 29 Prozent im Jahr 2000, und sank dann (jedenfalls ausweislich der offiziellen Statistiken) auf 20 Prozent acht Jahre später. Dies erfolgte im Zuge einer Bereinigung des Statistiken, aber auch des Aufbaus neuer Wirtschaftszweige, da sich nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA manche Banken und Finanzdienstleister in Marokko ansiedelten.    

Besonders Tunesien und Marokko, in bislang geringerem Ausmaβ Ägypten, erfuhren in den letzten Jahren starke Transformationen ihrer Nationalökonomien hin zu einer verstärkten Spezialisierung im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung. Ein Faktor dabei war der Abschluss von Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union, die jeweils bilaterale Verträge zwischen der EU als Block und je einem Land darstellen. Die ersten beiden dieser Assoziierungsverträge zum Zwecke der Herausbildung einer bilateralen Freihandelszone wurden mit Tunesien, am 17. Juli 1995, sowie am 26. Februar 1996 mit Marokko unterzeichnet und traten drei bzw. vier Jahre später in Kraft. Innerhalb eines zwölfjährigen Zeitraums sehen sie den vollständigen Abbau von Zollschranken vor. 

Dies bedeutet aber notwendig, dass ganze Wirtschaftsbranchen und Produktionszweige in diesen Ländern - die oft, auf vergleichsweise geringem Produktivitätsniveau, für den einheimischen Bedarf produzierten - durch die mit einer höheren Produktivität ausgestattet EU-Industrie plattgewalzt werden. Die tunesische oder marokkanische Verarbeitung von Agrarprodukten zu Lebensmitteln oder die Herstellung von Schuhen und Kleidern etwa kann unter diesen Bedingungen im erbarmungslosen Konkurrenzkampf oft nicht bestehen. Die Konsequenz ist, dass viele bisher bestehende Arbeitsplätze zerstört wurden. Dass dennoch gesamtgesellschaftlich die Arbeitslosigkeit (jedenfalls nach offiziellen Zahlen) nicht zunahm, sondern in allen drei Hauptländern des Maghreb von 2000 auf 2008/09 sank, hängt damit zusammen, dass stattdessen spezialisierte Produktionszweige besonders aus Europa sich dort ansiedelten. Diese fertigen Zuliefererprodukte für den EU-Binnenmarkt, aber in der Regel jeweils in Form von „Nischenproduktionen“. So produziert Tunesien für die europäische Automobilindustrie. Aber nicht die Herstellung von Fahrzeugteilen wurde dorthin vergeben, sondern die - geringere Qualifikationen in Anspruch nehmende - Herstellung von Zusatzartikeln wie etwa Autoteppichen oder Sitzbezügen. Die Fahrzeugteile selbst werden in Spanien oder Osteuropa fabriziert, zusammenmontiert werden die Autos dann etwa in Frankreich oder Deutschland. Neben europäischen Investoren spielen auch reiche Araber aus den Golfstaaten eine Rolle, die in Tunesien im Dienstleistungs- und Tourismussektor investierten und dabei oft einheimische wirtschaftliche Akteure verdrängten. Jedenfalls, bevor die weltweite Wirtschaftskrise ab 2008/09 auch die Emirate am Golf wie Dubai heftig erwischte. 

Die Handlangertätigkeiten, die nach Nordafrika ausgelagert werden und bislang dort bestehende wirtschaftliche Tätigkeiten verdrängen oder ersetzen, nehmen jedoch ganz überwiegend ein geringes Qualifikationsniveau in Anspruch. Die besser ausgebildeten jungen Leute kann man dafür schlichtweg nicht gebrauchen. Und da sie dank ihres schulischen Niveaus über eine gewisse Reflexionsfähigkeit verfügen, gelten sie den „guten Familien“ - die in ihren jeweiligen Ländern der politischen Macht nahe stehen und die wichtigsten Entscheidungen in der Wirtschaft fällen - sogar als gefährliche Störenfriede. Man sieht sie deswegen lieber entweder Leib und Leben riskieren, um („illegal“) auszuwandern, oder aber im informellen Wirtschaftssektor ihr Dasein fristen. Denn auch Letzterer wuchs stark an: Da der Bedarf an vielen Produkten nicht mehr durch die einheimische Ökonomie abgedeckt wird (und Vielen die nötigen Geldmittel für „offizielle“ Importprodukte fehlen), hat sich der informelle Sektor stark breitgemacht. Sei es in Marokko, in Algerien - wo die Behörden nach gegenteiligen Ankündigungen und Plänen seit kurzem auch offiziell völlig auf dessen Bekämpfung verzichtet haben - oder auch in Tunesien. Die „informellen“ Tätigkeiten basieren auf dem Schmuggel, auf der „inoffiziellen“ Einfuhr von Waren (aus Europa oder Asien), für die ein nicht genügend gedeckter Bedarf besteht. In Marokko soll dieser Sektor über 37 Prozent des Gesamtvolumens an Arbeitsplätzen ausmachen. Und das Voranschreiten des informellen Sektors hat auch Auswirkungen auf die übrigen Branchen, da es zur Erosion formell garantierter Arbeitsverhältnisse beiträgt: 83 Prozent der Arbeitsverhältnisse, die zwischen 2004 und 2008 in Marokko begründet wurden, wurden dem Wirtschaftswissenschaftler Lahcen Achy zufolge ohne Arbeitsvertrag abgeschlossen. 

Ausblick 

Es ist in diesem Umfeld nicht damit zu rechnen, dass materielles Elend oder das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit in den kommenden Jahren in den betreffenden Ländern schnell zurückgehen würden. Denn neben den bisherigen politischen Regimes müsste auch das dortige „Wirtschaftsmodell“ grundsätzlich in Frage gestellt werden. Doch dass nicht passiert, darauf arbeiten einflussreiche politische Kräfte innerhalb Tunesiens oder Ägyptens ebenso hin wie etwa die EU. 

Dies wird selbstverständlich auf Widerstände stoβen. Und natürlich wird der Protest, nachdem der Geist des Ungehorsams nunmehr einmal „aus der Flasche gelassen“ worden ist, nicht so leicht wieder einzudämmen sein. Da der Tourismus als extrem wichtiger Wirtschaftsfaktor in Tunesien seit Jahresbeginn eingebrochen ist - das Land versucht nun, konkurrierende Angebote durch neue Billigpreise zu unterbieten und so Europäer oder Golfaraber erneut anzulocken - und weil Anfang März noch jedes zweite öffentliche Unternehmen bestreikt war, ist sogar mit einer Verschärfung der Widersprüche zu rechnen. Denn die Gesamteinnahmen des Landes dürften vorübergehend sinken, zumal die internationale ebenso wie Teile der einheimischen Bourgeoisie jetzt damit drohen, mit ihren Kapitalien „nach Marokko abzuziehen, falls das Chaos nicht aufhört“.  

Allerdings konzentrieren sich die Proteste bis zur Stunde auf die Forderung nach einem Weitertreiben des politischen Wandels - die bislang etwa auf die Auflösung von Ben Alis früherer Staatspartei RCD gerichtet war, welch letztere jedoch durch Gerichtsbeschluss vom 09. März nun auch definitiv aufgelöst worden ist. Vorstellungen einer anderen Wirtschaftsweise sind zwar innerhalb der Linken ebenso wie in den Gewerkschaften (die in Tunesien zum Teil oppositionell waren und sind, während sich in Ägypten neue Gewerkschaften auβerhalb des staatsnahen Dachverbands gründen) durchaus vorhandeln. Doch sie bündeln bislang die Proteste nicht. Deswegen ist damit zu rechnen, dass es auch weiterhin zu politischen Krisen kommen wird.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.