Marx und die idealistische Dialektik

von Ernst Bloch

04/11

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Als der Student MARX 1836 nach Berlin kam, war HEGEL seit fünf Jahren tot. Aber sein Geist beherrschte noch alle, als stünde er hinter ihnen im Rücken, selbst den Feinden diktierte er den Weg. Der junge MARX schreibt an seinen Vater, er habe sich immer fester an HEGEL gekettet, trotz dessen «grotesker Felsenmelodie». Unter dem Einfluß der linken Hegelschule, dann vor allem FEUERBACHS kam MARX vom Geist zum Menschen. Er kam weiter von der Idee zum Bedürfnis und seinen gesellschaftlichen Umtrieben, von den Bewegungen des Kopfes zu den wirklichen, die aus dem wirtschaftlichen Interesse entspringen. Aber hat MARX HEGEL derart auf die Füße gestellt, so zeigt auch HEGEL, daß ihm mindestens der Pferdefuß nicht fremd war; ein unbewachter Satz des großen Idealisten gehört hierher, und nicht nur der junge, auch der entschieden materialistische MARX hätte ihm wohl zugestimmt. Denn 1807 schrieb HEGEL aus Bamberg, wo er als Redakteur sich durchschlug, an seinen Jenenser Freund, den Major KNEBEL: «Ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern gemacht: trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen» (XVII, S. 629 f). Der Spruch lautet in der Bibel (Matth. 6, 33) bekanntlich genau umgekehrt; ein weiterer, auch schon am jungen MARX bewahrheiteter Beitrag zu der fruchtbaren Einsicht, daß die HEGEL-Idee zuweilen nicht einmal so sehr viel umgeschlagen werden mußte, um rotes Futter zu zeigen.

Und eben das Umschlagen, eine HEGELSche Hauptsache, war am allerbesten an seinem Lehrer selbst fällig und vornehmbar. Der Dialektiker HEGEL ließ durch die Idee geschehen, was einzig durch Körper und Menschen geschah, doch oft ließ er auch in der Idee nur reflektieren, was sich in konkreten Daseinsverhältnissen zutrug. Diese durchgängige dialektische Gesetzmäßigkeit haben MARX und ENGELS, wie letzterer im Vorwort zum <Anti-Dühring> sagt, «in die materialistische Geschichtsauffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet». Konkret gewordene Dialektik leitet bei MARX seine sämtlichen Analysen, sie belegt, als Durchbruch des Neuen durch die Rinde, als bewahrendes Aufheben dessen, wovon noch Aufhebens zu machen ist, seine sämtlichen Hoffnungen. Sie befähigt ihn, zum Unterschied von den abstrakten Utopisten, im Elend nicht nur das Elend zu sehen, sondern ebenso den Wendepunkt. Sie überzeugt ihn, im Proletariat nicht nur die Negation des Menschen zu sehen, sondern eben deshalb, wegen dieser an die Spitze getriebenen Entmenschung, die Bedingung zu einer «Negation der Negation». Was bei MARX aufhört, ist HEGELS Dialektik als bloße Hin- und Widerrede eines Weltgesprächs, gar eines Weltbildners mit sich selbst: das ist das falsche Geistsubjekt bei HEGEL, das von MARX völlig aufgegebene. Aber Dialektik als reeller Prozeß wird nach Wegfall des idealistischen Scheins erst recht sichtbar; sie ist das Bewegungsgesetz der Materie. Und was bei MARX weiter aufhört, ist das HEGELSche Antiquarium, das heißt: jener als Erinnerung doppelt vergeistigte Geist, der am dialektischen Geisterzug zwar leider nicht die Geister, wohl aber den Zug, den Prozeß oder, wie MARX sagt, den Produktionsraum Zeit zuletzt aufgehoben hatte. Jedoch das wirkliche Totum und sein wirklich durchgängiges Substrat werden nun gleichfalls erst recht sichtbar: als dialektische, als prozessuale, offengehaltene Materie. Diese reduziert das fundierende Wesen nicht auf Ge-wesen-heit, auch nicht auf eine von Anfang an und sozusagen rundherum fertig vorliegende Substanz. Dialektische Materie ist darum auch keineswegs die unveränderliche des mechanischen Materialismus, sie bildet keinen Klotz mit dialektisch schmückendem Beiwort, das dem Klotz kaum die Haut ritzt, geschweige daß es ihn veränderte. Dialektische Materie hat ihr Totum nicht im Horizont der Vergangenheit liegen, wie der Erinnerungs-Geist HEGELS, aber auch wie die mechanische Materie seit DEMOKRIT, sondern im Horizont der Zukunft. Zu ihr hin, auf die die Vergangenheit selber bezogen ist, sieht nun der dialektische Materialismus die Materie tätig, dieses nicht nur Bedingende aller Erscheinungen, sondern selbst noch nicht in volle Erscheinung getretene Wesen, dieses nicht nur nach Möglichkeit Seinlassende, sondern auch in Möglichkeit Seiende. MARX macht HEGEL zum Vorwurf: «In HEGELS Geschichtsphilosophie wie in seiner Naturphilosophie gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur, die christliche Religion das Heidentum, das Resultat den Anfang»; aber im mechanischen Materialismus gebiert der Anfang nicht einmal ein Resultat. Seine Materie bleibt unfruchtbar, wogegen die dialektische Materie das gesamte Leben des von HEGEL angezeigten Prozesses für sich hat. Dialektisch-materialistische Erkenntnis also hat den HEGELSchen Logos, mit all seiner gebannten Unruhe, seiner unruhigen Starre, vom Thron gestoßen, doch sein historisches Reich hat sie an sich genommen. So entsteht bewußte Herstellung der Geschichte, aktive Bezogenheit auf ein wirklich ganzes und als solches noch ausstehendes Totum. Das ist der Umschlag von HEGEL zu MARX, eine Berichtigung des Geisterzuges zum irdischen Prozeß, des fixen Erinnerungsinhalts zum unerschöpften Fundus dialektischer Materie. Die Logik der Sache ist derart der Grund, weshalb auch so vieles aus der damaligen Philosophensprache (wie «Entfremdung», «Entäußerung», «Umschlag der Quantität in die Qualität» und so fort) im Marxismus auf der Tagesordnung fortbesteht. Am lebendigsten, wegen der Dialektik, sind im Marxismus die HEGELSche <Phä-nomenologie> und <Logik> geblieben. Damit jedoch ist ihm das Erbe nicht erschöpft; gerade die realphilosophisch-systematischen Werke enthalten Dialektik in immer neuer, inhaltlich variierter Fülle. ENGELS hat eine Naturdialektik auf HEGELS Spuren geschrieben, MARX hat aus HEGELS Rechtsphilosophie die grundlegende Unterscheidung «bürgerliche Gesellschaft — Staat» übernommen und so vieles Inhaltliche, nicht nur «Methodische» mehr. HEGELS Ästhetik ist überwiegend auf gesellschaftliche Verhältnisse gebaut und ihnen auf ebenso konkret gemeinte wie das «Ideal» bedeutende Weise zugeordnet; MARX nimmt überall dort, wo das Ideologische in Kultur reicht, auf HEGELS Kunstbegriffe Bezug. LENIN hat alle diese Bezüge im Auge, wenn er die Lehre von MARX «als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehre der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus» bezeichnet (Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, Werke XVI, S. 349). Sehr weite Partien HEGELS - die Religionsphilosophie (Hegelsche Linke, FEUERBACH) am wenigstens zu vergessen - gehören darum zur Vermittlungsgeschichte des Marxismus, des bekanntlich unabgeschlossenen. Marxismus ist und bleibt dabei, auch als «Fortsetzung», ein Novum - nicht nur gegenüber HEGEL, sondern der gesamten Philosophie bis dahin; ein Novum, weil hier nicht, wie bisher, die Philosophie einer Klassengesellschaft, sondern einer Aufhebung der Klassengesellschaft erscheint. Doch genau dieses Novum ist nicht durch ein abruptes Wunder entstanden, konträr: ohne die klassische deutsche Philosophie, ohne diese Vermittlung wäre es nicht da.
Der Mensch, sagt MARX, unterscheidet sich vom Biber dadurch, daß er seinen Bau plant. Um erfolgreich tätig sein zu können, muß er seine Sache allerdings erst im Kopf, in Gedanken erwogen haben. Aber so, daß er nicht, wie oft bei HEGEL, einen Begriff oder eine schematische Bewegung von Begriffen von außen an die Dinge heranträgt. Erkenntnis geschieht nicht aus den Tiefen des eigenen
Gemüts oder als Zuschauer ihrer selbst, sie geschieht einzig als Abbildung wirklicher Vorgänge und ihrer relativ dauernden Daseinsweise (Kategorien). Sowenig aber wie HEGEL anerkennt MARX Tatsachen als solche, sie sind ihm nur Momente von Prozessen. Und dies Prozeßhafte macht, daß jede Erkenntnis ihre Zeit hat, daß Philosophie, wie HEGEL sagt, wirklich «ihre Zeit ist» (und die darin umgehende nächstfolgende), «in Gedanken gefaßt». Hier nimmt MARX völlig HEGEL auf, charakteristisch verschärft, aus der bloßen Betrachtung entfernt: «Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Wirklichkeit drängt, die Wirklichkeit muß sich auch zum Gedanken drängen.» Das begreifende Subjekt ist, in dialektischer Wechselwirkung, auf die geschichtliche Fälligkeit oder Reife des zu begreifenden Objekts angewiesen. Hierbei werden das Subjekt als Träger bloßer denkender Betrachtung und das Subjekt realer Geschichte völlig unterschieden. Bei HEGEL fielen beide ebenso völlig zusammen, das gedankenerzeugende Subjekt war auch das geschichtserzeugende, es sei denn, das betrachtende Subjekt, das der Philosophie, kommt zu spät. Aber auch dieses nachträgliche Bewußtsein des Philosophen, auf das HEGEL das Subjekt des Begreifens reduziert, ist doch au fond das geschichtserzeugende Subjekt, nur post festum, nur auf seinen Lorbeeren ruhend. Denken und Sein, Kopf und Adler fallen auf HEGELS Weltmünze zusammen, auch wenn der Kopf im Pensionszustand den Weltgang, der er angeblich ist, nur registriert. MARX dagegen erblickt im denkerzeugenden Subjekt entweder gar nichts, außer dem Träger von Sparren, von falschem Bewußtsein, von Betrachtung außerhalb des wirklichen, des Produktionsprozesses. Oder aber, er wertet den Gedanken, sofern er ein mit der geschehenden Wirklichkeit vermittelter ist, selber als Faktor der Umwälzungsprozesse: nur dann, dann aber unbedingt, wird er geschichtserzeugend. Wird als Klassenbewußtsein, als revolutionäre Wissenschaft eine besonders mächtige, auf Produktion und Basis zurückwirkende Kraft, gehört zum Subjekt der Geschichtserzeugung, der mit Bewußtsein gemachten Geschichte. Das grundlegende Subjekt ist bei MARX aber niemals der Geist, sondern der wirtschaftende gesellschaftliche Mensch. Und es ist nicht derselbe abstrakte Mensch, der Mensch als bloßes Gattungswesen, wie bei FEUERBACH, sondern der Mensch als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sich geschichtlich ändernd, ein letzthin noch ungefundenes, unemanzipiertes Wesen. So geschieht die dialektische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, worin immer eines das andere berichtigt und verändert, primär im und am ökonomisch-sozialen Unterbau der Geschichte, der bislang dasselbe wie der Hauptbau ist, sie geschieht im Sozialreich der Interessen, nicht im Himmelreich der Ideen. MARX deutete gerade die HEGELSche <Phänomenologie> dahin aus, als hätte HEGEL, wider seinen eigenen Idealismus, solche materielle Dialektik bezeugt. Das Große an der <Phänomenologie> ist danach einmal, «daß HEGEL die Selbsterzeugung des Menschen als einen. Prozeß faßt», sodann aber, vor allem, «daß er das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift». Aus der Selbsterzeugung des absoluten Wissens wird derart Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit; aus dem Fürsichwerden des Geistes (einem auch bei HEGEL sauren Geschäft, man weiß nicht, warum) wird reale Geschichte. Sie ist einzig als materiell-dialektische vorhanden, als eine von Klassenkämpfen durchtobte, mit der «Emanzipation des Menschen» erst am unge-kommenen Ende. HEGEL hatte seine Geschichte der Philosophie mit einem leicht umgewandelten VERGiL-Zitat aus der <Äneis> geschlossen: «Tantae molis erat, se ipsam cognoscere mentem», solche Mühe kostete es, bis der Geist sich selbst erkennt. MARX hatte diese Mühe allemal als eine nicht nur geistige begriffen, und nahm er mit HEGEL die alte Inschrift auf dem Tempel in Delphi: «Erkenne dich selbst» als Thema der menschlichen Geschichte an, so war er entscheidend davon entfernt, Selbsterkenntnis mit der linken Hegelschule als bloße «Philosophie des Selbstbewußtseins» zu definieren. Selbsterkenntnis wurde zu einer nichtbetrachtenden, und sie wurde zu der des arbeitenden Menschen, der sich darin sowohl als Ware begreift, zu der er entäußert ist, wie als werterzeugendes Subjekt, das seinen aufgezwungenen Warencharakter revolutionär aufhebt. Das ist die Praxis der delphischen Inschrift bei MARX, ist wirkliche, zur Praxis gelangende Aufhebung der Entäußerung. Eine, die den Produktionsprozeß und das Wissen um die von ihm gesetzten menschlichen Beziehungen so weit wie möglich in die scheinbare Schickung, in das verdinglicht undurchschaute Schicksal hineintreibt.

Die Dialektik also muß es sich gefallen lassen, kein an die Dinge herangetragenes Verfahren mehr zu bleiben. Sie war das der Absicht nach ja auch bei HEGEL nicht, auch dieser liebte keine vom Stoff abgetrennte Methodologie, auch nicht, wie zu sehen war, die außen herumgehende Erkenntnistheorie. HEGEL hat seine Dialektik trotzdem als rein idealistische entwickelt, die, soviel sie auch von Land und Leuten mitteilt, dies doch stets nach Maßgabe eines logischen Apriori mitteilt. Für MARX dagegen ist die Dialektik nirgends eine Methode, nach der er die Geschichte bearbeitet, sondern sie ist dasselbe wie die Geschichte selbst. Das Bürgertum innerhalb der feudalen Gesellschaft, das Proletariat innerhalb der bürgerlichen, die Krisen, welche aus dem Mißverhältnis zwischen einer großindustriellen, also bereits kollektiven Produktionsweise und den privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen entstehen: alle diese im Schoß der jeweiligen Gesellschaft erzeugten Widersprüche sind keine an die Sache methoden-theoretisch herangetragenen, auch keine bloßen Oberflächenerscheinungen, die flickbar sind, sondern sie gehören, wie MARX lehrt, zur Daseinsweise der Sache selbst, zur Dialektik ihres Wesens. Der auf die Spitze getriebene Widerspruch einer Gesellschaft treibt in der Wirklichkeit seiner Auflösung entgegen, nicht in einem Buch über die Wirklichkeit, wonach dem Geiste Genüge geschehen und im bereisten Lande alles beim alten bleibt. Daß es nirgends beim alten bleibt, daß es statt dessen durch die Produktivkraft revolutionär dialektischer Erkenntnis zum besseren Neuen kommen kann, dies eben wird durch die Real-Dialektik der Materie selbst ermöglicht. Es wird durch eine materielle Beschaffenheit ermöglicht, in der ohnehin kein Stein auf dem anderen bleibt, in der freilich nur durch den erkennend-tätigen Menschen, als letzter Gestalt der Materie, aus den bewegbaren Steinen ein Haus und eine Heimat gebaut werden können, dieses also, was die alten Utopisten regnum hominis, Welt für Menschen genannt hatten. Um die Welt, mit dem Menschen als Stück der Welt und in der Welt, dermaßen zu bewegen, muß sie für MARX sein, was sie ist: materieller Prozeß. Alle Kategorien, auch «Sphären» (Recht, Kunst, Wissenschaft) funktionieren einzig in der sich geschichtlich umwälzenden Wirklichkeit; als Daseinsweisen, die überdies - weit davon entfernt, ein gleichbleibend-abgeschlossenes System zu bilden - von einer zur anderen Gesellschaft variieren. Und nirgends besitzen die «Sphären» (Recht, Kunst, Wissenschaft) ein - bei HEGEL vorhandenes - Sonderleben, gar Autarkie. Auch nach Seiten der Natur behauptet MARX ein einheitliches historisches Medium (Vermittlungswesen): «Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann, von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig» (Deutsche Ideologie). Hierbei ist die Hauptsache, immer wieder, bei all dieser auf die Füße gestellten HEGEL-Dialektik: sie soll nicht kontemplativ bleiben. Das Subjekt in der Subjekt-Objekt-Beziehung des allhistorischen Materialismus wird als tätiges, als real erzeugendes bestimmt. Und überall richtet sich dieses Anti-Kontemplative bei MARX nicht weniger gegen den Materialismus der alten Art, als es sich gegen HEGEL richtet. Schon in seiner Doktordissertation hatte MARX an DEMOKRIT, dem ersten großen Materialisten, das «energetische Prinzip» vermißt; folgerichtig machte er also FEUERBACH zum Vorwurf, daß auch sein Materialismus nur ein betrachtender, allzu objektivistischer sei. So daß hier die Wirklichkeit, viel mehr als bei HEGEL, «nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv» (Thesen über Feuerbach). Wogegen es immerhin geschah, bei HEGEL geschah, «daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde, - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt». MARX sieht also letzthin das «Subjektive» oder «Intensive» bei HEGEL nicht einmal so ganz ausgelassen, wie dies den Anti-Hegelianern KIERKEGAARD und SCHEL-LING erschienen war, von ihrem «positiven» Idealismus her. Er akzentuiert, am Arbeitsvorgang, die vorhandene Subjekt-Objekt-Beziehung in HEGELS Dialektik, und er lehrt das Subjekt, das bei HEGEL so abstrakt war, jedoch nicht fehlte, als materielle Macht. Er lehrt das menschliche Leben als einzig existent im Ensemble der bedingenden gesellschaftlichen Verhältnisse, aber er lehrt ebenso den Menschen mit seiner Arbeit als Hersteller und Veränderer dieser Verhältnisse. Und statt des mechanischen Weltgewühls, worin außer äußerer Notwendigkeit überhaupt kein Sinn steckt, lebt bei MARX der von LEIBNIZ herkommende, von HEGEL ihm überlieferte entwicklungsgeschichtliche Humanismus. Die ganze Welt ist hier ein offenes System dialektisch sich durcharbeitender Aufklärung. Ihre Pointe ist Humanität, sich gegenständlich unentfremdete, unter nicht mehr entfremdeten Gegenständen. Das ist das Leben HEGELS bei MARX; eine andere Art Gesellschaft als die nach HEGEL geistig niedergehende beansprucht das Erbe der deutschen klassischen Philosophie.

Hinweise

«Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.» (Thesen über Feuerbach, 1845)

«Die Althegelianer hatten alles begriffen, sobald es auf eine HEGEL-sche logische Kategorie zurückgeführt war. Die Junghegelianer kritisierten alles, indem sie religiöse Vorstellungen unterschoben oder es für theologische erklärten. Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die einen die Herrschaft als Usurpation, welche die anderen als legitim feiern.»
«Nachdem einmal die herrschenden Gedanken von den herrschenden Individuen und vor allem von den Verhältnissen, die aus einer gegebenen Stufe der Produktionsverhältnisse hervorgehen, getrennt sind und dadurch das Resultat zustande gekommen ist, daß in der Geschichte stets Gedanken herrschen, ist es sehr leicht, aus diesen verschiedenen Gedanken sich den Gedanken, die Idee etc. als das in der Geschichte Herrschende zu abstrahieren und damit alle diese einzelnen Gedanken und Begriffe als Selbstbestimmungen» des sich in der Geschichte entwickelnden Begriffs zu fassen. Dies hat die spekulative Philosophie getan.» (Deutsche Ideologie, 1845/46, MEGA l 5, S. 9, 37 f)

«Glaubt die kritische Kritik in der Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur zum Anfang gekommen zu sein, solange sie das theoretische und praktische Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder meint sie, irgendeine Periode in der Tat schon erkannt zu haben, ohne zum Beispiel die Industrie dieser Periode, die unmittelbare Produktionsweise des Lebens selbst, erkannt zu haben? Allerdings die spiritualistische, die theologische, kritische Kritik kennt nur - kennt wenigstens in ihrer Einbildung -die politischen, literarischen und theologischen Haupt- und Staatsaktionen der Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom Leibe, sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie nicht in der grob-materiellen Produktion auf der Erde, sondern in
der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der Geschichte.» (Die heilige Familie 1844/45, MEGA 1,3, S. 327)

«HEGEL macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal, indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen läßt. Da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als schöpferischer Weltgeist zum Bewußtsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewußtsein, in der Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen Einbildung.» (Ebenda, MEGA 1,3, S. 258)

«Das Große an der HEGELschen Phänomenologie und ihrem Endresultat - der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist einmal, daß HEGEL die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift.» (ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844, MEGA 1,3, S. 156)
«Ich bekannte mich offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im <Kapital> über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in HEGELS Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. - In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Methode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.» (Das Kapital, Nachwort zur 2. Aufl., 1873)

«Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, sowenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere menschliche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der Kopf von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.» (<Rheinische Zeitung>, 14. Juli 1842)

«Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen hat, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.» (Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 1844)

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:
Bloch, Ernst, Karl Marx und die Menschlichkeit, Reinbek 1969, S. 139-149
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