Als der
Student MARX 1836 nach Berlin kam, war HEGEL seit fünf Jahren
tot. Aber sein Geist beherrschte noch alle, als stünde er hinter
ihnen im Rücken, selbst den Feinden diktierte er den Weg. Der
junge MARX schreibt an seinen Vater, er habe sich immer fester
an HEGEL gekettet, trotz dessen «grotesker Felsenmelodie». Unter
dem Einfluß der linken Hegelschule, dann vor allem FEUERBACHS
kam MARX vom Geist zum Menschen. Er kam weiter von der Idee zum
Bedürfnis und seinen gesellschaftlichen Umtrieben, von den
Bewegungen des Kopfes zu den wirklichen, die aus dem
wirtschaftlichen Interesse entspringen. Aber hat MARX HEGEL
derart auf die Füße gestellt, so zeigt auch HEGEL, daß ihm
mindestens der Pferdefuß nicht fremd war; ein unbewachter Satz
des großen Idealisten gehört hierher, und nicht nur der junge,
auch der entschieden materialistische MARX hätte ihm wohl
zugestimmt. Denn 1807 schrieb HEGEL aus Bamberg, wo er als
Redakteur sich durchschlug, an seinen Jenenser Freund, den Major
KNEBEL: «Ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des
Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern
gemacht: trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird
euch das Reich Gottes von selbst zufallen» (XVII, S. 629 f). Der
Spruch lautet in der Bibel (Matth. 6, 33) bekanntlich genau
umgekehrt; ein weiterer, auch schon am jungen MARX bewahrheiteter
Beitrag zu der fruchtbaren Einsicht, daß die HEGEL-Idee zuweilen
nicht einmal so sehr viel umgeschlagen werden mußte, um rotes
Futter zu zeigen.
Und eben das
Umschlagen, eine HEGELSche Hauptsache, war am allerbesten an
seinem Lehrer selbst fällig und vornehmbar. Der Dialektiker
HEGEL ließ durch die Idee geschehen, was einzig durch Körper und
Menschen geschah, doch oft ließ er auch in der Idee nur
reflektieren, was sich in konkreten Daseinsverhältnissen zutrug.
Diese durchgängige dialektische Gesetzmäßigkeit haben MARX und
ENGELS, wie letzterer im Vorwort zum <Anti-Dühring> sagt, «in
die materialistische Geschichtsauffassung der Natur und
Geschichte hinübergerettet». Konkret gewordene Dialektik leitet
bei MARX seine sämtlichen Analysen, sie belegt, als Durchbruch
des Neuen durch die Rinde, als bewahrendes Aufheben dessen,
wovon noch Aufhebens zu machen ist, seine sämtlichen Hoffnungen.
Sie befähigt ihn, zum Unterschied von den abstrakten Utopisten,
im Elend nicht nur das Elend zu sehen, sondern ebenso den
Wendepunkt. Sie überzeugt
ihn, im Proletariat nicht nur die Negation des Menschen
zu sehen, sondern eben deshalb, wegen dieser an die Spitze
getriebenen Entmenschung, die Bedingung zu einer «Negation der
Negation». Was bei MARX aufhört, ist HEGELS Dialektik als bloße
Hin- und Widerrede eines Weltgesprächs, gar eines Weltbildners
mit sich selbst: das ist das falsche Geistsubjekt bei HEGEL, das
von MARX völlig aufgegebene. Aber Dialektik als reeller Prozeß
wird nach Wegfall des idealistischen Scheins erst recht
sichtbar; sie ist das Bewegungsgesetz der Materie. Und was bei
MARX weiter aufhört, ist das HEGELSche Antiquarium, das heißt:
jener als Erinnerung doppelt vergeistigte Geist, der am
dialektischen Geisterzug zwar leider nicht die Geister, wohl
aber den Zug, den Prozeß oder, wie MARX sagt, den
Produktionsraum Zeit zuletzt aufgehoben hatte. Jedoch das
wirkliche Totum und sein wirklich durchgängiges Substrat werden
nun gleichfalls erst recht sichtbar: als dialektische, als
prozessuale, offengehaltene Materie. Diese reduziert das
fundierende Wesen nicht auf Ge-wesen-heit, auch nicht auf eine
von Anfang an und sozusagen rundherum fertig vorliegende
Substanz. Dialektische Materie ist darum auch keineswegs die
unveränderliche des mechanischen Materialismus, sie bildet
keinen Klotz mit dialektisch schmückendem Beiwort, das dem Klotz
kaum die Haut ritzt, geschweige daß es ihn veränderte.
Dialektische Materie hat ihr Totum nicht im Horizont der
Vergangenheit liegen, wie der Erinnerungs-Geist HEGELS, aber
auch wie die mechanische Materie seit DEMOKRIT, sondern im
Horizont der Zukunft. Zu ihr hin, auf die die Vergangenheit
selber bezogen ist, sieht nun der dialektische Materialismus die
Materie tätig, dieses nicht nur Bedingende aller Erscheinungen,
sondern selbst noch nicht in volle Erscheinung getretene Wesen,
dieses nicht nur nach Möglichkeit Seinlassende, sondern auch in
Möglichkeit Seiende. MARX macht HEGEL zum Vorwurf: «In HEGELS
Geschichtsphilosophie wie in seiner Naturphilosophie gebiert der
Sohn die Mutter, der Geist die Natur, die christliche Religion
das Heidentum, das Resultat den Anfang»; aber im mechanischen
Materialismus gebiert der Anfang nicht einmal ein Resultat.
Seine Materie bleibt unfruchtbar, wogegen die dialektische
Materie das gesamte Leben des von HEGEL angezeigten Prozesses
für sich hat. Dialektisch-materialistische Erkenntnis also hat
den HEGELSchen Logos, mit all seiner gebannten Unruhe, seiner
unruhigen Starre, vom Thron gestoßen, doch sein historisches
Reich hat sie an sich genommen. So entsteht bewußte Herstellung
der Geschichte, aktive Bezogenheit auf ein wirklich ganzes und
als solches noch ausstehendes Totum. Das
ist der Umschlag von HEGEL zu MARX, eine Berichtigung des
Geisterzuges zum irdischen Prozeß, des fixen Erinnerungsinhalts
zum unerschöpften Fundus dialektischer Materie. Die Logik der
Sache ist derart der Grund, weshalb auch so vieles aus der
damaligen Philosophensprache (wie «Entfremdung», «Entäußerung»,
«Umschlag der Quantität in die Qualität» und so fort) im
Marxismus auf der Tagesordnung fortbesteht. Am lebendigsten,
wegen der Dialektik, sind im Marxismus die HEGELSche <Phä-nomenologie>
und <Logik> geblieben. Damit jedoch ist ihm das Erbe nicht
erschöpft; gerade die realphilosophisch-systematischen Werke
enthalten Dialektik in immer neuer, inhaltlich variierter Fülle.
ENGELS hat eine Naturdialektik auf HEGELS Spuren geschrieben,
MARX hat aus HEGELS Rechtsphilosophie die grundlegende
Unterscheidung «bürgerliche Gesellschaft — Staat» übernommen und
so vieles Inhaltliche, nicht nur «Methodische» mehr. HEGELS
Ästhetik ist überwiegend auf gesellschaftliche Verhältnisse
gebaut und ihnen auf ebenso konkret gemeinte wie das «Ideal»
bedeutende Weise zugeordnet; MARX nimmt überall dort, wo das
Ideologische in Kultur reicht, auf HEGELS Kunstbegriffe Bezug.
LENIN hat alle diese Bezüge im Auge, wenn er die Lehre von MARX
«als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehre der größten
Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des
Sozialismus» bezeichnet (Drei Quellen und drei Bestandteile des
Marxismus, Werke XVI, S. 349). Sehr weite Partien HEGELS - die
Religionsphilosophie (Hegelsche Linke, FEUERBACH) am wenigstens
zu vergessen - gehören darum zur Vermittlungsgeschichte des
Marxismus, des bekanntlich unabgeschlossenen. Marxismus ist und
bleibt dabei, auch als «Fortsetzung», ein Novum - nicht nur
gegenüber HEGEL, sondern der gesamten Philosophie bis dahin; ein
Novum, weil hier nicht, wie bisher, die Philosophie einer
Klassengesellschaft, sondern einer Aufhebung der
Klassengesellschaft erscheint. Doch genau dieses Novum ist nicht
durch ein abruptes Wunder entstanden, konträr: ohne die
klassische deutsche Philosophie, ohne diese Vermittlung wäre es
nicht da.
Der Mensch, sagt MARX, unterscheidet sich vom Biber dadurch, daß
er seinen Bau plant. Um erfolgreich tätig sein zu können, muß er
seine Sache allerdings erst im Kopf, in Gedanken erwogen haben.
Aber so, daß er nicht, wie oft bei HEGEL, einen Begriff oder
eine schematische Bewegung von Begriffen von außen an die Dinge
heranträgt. Erkenntnis geschieht nicht aus den Tiefen des
eigenen
Gemüts oder als Zuschauer ihrer selbst, sie geschieht
einzig als Abbildung wirklicher Vorgänge und ihrer relativ
dauernden Daseinsweise (Kategorien). Sowenig aber wie HEGEL
anerkennt MARX Tatsachen als solche, sie sind ihm nur Momente
von Prozessen. Und dies Prozeßhafte macht, daß jede Erkenntnis
ihre Zeit hat, daß Philosophie, wie HEGEL sagt, wirklich «ihre
Zeit ist» (und die darin umgehende nächstfolgende), «in Gedanken
gefaßt». Hier nimmt MARX völlig HEGEL auf, charakteristisch
verschärft, aus der bloßen Betrachtung entfernt: «Es genügt
nicht, daß der Gedanke zur Wirklichkeit drängt, die Wirklichkeit
muß sich auch zum Gedanken drängen.» Das begreifende Subjekt
ist, in dialektischer Wechselwirkung, auf die geschichtliche
Fälligkeit oder Reife des zu begreifenden Objekts angewiesen.
Hierbei werden das Subjekt als Träger bloßer denkender
Betrachtung und das Subjekt realer Geschichte völlig
unterschieden. Bei HEGEL fielen beide ebenso völlig zusammen,
das gedankenerzeugende Subjekt war auch das geschichtserzeugende,
es sei denn, das betrachtende Subjekt, das der Philosophie,
kommt zu spät. Aber auch dieses nachträgliche Bewußtsein des
Philosophen, auf das HEGEL das Subjekt des Begreifens reduziert,
ist doch au fond das geschichtserzeugende Subjekt, nur post
festum, nur auf seinen Lorbeeren ruhend. Denken und Sein, Kopf
und Adler fallen auf HEGELS Weltmünze zusammen, auch wenn der
Kopf im Pensionszustand den Weltgang, der er angeblich ist, nur
registriert. MARX dagegen erblickt im denkerzeugenden Subjekt
entweder gar nichts, außer dem Träger von Sparren, von falschem
Bewußtsein, von Betrachtung außerhalb des wirklichen, des
Produktionsprozesses. Oder aber, er wertet den Gedanken, sofern
er ein mit der geschehenden Wirklichkeit vermittelter ist,
selber als Faktor der Umwälzungsprozesse: nur dann, dann aber
unbedingt, wird er geschichtserzeugend. Wird als
Klassenbewußtsein, als revolutionäre Wissenschaft eine besonders
mächtige, auf Produktion und Basis zurückwirkende Kraft, gehört
zum Subjekt der Geschichtserzeugung, der mit Bewußtsein
gemachten Geschichte. Das grundlegende Subjekt ist bei MARX aber
niemals der Geist, sondern der wirtschaftende gesellschaftliche
Mensch. Und es ist nicht derselbe abstrakte Mensch, der Mensch
als bloßes Gattungswesen, wie bei FEUERBACH, sondern der Mensch
als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sich geschichtlich
ändernd, ein letzthin noch ungefundenes, unemanzipiertes Wesen.
So geschieht die dialektische Beziehung zwischen Subjekt und
Objekt, worin immer eines das andere berichtigt und verändert,
primär im und am ökonomisch-sozialen Unterbau der Geschichte,
der bislang dasselbe wie der Hauptbau ist, sie geschieht im
Sozialreich der Interessen, nicht im Himmelreich der Ideen. MARX
deutete gerade die HEGELSche <Phänomenologie> dahin aus, als
hätte HEGEL, wider seinen eigenen Idealismus, solche materielle
Dialektik bezeugt. Das Große an der <Phänomenologie> ist danach
einmal, «daß HEGEL die Selbsterzeugung des Menschen als einen.
Prozeß faßt», sodann aber, vor allem, «daß er das Wesen der
Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil
wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit
begreift». Aus der Selbsterzeugung des absoluten Wissens wird
derart Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit; aus dem
Fürsichwerden des Geistes (einem auch bei HEGEL sauren Geschäft,
man weiß nicht, warum) wird reale Geschichte. Sie ist einzig als
materiell-dialektische vorhanden, als eine von Klassenkämpfen
durchtobte, mit der «Emanzipation des Menschen» erst am
unge-kommenen Ende. HEGEL hatte seine Geschichte der Philosophie
mit einem leicht umgewandelten VERGiL-Zitat aus der <Äneis>
geschlossen: «Tantae molis erat, se ipsam cognoscere mentem»,
solche Mühe kostete es, bis der Geist sich selbst erkennt. MARX
hatte diese Mühe allemal als eine nicht nur geistige begriffen,
und nahm er mit HEGEL die alte Inschrift auf dem Tempel in
Delphi: «Erkenne dich selbst» als Thema der menschlichen
Geschichte an, so war er entscheidend davon entfernt,
Selbsterkenntnis mit der linken Hegelschule als bloße
«Philosophie des Selbstbewußtseins» zu definieren.
Selbsterkenntnis wurde zu einer nichtbetrachtenden, und sie
wurde zu der des arbeitenden Menschen, der sich darin sowohl als
Ware begreift, zu der er entäußert ist, wie als werterzeugendes
Subjekt, das seinen aufgezwungenen Warencharakter revolutionär
aufhebt. Das ist die Praxis der delphischen Inschrift bei MARX,
ist wirkliche, zur Praxis gelangende Aufhebung der Entäußerung.
Eine, die den Produktionsprozeß und das Wissen um die von ihm
gesetzten menschlichen Beziehungen so weit wie möglich in die
scheinbare Schickung, in das verdinglicht undurchschaute
Schicksal hineintreibt.
Die Dialektik also muß es sich
gefallen lassen, kein an die Dinge herangetragenes Verfahren
mehr zu bleiben. Sie war das der Absicht nach ja auch bei HEGEL
nicht, auch dieser liebte keine vom Stoff abgetrennte
Methodologie, auch nicht, wie zu sehen war, die außen
herumgehende Erkenntnistheorie. HEGEL hat seine Dialektik
trotzdem als rein idealistische entwickelt, die, soviel sie auch
von Land und Leuten mitteilt, dies doch stets nach Maßgabe eines
logischen Apriori mitteilt. Für
MARX dagegen ist die Dialektik nirgends eine Methode, nach der
er die Geschichte bearbeitet, sondern sie ist dasselbe wie die
Geschichte selbst. Das Bürgertum innerhalb der feudalen
Gesellschaft, das Proletariat innerhalb der bürgerlichen, die
Krisen, welche aus dem Mißverhältnis zwischen einer
großindustriellen, also bereits kollektiven Produktionsweise und
den privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen entstehen:
alle diese im Schoß der jeweiligen Gesellschaft erzeugten
Widersprüche sind keine an die Sache methoden-theoretisch
herangetragenen, auch keine bloßen Oberflächenerscheinungen, die
flickbar sind, sondern sie gehören, wie MARX lehrt, zur
Daseinsweise der Sache selbst, zur Dialektik ihres Wesens. Der
auf die Spitze getriebene Widerspruch einer Gesellschaft treibt
in der Wirklichkeit seiner Auflösung entgegen, nicht in einem
Buch über die Wirklichkeit, wonach dem Geiste Genüge geschehen
und im bereisten Lande alles beim alten bleibt. Daß es nirgends
beim alten bleibt, daß es statt dessen durch die Produktivkraft
revolutionär dialektischer Erkenntnis zum besseren Neuen kommen
kann, dies eben wird durch die Real-Dialektik der Materie selbst
ermöglicht. Es wird durch eine materielle Beschaffenheit
ermöglicht, in der ohnehin kein Stein auf dem anderen bleibt, in
der freilich nur durch den erkennend-tätigen Menschen, als
letzter Gestalt der Materie, aus den bewegbaren Steinen ein Haus
und eine Heimat gebaut werden können, dieses also, was die alten
Utopisten regnum hominis, Welt für Menschen genannt hatten. Um
die Welt, mit dem Menschen als Stück der Welt und in der Welt,
dermaßen zu bewegen, muß sie für MARX sein, was sie ist:
materieller Prozeß. Alle Kategorien, auch «Sphären» (Recht,
Kunst, Wissenschaft) funktionieren einzig in der sich
geschichtlich umwälzenden Wirklichkeit; als Daseinsweisen, die
überdies - weit davon entfernt, ein
gleichbleibend-abgeschlossenes System zu bilden - von einer zur
anderen Gesellschaft variieren. Und nirgends besitzen die
«Sphären» (Recht, Kunst, Wissenschaft) ein - bei HEGEL
vorhandenes - Sonderleben, gar Autarkie. Auch nach Seiten der
Natur behauptet MARX ein einheitliches historisches Medium
(Vermittlungswesen): «Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft,
die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann, von zwei
Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die
Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind
indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen
sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen
gegenseitig» (Deutsche Ideologie). Hierbei ist die Hauptsache,
immer wieder, bei all dieser auf die Füße
gestellten HEGEL-Dialektik: sie soll nicht kontemplativ bleiben.
Das Subjekt in der Subjekt-Objekt-Beziehung des allhistorischen
Materialismus wird als tätiges, als real erzeugendes bestimmt.
Und überall richtet sich dieses Anti-Kontemplative bei MARX
nicht weniger gegen den Materialismus der alten Art, als es sich
gegen HEGEL richtet. Schon in seiner Doktordissertation hatte
MARX an DEMOKRIT, dem ersten großen Materialisten, das
«energetische Prinzip» vermißt; folgerichtig machte er also
FEUERBACH zum Vorwurf, daß auch sein Materialismus nur ein
betrachtender, allzu objektivistischer sei. So daß hier die
Wirklichkeit, viel mehr als bei HEGEL, «nur unter der Form des
Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als
menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv»
(Thesen über Feuerbach). Wogegen es immerhin geschah, bei HEGEL
geschah, «daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus,
vom Idealismus entwickelt wurde, - aber nur abstrakt, da der
Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als
solche nicht kennt». MARX sieht also letzthin das «Subjektive»
oder «Intensive» bei HEGEL nicht einmal so ganz ausgelassen, wie
dies den Anti-Hegelianern KIERKEGAARD und SCHEL-LING erschienen
war, von ihrem «positiven» Idealismus her. Er akzentuiert, am
Arbeitsvorgang, die vorhandene Subjekt-Objekt-Beziehung
in HEGELS Dialektik, und er lehrt das Subjekt, das bei HEGEL so
abstrakt war, jedoch nicht fehlte, als materielle Macht. Er
lehrt das menschliche Leben als einzig existent im Ensemble der
bedingenden gesellschaftlichen Verhältnisse, aber er lehrt
ebenso den Menschen mit seiner Arbeit als Hersteller und
Veränderer dieser Verhältnisse. Und statt des mechanischen
Weltgewühls, worin außer äußerer Notwendigkeit überhaupt kein
Sinn steckt, lebt bei MARX der von LEIBNIZ herkommende, von
HEGEL ihm überlieferte entwicklungsgeschichtliche Humanismus.
Die ganze Welt ist hier ein offenes System dialektisch sich
durcharbeitender Aufklärung. Ihre Pointe ist Humanität, sich
gegenständlich unentfremdete, unter nicht mehr entfremdeten
Gegenständen. Das ist das Leben HEGELS bei MARX; eine andere Art
Gesellschaft als die nach HEGEL geistig niedergehende
beansprucht das Erbe der deutschen klassischen Philosophie.
Hinweise
«Die Philosophen haben die Welt nur
verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu
verändern.» (Thesen über Feuerbach, 1845)
«Die Althegelianer hatten alles begriffen,
sobald es auf eine HEGEL-sche logische Kategorie zurückgeführt
war. Die Junghegelianer kritisierten alles, indem sie religiöse
Vorstellungen unterschoben oder es für theologische erklärten.
Die Junghegelianer stimmen mit den Althegelianern überein in dem
Glauben an die Herrschaft der Religion, der Begriffe, des
Allgemeinen in der bestehenden Welt. Nur bekämpfen die einen die
Herrschaft als Usurpation, welche die anderen als legitim
feiern.»
«Nachdem einmal die herrschenden Gedanken von den herrschenden
Individuen und vor allem von den Verhältnissen, die aus einer
gegebenen Stufe der Produktionsverhältnisse hervorgehen,
getrennt sind und dadurch das Resultat zustande gekommen ist,
daß in der Geschichte stets Gedanken herrschen, ist es sehr
leicht, aus diesen verschiedenen Gedanken sich den Gedanken, die
Idee etc. als das in der Geschichte Herrschende zu abstrahieren
und damit alle diese einzelnen Gedanken und Begriffe als
Selbstbestimmungen» des sich in der Geschichte entwickelnden
Begriffs zu fassen. Dies hat die spekulative Philosophie getan.»
(Deutsche Ideologie, 1845/46, MEGA l 5, S. 9, 37 f)
«Glaubt die kritische Kritik in der
Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit auch nur zum Anfang
gekommen zu sein, solange sie das theoretische und praktische
Verhalten des Menschen zur Natur, die Naturwissenschaft und die
Industrie, aus der geschichtlichen Bewegung ausschließt? Oder
meint sie, irgendeine Periode in der Tat schon erkannt zu haben,
ohne zum Beispiel die Industrie dieser Periode, die unmittelbare
Produktionsweise des Lebens selbst, erkannt zu haben? Allerdings
die spiritualistische, die theologische, kritische Kritik kennt
nur - kennt wenigstens in ihrer Einbildung -die politischen,
literarischen und theologischen Haupt- und Staatsaktionen der
Geschichte. Wie sie das Denken von den Sinnen, die Seele vom
Leibe, sich selbst von der Welt trennt, so trennt sie die
Geschichte von der Naturwissenschaft und Industrie, so sieht sie
nicht in der grob-materiellen Produktion auf der Erde, sondern
in
der dunstigen Wolkenbildung am Himmel die Geburtsstätte der
Geschichte.» (Die heilige Familie 1844/45, MEGA 1,3, S. 327)
«HEGEL macht sich einer doppelten Halbheit
schuldig, einmal, indem er die Philosophie für das Dasein des
absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwehrt,
das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist
zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als
absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen läßt. Da
der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als
schöpferischer Weltgeist zum Bewußtsein kommt, so existiert
seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewußtsein, in der
Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen
Einbildung.» (Ebenda, MEGA 1,3, S. 258)
«Das Große an der HEGELschen
Phänomenologie und ihrem Endresultat - der Dialektik, der
Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist
einmal, daß HEGEL die Selbsterzeugung des Menschen als einen
Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung,
als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er
also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen
Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner
eigenen Arbeit begreift.» (ökonomisch-philosophische
Manuskripte, 1844, MEGA 1,3, S. 156)
«Ich bekannte mich offen als Schüler jenes großen Denkers und
kokettierte sogar hier und da im <Kapital> über die Werttheorie
mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation,
welche die Dialektik in HEGELS Händen erleidet, verhindert in
keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in
umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei
ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern
in der mystischen Hülle zu entdecken. - In ihrer mystifizierten
Form ward die Dialektik deutsche Methode, weil sie das
Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist
sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein
Ärgernis und ein Greuel, weil sie dem positiven Verständnis des
Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation,
seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form
im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen
Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen
nach kritisch und revolutionär ist.» (Das Kapital, Nachwort zur
2. Aufl., 1873)
«Derselbe Geist baut die
philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die
Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie
steht nicht außer der Welt, sowenig das Gehirn außer dem
Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich die
Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit
den Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere
menschliche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und
mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen,
daß auch der Kopf von dieser Welt oder diese Welt die Welt des
Kopfes sei.» (<Rheinische Zeitung>, 14. Juli 1842)
«Wie die Philosophie im
Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der
Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des
Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen
hat, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen
vollziehen. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne
die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht
aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.» (Einleitung
zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 1844)
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen
aus:
Bloch, Ernst, Karl Marx und die Menschlichkeit, Reinbek 1969, S.
139-149
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