Editorial
Alter Wein in neuen Schläuchen

von Karl Mueller

04/11

trend
onlinezeitung

Untersuchungen zur Klassenlage von ArbeiterInnen sind an sich nichts Neues, besonders dann, wenn sie zur politischen Mobilisierung eingesetzt werden sollen. Es fing 1880 an, als Karl Marx seinen "Fragebogen für Arbeiter" für die französischen Genossen erstellte, damit sich die ArbeiterInnen durch Beantwortung der 101 Fragen  ein Selbstbewusstsein von ihrer Lebenslage und ihrer historischen Mission - nämlich der Aufhebung des Kapitalismus - verschaffen konnten.

In den 1960er Jahren wurde der  "sozialistische Gebrauch des Arbeiterfragebogens" zum Credo des italienischen Operaismus (Panzieri, 1965) und er ereichte die westdeutsche Linke 1969, als (der heutige Schriftsteller) Peter Schneider und andere SDS-GenossInnen das "Untersuchungspapier"  der Unione/ML von ihrem Polit-Trip aus Italien mitbrachten. Da sich die Jugend- und Studentenbewegung in einer Phase der Transformation in eine revolutionär-sozialistische Bewegung befand, glaubten ihre ProtagonistInnen, dass ein Konzept "Politisierung mittels Untersuchung", die Verankerung der Bewegung im Proletariat voranbringen würde (Siehe dazu Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen)

Von bürgerlicher empirischer Sozialforschung hob sich dieses Mobilisierungskonzept allein schon dadurch ab, dass es unter der Losung "Kämpfen-Untersuchen-Organisieren" die so genannten Arbeiterfragen nur als Mittel zum Zweck der politischen Organisierung betrachtete. Es war im Grunde genommen ein pädagogisches Konzept, dass von dem Impetus der Selbsterziehung der Betroffenen getragen war: Von außen an die Klasse herangetragen, initiieren Fragen eine Art von Selbstkenntnis im Sinne eines kollektiven Prozesses, vermittelt durch gemeinsame betriebliche Kämpfe.

Während im Rahmen der nach 1969 folgenden Parteigründungen politische Untersuchungsarbeit auf ein Instrument zum Parteiaufbau reduziert wurde ("Wer ist rechts, Mitte, links im Betrieb?"), verkam dieses Konzept im Rahmen "linker" Sozialarbeit ("Hilfe zur Selbsthilfe") zu einem rein soziologischen Forschungsinstrument mit dem schicken Namen "Aktionsforschung". In den folgenden Jahrzehnten erinnerten u.a. die Operaisten von Wildcat mitunter an dieses Untersuchungskonzept und verliehen ihm das Prädikat "militant".

In der vorliegenden Ausgabe ist gleich in zwei Artikeln von aktuellen Projekten zur "Arbeiteruntersuchung" die Rede: Einmal in Anne Seecks Bericht über FelS-Aktivitäten in Berlin Neukölln, zum andern in der Ankündigung von der Gruppe "La Banda Vaga" ein  Untersuchungsprojekt mittels Fragebogen im Bereich der Leiharbeit zu starten - verbunden mit der Bitte um Teilnahme daran.

Manchmal kann der Rückgriff auf Vergangenes auch ein Fortschritt sein. Das möchte ich in Bezug auf die beiden aktuellen Untersuchungsprojekte per se nicht in Frage stellen; gerade dann nicht, wenn es die Chance der schöpferischen Weiterentwicklung gibt. Anders sieht es bei dem in der TREND-Ausgabe 3/11 veröffentlichten Aufruf zur Gründung einer neuen antikapitalistischen Organisation aus. Hier handelt es sich ganz offensichtlich um alten Wein in neuen Schläuchen. Unter der markigen Losung  "Raus aus dem Zirkelwesen" fabulieren darin eine handvoll von "mittel alten bis alten" GenossInnen aus dem Berliner Stadtteil Schöneberg vom Aufbau einer kommunistischen Organisation durch Sammlung von rund 1000 "Aktivisten", indem es ihnen gelingt die SAV und die Gruppe AVANTI mit Kräften aus den Anti-Krisenbündnissen 2011/12 zusammenzuschließen. Sie halten das für realistisch, weil sie sich einerseits  in einem dafür günstigen Zeitfenster von "Revolution und Konterrevolution" sehen und andererseits glauben, über einen vernünftigen Plan für den Parteiaufbau zu verfügen. Und nicht nur das. Es gibt für sie sogar internationale Vorbilder, von den es zu lernen gilt: "Die französische NPA, den italienischen Verein der Freunde der FIOM, die irische ULA und (mit Einschränkungen das griechische Projekt ANTARSYA".

Gleichwohl aus der Geschichte wollen unsere Schöneberger nicht lernen.

Sie binden ihre politische Praxis ignorant an den Parlamentarismus, sind nationalborniert und focussieren ihre strategischen und taktischen Überlegungen nur auf  deutschstämmige ArbeiterInnen. Sie erklären die Einheitsfront "von oben" mit Linkspartei und DGB zum programmatischen Grundsatz und werben für Aktionsbündnisse mit SPD, Grünen und "linken" CDU-Mitgliedern.

In der Organisationsfrage sind sie von vorgestern, indem sie den "Demokratischen Zentralismus" zum ehernen Organisationsprinzip erheben. Im ZK-Kader-Modell dieser selbsternannten Avantgarde ist für "Mitglieder" selbstredend kein Platz, alle müssen "Aktivisten" sein.

Dass schon seit Jahrzehnten klar ist, eine revolutionäre Organisation kann nur in den Kämpfen der proletarischen Klasse und nicht durch einen sammelwütigen voluntaristischen Akt von selbsternannten Avantgarden entstehen, kommt ihnen dagegen nicht in den Sinn, was nicht verwundert, schaut mensch sich die Passagen ihres Aufrufs im Hinblick auf die dort ausdrücklich thematisierte Klassenfrage an.  Was sie dort als Begriff der Klasse ausgeben ist eine rein soziologische Deskription von Klassenstrukturen, der auch dadurch nicht gehaltvoller wird, wenn es in der dazugehörigen Fußnote heißt:

„Entscheidend (jedenfalls für MarxistInnen) ist nicht, was die Produzenten herstellen / anbieten (Güter oder Dienstleistungen), sondern wie, d.h. unter welchen Bedingungen deren Produktion erfolgt. Relevant ist nicht die Benennung der Tätigkeit (Arbeiter, Angestellter, Wissensarbeiter), sondern die Frage, ob es sich um Lohnarbeit handelt oder nicht.“ 

Im Gegensatz dazu siehe in dieser Ausgabe den Artikel "Wo ist das Proletariat bloß abgeblieben!"

Ihr lernresistenter flapsiger Umgang mit der Geschichte wird besonders deutlich an der Stelle, wo sie sich auf die so genannten sozialistischen Staaten beziehen. Ob es sich hier um einen Staatskapitalismus handelte oder um bürokratischen Kollektivismus,  halten sie sowie so für "Humbug", schließlich sei auch der ADAC "bürokratisch". Andere Einschätzungen kennen unsere Schöneberger "Aktivisten" offensichtlich nicht.

Das es so einfach nicht geht und politisch auch schädlich, darüber waren sich alle in einer Diskussion des TREND-HerausgeberInnenkreises über das Schöneberger Papier einig. Felix Weil legt seine dort vertretenen Thesen im Nachgang in schriftlicher Form für diese TREND-Ausgabe vor.

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Wo allerdings ein Blick zurück nach vorn ganz offensichtlich fehlt und sogar nötig wäre, ist in Sachen Zensus2011 oder ganz altbacken "Volkszählung", die bereits schon seit November 2010 läuft und deren offizieller Start für zig Millionen auszuhorchender BRD-BürgerInnen am 9.Mai 2011 sein wird.

Wir haben eine Extra-Seite dazu eingerichtet, wo wir auf entsprechende Quellen und Informationen hinweisen, getragen von der Hoffnung, dadurch mithelfen zu können, dass sich doch noch sozusagen in letzter Minute - ein sichtbarer Widerstand unter der Hegemonie linker Kräfte formiert.

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Als Besonderheit dieser Ausgabe möchten wir die von Max Brym redigierte Rubrik "trend spezial; Berichte aus Kosova" hervorheben. Hier gibt es sozusagen Berichte aus "erster Hand".

Im Bereich "Auslandsberichte" halten wir noch folgende Artikel für besonders informativ: B. Schmid: Rechts-Rechts-Techtelmechtel und  die wsws-Korrespondenz Ägypten - Proteste gegen Konterrevolution,

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Letztes Jahr war unser publizistischer und politischer Schwerpunkt die Vorbereitung auf den revolutionären 1. Mai. Uns ging es damals um die Verankerung der Parole "Nieder mit dem Lohnsystem". Dieses Vorhaben hatte einen mehrmonatigen Vorlauf und zudem den großen Vorteil, dass damals schon länger klar war, wie sich die revolutionären Kräfte am 1. Mai in Berlin aufstellen würden.

Dieses Jahr geht es in Berlin erheblich ruhiger zu, was mensch schon daran sehen kann, dass die Maimobilisierung noch gar nicht richtig angefangen hat. Uns kommt das entgegen, über hundert TeilnehmerInnen auf dem Teach In zu den Revolutionen in Nordafrika am 5.3.11 und rund 30 zum Vortrag über Klassentheorie am 25.3.11. Ein toller Erfolg, der aber auch Kraft und Mühe kostete. Deswegen beschränken wir uns dieses Jahr in Sachen 1. Mai auf eine reine Berichterstattung über den Stand der Dinge.

Eventuell gibt es noch Ende April von uns eine Gesprächsrunde: Wohin am 1. Mai? Wir werden rechtzeitig informieren.

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Die BesucherInnenzahlen vom März 2011, in Klammern 2010, 2009

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