Es liegt uns heftig daran,
gegenwärtig zu sein. Nur ein echter Genosse
seiner Zeit ist auch für die kommende da. Vor allem, wenn er von
einer Höhe unserer Tage in die kommenden hineinsehen kann. Es
bewegt uns überdies alle, daß wir uns heute und hier im alten
Jena befinden. Unausweichliche Erinnerung taucht damit auf,
Verpflichtung und Hoffnung, Kritik an unserer Arbeit und
Richtlinien der Ermunterung. Vor hundertzwanzig Jahren, nicht zu
lange her, ist Hegel gestorben, und wir sind in der Stadt
versammelt, wo er die entscheidenden ersten Produktions- und
Gestaltungsjahre verbracht hat. Hier entstanden die Jenenser
Logik, die Vorlesungen über Naturphilosophie und vor
allem die Phänomenologie des Geistes, das Werk, das nach
der Analyse und klassischen Definition von Marx die Entstehung
des Menschen und seiner Welt durch Arbeit darstellt. Es
reflektiert die fortschreitend und wechselseitig dialektische
Veränderung des Subjekts am und durch das Objekt, des Objekts an
der historisch-dialektischen Genesis, mit der Kraft, den Satz zu
bewahrheiten: Das Geheimnis der Erscheinung löst sich durch ihre
Geschichte. Engels sagt und schärft ein, wir deutschen
Sozialisten seien stolz darauf, nicht nur von Saint-Simon,
Fourier und Owen abzustammen, sondern auch von Kant, Fichte und
Hegel. Nun fiel gestern und heute sehr oft das Wort: rationeller
Kern; was ist das in Ansehung der gesamten Überlieferung der
Philosophie? Es ist das wissenschaftlich Lebendige und weiter
Progressive unabhängig von seiner zeitbedingten, idealistischen
Hülle. Es ist das Unabgetane und Unabgegoltene in der
Vergangenheit, also dasjenige in den großen Problemen und
Gedanken einer Zeit, was nicht mit der Geschichte und mit der
Zuordnung zu seiner Gesellschaft selber vergeht und im abgetanen
Sinne historisch wird. Rationeller Kern ist zuletzt dasjenige,
was sich gerade auch für ein späteres, fortgeschrittenes
Bewußtsein durch sein
Element konkreter Vernunft, konkreter Abbildung der Wirklichkeit
rechtfertigt.
Solche Kerngedanken sind nie vergangen, und wer sich ihnen
zuwendet, blickt nicht rückwärts. Ich glaube, die erstaunlichen
Formulierungen Stalins über die Sprache als ein nicht
schlechthin an den jeweiligen Unterbau fixiertes und mit ihm
vergehendes Gebilde, sie gelten sehr anderer Weise auch für das
Bleibende, besser: für das mit uns Ziehende großer Geisteswerke.
Diese gehören zu dem, was man mit einem - nur dem Historismus
fremdartigen Ausdruck -Zukunft in der Vergangenheit nennen kann
und muß. Scharfe ökonomisch-soziale Analyse hat alles
Vergänglich-Ideologische an diesen Werken aufzulösen, damit es
nicht weiter störe und verführe, sondern eben als bloße Hülle
auf der historischen Strecke bleibe. Jedoch desto
unverwechselbarer bleibt eben das, was dann, jenseits der bloßen
Zeitideologie, auch des durchschauten Scheinproblems,
hervortritt, ja überhaupt erst nach der
historisch-materialistischen Kritik hervorzutreten vermag: das
Unabgegoltene, das echte Problem, die weiterdeutende Richtlinie
seiner Lösung. Da hören dann bedeutende Teile der Geschichte
auf, nur vergangen zu sein. Da wird die Erinnerung an große
Denker ebenso Erinnerung an eine noch fortbestehende, wenn auch
umfunktionierende Aufgabe. Und das festliche Gedenken an diese
Männer setzt keine kontemplative Festrede mit einem
Erbbegräbnis, sondern die Denker sind hier, mitten unter uns, im
gleichen Saal, sprechen zu unseren Problemen mit, man kann
sagen, sie sind zu ihren Enkeln versammelt. Wir selber aber sind
keine Enkel im Sinn von Epigonen, vielmehr, wir greifen auf die
großen Denker, nach Maßgabe des Nicht-Vergangenen in ihnen, nur
deshalb zurück, weil sie selber auf uns vorgreifen und
Mitarbeiter in jenem Raum sind, der nicht der Raum der
Vergangenheit ist. So bei Hegel, so bei Leibniz, so bei
Aristoteles, so bei Heraklit: de nobis res agitur, von uns, von
den Beziehungen der Menschen zu Menschen und zur Natur wird hier
gehandelt, auf zeitgebunden-ideologische und doch auch, dem
Wichtigsten nach, auf weiterlehrende, selber zukunfthaltige
Weise. Das Substrat des Kulturerbes überhaupt ist diese Zukunft
in der Vergangenheit. Sie ist das letzthin Progressive in ihr
und dasjenige, was aus der ideologischen Hülle zum rationellen
Kern hinführt, ihn entdecken läßt.
So wollen wir hier, mit Logischem beschäftigt, des nicht
toten Hegel gedenken. Seine härteste und wohl fruchtbarste
Arbeit hat der dialektischen Durchdringung und ungeheuren
Erweiterung der Logik gegolten. Die formale Logik hat er darin
zwar ans Ende gesetzt, wo sie nicht hingehört, nämlich in die
bei ihm so genannte subjektive Logik, als die des Begriffs im
Hegeischen Sinn, nämlich des Letzten nach Sein und Wesen oder
der schließlichen Einheit von Sein und Wesen. Wir hier geben dem
Begriff und dem Formallogischen nicht diese hochidealistische
Ehre; er ist nicht das, was Sein und Wesen krönt. Aber Hegel hat
der formalen Logik auch einen anderen Rang gegeben und das
gerade hinsichtlich ihres Erziehungs-, weiterhin ihres
methodologischen Werts. Sie ist dann zunächst jene Schule der
Vernunft, welche zur inhaltlich sich entwickelnden Dialektik
unumgänglich hinleitet und sie sachlich präformiert. So
empfiehlt Hegel die alles übrige einleitende Kenntnis rein
formallogischer Beziehungen, weil, wie er sagte, »der Jugend
erst einmal Hören und Sehen vergehen muß«. Das bedeutet: die
unmittelbare Gewißheit, wie sie die Sinnlichkeit gibt, muß
gebrochen und durch die Erkenntnis logisch abbildbarer
Zusammenhänge überboten werden. Statt in der sinnlichen
Gewißheit und auch im sogenannten gesunden Menschenverstand zu
kleben, müssen die Menschen erfahren haben, »was es bedeutet,
förmliche Gedanken im Kopf zu haben«, also Gedanken der formalen
Logik. Und noch ein Wort Hegels gehört hierher, es ist
gewissermaßen allen jenen zugeeignet, die sich für zu vornehm
oder zu tief zu halten gedenken, um formale Logik zu treiben und
sie so sehr ernst zu nehmen, wie sie verdient. Hegel vergleicht
die formale Logik mit der Grammatik in der Hand von Kindern oder
mit Weisheitssprüchen im Mund von Unmündigen, Altklugen. Die
gleichen Weisheitssprüche aber im Mund erfahrener Frauen und
Männer, sagt Hegel, zeigen plötzlich Substanz und Gehalt. Ebenso
sieht die Grammatik anders drein, je nachdem, ob man sie vor der
wirklichen Erfahrung der Sprache betreibt
oder aber nach dieser Erfahrung
mit wahrer Betroffenheit der Sprachlehre sich hingibt. Die
formale Logik aber, sagt Hegel, gehört durchaus in diese Reihe.
Im Maße, wie Wissen und Denkerfahrung steigen, wird gerade
dieser Lehrgegenstand wachsend bedeutsam, er wird
außerordentlich interessant, und sein förmlicher Inhalt wird
kostbar. Lenin hat sich diese Hegelstelle besonders exzerpiert
und nannte ihren Gedanken »fein und tief«. Und was die
formallogische Gegenstandsbeziehung selber angeht, so nennt sie
Hegel bei Aristoteles zwar nur eine »Naturgeschichte des
endlichen Denkens, eine Logik des Endlichen«, das heißt hier,
des Nichtdialektischen, jedoch er fügt hinzu: »Aber man muß sich
damit bekannt machen, denn im Endlichen findet sie sich
überall.« Die Schöpfung des Aristoteles bleibt auch für Hegel
eine höchst wichtige Vorlage, ja notwendige Bedingung und
dankbar anzuerkennende Voraussetzung. Erst recht aber bleibt uns
das alles und mehr an Hegels Logik, am dialektischen Reichtum
dieser noch idealistischen, jedoch bereits konkret gezielten
Philosophie. Die Phänomenologie, die hier in Jena geschriebene,
nannte Hegel seine »Entdeckungsreisen«. Das bedeutet objektiv:
sie ist Wahrheit auf dem Marsch. Und gerade, weil die Wahrheit
seitdem so entscheidend weitergekommen ist, als
materialistische, ist Hegels Prozeßgedanke und Humanum ihr neu
lebendig, ein echtes Erbe.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen
aus:
Ernst Bloch, Über Methode und System bei Hegel, Ffm 1970, S.7-10
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