Betrieb & Gewerkschaft
Barbarisierung der Arbeitsverhältnisse
Mörderische Arbeitsbedingungen bei den Unternehmen der früheren PTT (France Télécom und La Poste)

von Bernard Schmid

04/10

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 Die Justiz ermittelt gegen France Télécom – aufgrund der Verantwortung des Unternehmens für die Selbstmord„epidemie“ unter seinen Lohnabhängigen. Bei der französischen Post ruft unterdessen ein Unternehmensfunktionär zur „Jagd auf schlechte Verkäufer“ und ihrer „Vernichtung“ (sic) auf – und wird erst nach heftigen Protesten versetzt.

Wir wussten, was sie dachten – jetzt schreiben sie es (auf)“: So kommentiert vergangene Woche eine Diskussions-Webseite von Lohnabhängigen der französischen Post die jüngste Affäre um die vielleicht etwas gar zu deutlichen, oder gar zu deftigen, Worte eines örtlichen Direktors. (Vgl. http://www.postiers.net)

Am o5. März 10 hatte Rémi Karcher eine e-Mail verfasst, die Anfang April d.J. bekannt wurde, nachdem die französische Nachrichtenagentur AFP eine Kopie davon erhalten hatte. Karcher ist Direktor aller Postbüros im Pariser Süden, d.h. sämtlicher Postbüros auf der westlichen/südlichen Seite der Seine plus jener des 12. und des 16. Pariser Bezirks. (Anekdote am Rande: Ja, man könnte es gar nicht besser erfinden... Der Ausdruck ,karcher’ bezeichnet im Französischen die Hochdruckreiniger der deutschen Firma Kärcher – oder Raab-Kärcher -, mit denen der damalige Innenminister und frühe Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy im Juni 2005 die Pariser Trabantenstadtzone „säubern“ wollte. Daher resultiert der inzwischen eingebürgerte Ausdruck ,karcheriser’...)

In seinem elektronischen Schreiben erklärte der Direktor wörtlich, „die Jagd“ auf so genannte „schlechte Verkäufer“ sei nun „eröffnet“ – und er rief dazu auf, selbige zu „vernichten“ (exterminer). Gemeint war damit: Jene Postbediensteten, die nicht mindestens eines der neuen „Produkte“ – i.d.R. neue Angebote für Finanzdienstleistungen – im Monat absetzen und mit der Note „Null“ sanktioniert werden, sollen verschwinden. Alle Kräfte sollen dafür mobilisiert werden, dass solches Verhalten beim Personal nicht mehr auftaucht. Die französische Post ist seit dem 1. März 2010 zum ersten Mal eine Aktiengesellschaft mit privatrechtlichem Status (auch wenn der Staat bislang noch – noch - 100 Prozent der Anteile daran hält), und wird seit Jahren schrittweise wie ein Privatunternehmen, d.h. bestimmten Rentabilitätskriterien entsprechend geführt. In den letzten Jahren werden die abhängig Beschäftigten zunehmend mit für Postbedienstete neuen Aktivitäten – dem Verkaufen von „neuen Finanzprodukten“ – belästigt.

Am 12. April begann die linke Basisgewerkschaft SUD PTT (zweitstärkste Gewerkschaft bei der Post und der französischen Telekom), energisch zu protestieren. Zu dem Zeitpunkt berichteten dann die französischen Zeitungen erstmals darüber, und holten Reaktionen seitens der zentralen Postdirektion ein: Diese stufte „die Wortwahl“ des Direktors von Paris-Süd als „total ungeschickt“ ein, zog aber zunächst jenseits dieser verbalen Distanzierung „keine Disziplinarmanahmen“ (Abmahnung, Strafversetzung...) in Betracht. (Vgl. http://www.usascc.com) Kurz darauf wurde er dann doch noch versetzt. Über seine neuen Funktionen verlautbarte, er habe nun „keine Verantwortung mehr für/über Verkaufskräfte“ inne. (Vgl. http://www.liberation.fr/ und http://www.lepoint.fr )

Post und Telekom: Trotz Widerständen privatisiert (oder auf dem Weg dorthin)

Stärker noch als ,La Poste’ aber hatte die französische Telekom in den vergangenen zwölf Monaten öffentliche Aufmerksamkeit betreffend ihre, nun ja, wahrhaft mörderischen Arbeitsbedingungen erweckt. Im Laufe des Jahres 2009 waren aller Augen auf den ‚opérateur des télécommunications’ gerichtet, nachdem es zu mehreren Dutzend Selbstmorden unter Lohnabhängigen gekommen waren, die zum Teil offenkundig im Zusammenhang mit Arbeitsstress/arbeitsbedingten Depressionen/dem als unerträglich empfundenen Arbeitsleben standen. (Vgl. unten)

,La Poste’ und ,France Télécom’ bildeten bis 1990 noch ein einheitliches Unternehmen, das damals in öffentlicher Hand befindliche gemeinsame Unternehmen PTT (Poste, Télégraphes, Télécommunications). Die „sozialistisch“ geführte Regierung unter dem sozialliberalen Premierminister – und heutigen Berater Nicolas Sarkozys – Michel Rocard, Regierungschef von Juni 1988 bis Mai 1991, hatte dieses Einheitsunternehmen zerschlagen. „Selbstverständlich nicht“ im Vorgriff auf eine spätere Privatisierung der neu gebildeten Einzelunternehmen, wie linke Gewerkschafter damals „voreilig“ kritisierten – nein nein, nicht doch.

Im September 1997 erfolgte die Börseneinführung der französischen Telekom, unter einem anderen Sozialdemokraten als Premierminister, Lionel Jospin. (Welch selbiger noch vor den Parlamentswahlen von Ende Mai und Anfang Juni desselben Jahres versprochen hatte, es werde unter den Sozialisten keine Privatisierung von France Télécom geben. Kurz darauf setzte er dann eine Kommission dazu ein, um die Frage „ernsthaft zu prüfen“ – und drei Wochen später, Ende Juli 1997, erfuhr man daraufhin aus der ,Financial Times’ in London, dass die Weichen zugunsten einer Privatisierung gestellt seien. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit der französischen Sozialdemokratie.) Bei ,La Poste’ ging die Entwicklung etwas langsamer. 2,3 bis 2,4 Millionen Menschen stimmten bei einer inoffiziellen, durch Linksparteien und Gewerkschaften organisierten „Bürger-Abstimmung“ am 30. Oktober 2009 zu 98 Prozent gegen eine Privatisierung der französischen Post und gegen ihre Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Vgl. http://www.politis.fr/ und http://fr.wikipedia.org oder zu den Ergebnissen: http://www.bureaudevote.fr/ )

Trotz massiver Proteste – wobei freilich ein Streik innerhalb des Unternehmens, wo eher Resignation vorherrschte, im September 09 nur geringen Erfolg hatte - beschloss die konservativ-wirtschaftsliberale Regierung, ihr Statut als „öffentliches Dienstleistungsunternehmen in Staatshand“ in jenes einer Aktiengesellschaft abzuändern. Nicht etwa, um dieselbige, die bislang noch zu 100 Prozent dem Staat gehört, später dem Privatkapital zu öffnen – nein nein, nicht doch.

Der Gesetzentwurf passierte ab dem 20./21. Oktober 09 die französische Nationalversammlung und Anfang November den Senat, das „Oberhaus“ des Parlaments. Am 1. März dieses Jahres trat er in Kraft.

Justiz ermittelt gegen France Télécom

Puh, da sind wir gerade noch einmal erleichtert: „Es gibt kein Komplott bei France Télécom“ erklärte der – seit einigen Wochen (infolge eines Rücktritts des früheren Direktors, Didier Lombard) amtierende – „Präsident“ von France Télécom, Stéphane Richard, am 12. April in einem Radiointerview bei ,Europe 1’. Ufff, gerade noch einmal gerettet! Und wir hatten schon eine finstere internationale Verschwörung gewittert! Stéphane Richard fügte hinzu, France Télécom „beschränke sich nicht“ (,ne se résume pas à’) auf Selbstmorde von Lohnabhängigen. Puhh, auch da sind wir noch mal schwer erleichtert!

Aber nein, nicht doch, so war es auch wieder nicht gemeint. Denn Monsieur Richard fügte hinzu, es gebe in seinen Augen „kein Komplott innerhalb von France Télécom, um zu erreichen, dass die Leute Selbstmord begehen.“ (Vgl.: http://abonnes.lemonde.fr/ oder http://abonnes.lemonde.fr/ oder http://www.lefigaro.fr) Soll so viel bedeuten wie: Niemand kann etwas dafür, und die Hierarchie des Unternehmens trägt keinerlei Verantwortung dafür. Denn zwar ist Kritik an Verschwörungstheorien (denn solche gibt es, oft antisemitisch grundiert) grundsätzlich richtig. Aber im Neusprech von Konservativen, Wirtschaftsliberalen oder Unternehmensführungen bezeichnet der Ausdruck „Verschwörungstheorie“ heutzutage auch leicht jegliche Form von – schärferer – Kritik an Eliten, Kapitelentscheidungen, Staatsführungen.

Selbstmord„epidemie“

Es passierte mitten in der Besprechung: „Ich habe die Schnauze voll! Die Schnauze voll von Euren Dummheiten!“ rief der Mitarbeiter seinen Vorgesetzten zu - und rammte sich selbst ein Messer in die Brust. Er überlebte, mit erheblichen Verletzungen. Nach einer knappen Woche im Krankenhaus wurde er Anfang vergangener Woche entlassen.

Diese Szenen stammen nicht aus einem Samuraifilm mit Harakiri-Effekten, sondern aus der quasi-alltäglichen Realität. Yonnel Dervin heißt der 49jährige Techniker der französischen Telekom, der sich selbst am 09. September o0 im ostfranzösischen Troyes diese Stichverletzungen zufügte. Er äußerte sich im Nachhinein gegenüber der französischen Presse: Er habe seinen Akt zuvor geplant, erklärte er dort vergangene Woche, aber er bedauere ihn nicht, „auch wenn der Körper verletzt ist“. Er habe es nicht mehr ausgehalten, dass man ihm in Besprechungen offen erklärt habe, dass er - mit seinem beruflichen Können - einfach „zu nichts mehr nütze“ sei. Seine Abteilung sollte zudem aufgelöst werden, um die abhängig Beschäftigten anderswo „rentabler“ einzusetzen. Die Lohnabhängigen hatten davon im Juli erfahren, nachdem der Beschluss längst unverrückbar gefällt war und das ‚Comité d’entreprise’ (ungefähre Entsprechung zum deutschen Betriebsrat) bereits zugestimmt hatte. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/ )

Die Verzweiflungstat von Yonnel Dervin ist kein Einzelfall, vielmehr sind die Selbstmorde bei der französischen Telekom seit dem Spätsommer/Herbst 2009 eine regelrechte Staatsaffäre. Auch wenn das Unternehmen seit 2004 privatisiert ist, sah sich die Regierung gezwungen, sich einzuschalten, da das Phänomen ungekannte Ausmaße angenommen hat.

Nachdem am 14. September 09 eine leitende Angestellte von France Télécom im ostfranzösischen Metz (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com) ihrerseits Selbstmord am Arbeitsplatz zu begehen versuchte - sie nahm in der Mittagspause eine starke Überdosis Schlaftabletten ein -, empfing Arbeits- und Sozialminister Xavier Darcos am folgenden Tag den damaligen Generaldirektor des Unternehmens von 102.000 Beschäftigten. Der seinerzeitige (inzwischen abgesägte) Télécom-Chef Didier Lombard musste dem Minister versprechen, sofortige Maßnahmen einzuleiten. Sie lauteten: bessere psychologische Betreuung, eine Frühwarnfunktion für die Betriebsärzte - und eine Hotline (un numéro vert), auf welcher die Lohnabhängigen sich „aussprechen“ können. Die Unternehmensleitung erklärte öffentlich, es müsse „vordringlich darum gehen, die Ansteckung (contagion) einzudämmen“ (vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ ), als ob es sich um die Hühnergrippe/Schweinegrippe oder eine sonstige Seuche handele. Der damalige Generaldirektor Lombard bezeichnete die Selbstmordelle bei der französischen Telekom aber in einem anderen Satz auch als „Mode“erscheinung unter den Lohnabhängigen (vgl. http://www.france-info.com/ ), was ihm von Seiten von Kritiker/inne/n den Vorwurf des „Zynismus“ eintrug.

Die Gewerkschaftsverbände FO und CFTC ihrerseits forderten eine parlamentarische Untersuchungskommission zum Thema. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com ) Die linke Basisgewerkschaft SUD-PTT führte ihrerseits ein „Die-in“ vor dem Unternehmenssitz durch - unter dem Motto: „Stoppt das Massaker“. Dort wies die linksalternative Gewerkschaft – die bei der französischen Telekom die zweitstärkste Beschäftigtenorganisation darstellt – darauf hin, dass derzeit bei France Télécom „stündlich ein Arbeitsplatz gestrichen“ wird. (Vgl. Abbildung unter http://tempsreel.nouvelobs.com/ ) SUD-PTT hat auch gemeinsam mit der CGC (Gewerkschaft der höheren Angestellten) eine „Beobachtungsstelle für Arbeitsbedingungen“ gegründet.

Etwa zwei Dutzend Lohnabhängige hatten sich bis dahin, im Jahr 2008 und den ersten Jahresmonaten 2009, bei der französischen Telekom am Arbeitsplatz oder in dessen Nähe „erfolgreich“ das Leben genommen. Dies sei ein historisch völlig unbekanntes Phänomen, meint der Arbeitspsychologe Christophe Dejours (vgl. http://www.humanite.fr/), der mehrere Bücher über das – gesundheitliche, psychische, soziale - Leiden in der Arbeitswelt“ verfasst hat: Erst seit Ende der 1990er Jahre erlebe man überhaupt, dass Menschen sich unmittelbar am Arbeitsplatz umbringen - und nicht irgendwohin dafür zurückziehen. „Wenn sich jemand in einem Wald aufhängen geht“, meint Dejours dazu, „dann kann man über das Ursachenbündel diskutieren. Aber wenn er es am Arbeitsplatz tut, dann drängt sich der Zusammenhang mit dem Arbeitsleben unübersehbar auf.“

In vielen Fällen hinterließen jene, die Suizid verübten, auch unzweideutigen Nachrichten. Der Telekom-Mitarbeiter Michel Deparis, der sich im Juli 2009 in Marseille das Leben nahm, schrieb einen Abschiedsbrief, in welchem ausdrücklich stand, es sei „unnötig, anderswo als in meinem Arbeitsleben bei France Télécom nach Ursachen zu suchen“. (Vgl. http://www.cequilfautdetruire.org ) Er hatte ein glückliches Familienleben geführt, und seine berufliche Qualifikation war allgemein anerkannt. Aber er fühlte sich zunehmend in Konkurrenz zu anderen Lohnabhängigen getrieben - etwa durch die individuellen Leistungsbeurteilungen, die zunehmend in Mode gekommen waren. Von ihnen hingen Lohnbestandteile wie etwa Prämien ab; aber mitunter auch das Risiko, bei der nächsten Entlassungswelle mit dabei zu sein. Und sie „vergifteten“ das Arbeitsleben, weil die meisten Beschäftigten sich vor einer Leistungsbeurteilungen in ein gutes, die Kollegen aber in ein negatives Licht zu rücken versuchen.

Die französische Telekom hatte, bevor 1996 ihre Privatisierung eingeleitet – und im Juli 1997 gleich zu Beginn der „Linksregierung“ unter dem Sozialdemokraten Lionel Jospin beschlossen - wurde, noch 160.000 Mitarbeiter/innen. Heute zählt sie ihrer noch 102.000, also ein Drittel weniger, obwohl zusätzlich zu den Festnetz-Anschlüssen inzwischen auch noch Handys und Internetzugänge betreut werden müssen. (Vgl. http://www.cequilfautdetruire.org ) Ohne Berücksichtigung der Filialen lauten die Zahlen : vor zwölf Jahren waren es noch 145.000 Beschäftigte im „Stammhaus“, heute nur noch 80.000 (Vgl. http://npa06ouest.over-blog.net/ )

Die technischen Funktionen wurden zugleich wurden die technischen Funktionen abgebaut und Werbeabteilungen aufgewertet - 60.000 der abhängig Beschäftigten mussten bisher, oft unfreiwillig, den Beruf wechseln. Entsprechend wuchs der Druck auf allen Ebenen.

Ja, die Vergangenheit war schlimm!“ – Aber ist/wird die Gegenwart wirklich besser?

32 bis 35 mit dem Arbeitsleben in Zusammenhang stehende Selbstmorde von Lohnabhängigen, je nach Angaben, fanden in den Jahren 2008 bis 2009 bei France Télécom statt. Darüber sind sich Direktion und Gewerkschaften im Prinzip einig geworden – was die Bilanz für die Vergangenheit betrifft. Doch seit Jahresanfang 2010 und bis Anfang April d.J. sind laut der „Stress-Beobachtungsstelle“ für Unternehmen bereits elf weitere Fälle neu hinzugekommen (vgl. http://www.observatoiredustressft.org ), inzwischen ist von zwölf die Rede.

Die ansonsten eher unpolitische Boulevardzeitung ,France Soir’ – ein rechtsbürgerliches Käseblatt, das vor kurzem durch einen russischen Oligarchen aus der Umgebung Wladimir Putins aufgekauft worden ist, um Sympathiewerbung in Frankreich zu betreiben – titelte am 14. April 10 dazu treffend: „Sterben auf der Arbeit! Ein Suizid alle neun Tage bei France Télécom.“ Im Blattinneren interviewt die Zeitung dazu die beiden AutorInnen Marin Ledun und Brigitte Font Le Bret, von denen die Zahlenangabe stammt (die beiden kommen auf insgesamt „46 Selbstmorde seit 2008“) und deren Buchtitel ,Pendant qu’ils comptent les morts’ – ‚Und während sie die Toten zählen“ – am 15. April erschienen ist. Ein Auszug aus dem auch sonst Aufmerksamkeit verdienenden Buch, den ,France Soir’ dazu als Vorabdruck veröffentlicht, trägt den Titel: „Alles, was vorfiel, zeugt von einer unerhörten/vorher ungekannten Gewalt“ (,Tout ce qui s’est passé est d’une violence inouïe’).

Arbeitsmediziner/innen werfen den Büttel hin

Beobachter/innen warnten seit längerem vor den u.a. psychisch verheerenden Auswirkungen der Arbeitsbedingungen, die bei ,France Télécom’ Einzug hielten. Ende November 2009 trat eine bei der französischen Telekom als Arbeitsmedizinerin beschäftigte Ärztin von ihrer – mutmalich gut dotierten – Stelle in Grenoble zurück. In ihrem Kündigungsschreiben (als Faksimile abgedruckt in der besseren Boulevardzeitung ,Le Parisien’ vom 28. 11. 2009) begründet sie ihren Schritt damit, sie könne „nicht länger ihre Arbeit verrichten“ und nichts gegen „das Leiden der abhängig Beschäftigten“ ausrichten. Schon zuvor hatte es allerdings Rücktrittsfälle von Arbeitsmediziner/inne/n bei France Télécom gegeben. Im Juni 2009 hatten laut Zahlen der Gewerkschaft SUD-PTT „mindestens acht von insgesamt 70 Arbeitsmediziner/inne/n“ des Unternehmens bereits ihren Dienst quittiert. (Vgl. dazu http://www.humanite.fr )

Führungswechsel -> Kosmetik

Am o5. Oktober 2009 wurde bekannt, dass die damalige „Nummer 2“ bei der französischen Telekom, Louis-Pierre Wenes, infolge der Selbstmordwellen-Affäre seinen Hut nehmen musste. Ihm wurde die Verantwortung für das operative Frankreichgeschäft entzogen. Neuer Vizedirektor als sein Nachfolger wurde damals Stéphane Richard. Viele Beobachter bezeichneten diesen Schritt jedoch als Zelebrieren eines „Bauernopfers“, auch wenn die Gewerkschaften bis dahin Wenes auch direkt – als Leiter des Inlandsgeschäft – für seine Verantwortung kritisiert hatten. Nach dem 24. Selbstmord in Folge hatten Gewerkschaften und Linksparteien den Rücktritt des obersten Direktors, Lombard, zusammen mit jenem von Louis-Pierre Wenes gefordert. (Vgl. http://www.lexpansion.com) Doch nur die „Nummer Zwei“ wurde damals geopfert, um die „Nummer Eins“ vorläufig zu schützen.

Wenige Tage später, am o9. Oktober o9, erfuhr man daraufhin freilich, auch Louis-Pierre Wenes sei „nicht weit weg“ gegangen: Er amtiere nämlich noch immer als persönlicher Berater des (damaligen) obersten Direktors, Didier Lombard. (Vgl. http://www.lepost.fr )

Aber im Februar 2010 wurde dann auch der Abgang des bislang amtierenden 67jährigen „Präsidenten“ Didier Lombard bekannt. Ersetzt wurde er zum 1. März dieses Jahres durch Stéphane Richard, bis dato (und seit vergangenem Oktober) sein Vize. Doch in Wirklichkeit waren die Weichen für den Wechsel an der Spitze bereits seit längerem gestellt gewesen, nämlich seit Mai 2009: Damals war ausgemacht worden, dass Richard im Jahr 2011 Didier Lombard ablösen solle. Daraufhin war Stéphane Richard, der zuvor als Kabinettsdirektor (Ministerialdirektor) im Wirtschafts- und Finanzministerium von Sarkozys Ministerin Christine Lagarde amtiert hatte, zum 1. September 09 in den Vorstand von France Télécom gewechselt. Nun ist lediglich dieser Stabwechsel, im Zusammenhang mit der Affäre um den (massenhaften) Suizid von Mitarbeiter/inne/n, um einige Monate vorgezogen worden. Lombard bleibt als Vorstandsberater für „strategische und technologische Orientierungen“ zuständig. (Vgl. http://www.nzz.ch und zuvor http://www.lexpansion.com)

Justiz ermittelt

Auch die französische Justiz ermittelt nun gegen das Unternehmen. Am 8. April dieses Jahres wurde durch eine Bericht des Radiosenders ,France Info’ (vgl. http://www.france-info.com ) publik, dass die Staatsanwaltschaft Paris ein Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen in 35 Suizidfällen eingeleitet habe. Nun wird ein Untersuchungsrichter dafür eingesetzt werden. Die Tatvorwürfe lauten auf Mobbing (französisch ,harcèlement moral’, ein Straftbestand seit einem Gesetz vom 17. Januar 2002) und fahrlässige Tötung, ,mise en danger de la vie d’autrui’. (FUSSNOTE1)

Zuvor hatte die linke Basisgewerkschaft SUD-PTT jene Strafanzeige erstattet. Der durch die Justiz angeordneten Untersuchung liegt ferner ein Bericht einer Arbeitsinspektorin – die französische „Arbeitsinspektion“ (inspection du travail) ist entfernt mit den deutschen Gewerbeaufsichtsämtern zu vergleichen und wacht über die Einhaltung geltender Schutzgesetze für Lohnabhängige – zugrunde. Diese Untergebene des französischen Arbeits- und Sozialministeriums kommt darin zu der Schlussfolgerung, die Leitung des Unternehmens habe es sich zum Ziel gesetzt, zu schaffen, mindestens 22.000 abhängig Beschäftigten (von derzeit insgesamt 102.000 bei France Télécom) zum Abgang zu bewegen. Der Bericht – in voller Länge an dieser Stelle veröffentlicht: http://eco.rue89.com/ - war am o4. Februar dieses Jahres der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Vor allem die noch unter dem früheren Statut (von vor 1997) als Staatsbedienstete eingestellten Beschäftigten – die noch zwei Drittel des Personals ausmachen – sowie die älteren Angehörigen der Belegschaft ab einem Alter von circa 50 sollen hinausgedrängt werden.

Die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ schreibt dazu in einem Leitartikel vom o9. April 2010, France Télécom sei „zum Symbol für Stress und Leiden im Arbeitsleben geworden. Ja sogar, darüber hinaus, für das tiefe Unbehagen (profond malaise), das durch destabilisierende und krank machende Arbeitsorganisation sowie Managementmethoden hervorgerufen wurde.“ Ein Abkommen der so genannten „Sozialpartner“ – Arbeitgebervereinigungen und Gewerkschaftsdachverbände – vom 26. Februar dieses Jahres wird mit den Worten charakterisieren: „Es enthält nur Verhaltensempfehlungen und bleibt also von begrenzter juristischer Tragweite“; dennoch entlaste es „nicht völlig, wie es (der Haupt-Arbeitgeberverband) Medef wünschte, die Managementmethoden und Organisationsformen der Unternehmen von ihrer Verantwortung in Mobbing-Situationen“. Um zu dem Schluss zu kommen: „Nach zwei Jahrzehnten schrankenloser Jagd nach erhöhter Arbeitsproduktivität und wachsendem, ja blindem Druck auf die abhängig Beschäftigten muss sie (die Entscheidung der Pariser Staatsanwaltschaft) zu einer tiefgreifenden und ehrlichen Infragestellung der Abläufe in dem Unternehmen führen.“ (Vgl. den Leitartikel: http://abonnes.lemonde.fr/und den begleitenden Artikel > http://abonnes.lemonde. )

Die Misere bleibt

Am o2. April 2010, einige Tage zuvor, hatte dieselbe Zeitung auf einer vollen Seite einen ausführlichen Bericht über das Unternehmen France Télécom – einige Wochen nach dem Führungswechsel an dessen Spitze – veröffentlicht. Dessen Tenor lautete: Noch immer herrscht depressive Stimmung unter den Lohnabhängigen vor (,Blues toujours’, vgl. http://abonnes.lemonde.)

Es geht dabei im Kern um die Frage der Nachhaltigkeit von Veränderungen, die infolge der Selbstmordserie - und des dadurch ausgelösten Skandals – seitens der Konzernspitze angekündigt worden waren. Bspw. wurde das Programm ‚Time to move’, das eine Zwangsmobilität – d.h. erzwungene Versetzungen an irgend einen Ort in Frankreich – vorsah, für die nächsten Jahre ausgesetzt, und die „Personalführung“ soll gründlich überarbeitet werden. (Allerdings drohen auch und gerade den verbliebenen Staatsbediensteten beim privatisierten Ex-Staatsunternehmen France Télécom in naher Zukunft möglicherweise ohnehin neue Mobilitätszwänge. Denn in Bälde könnte ein Gesetzentwurf in Kraft treten, der laut Plänen der Regierung eine erzwungene Mobilität für Staatsbedienstete vorsieht: Wer drei „Angebote“ für neue Arbeitsorte hintereinander ablehnt, kann demnach zwar seinen oder ihren juristischen Status als Staatsangestellte/r, aber stellenlos und folglich ohne Bezahlung bleiben. Noch ist es nicht so weit, aber es könnte bald kommen – der Plan dazu ist in der Röhre...)

Ein paar Auszüge aus diesem höchst interessanten, doch niederschmetternden Dokument zur Kostprobe. Aus dem oben genannten Artikel von ,Le Monde’:

(...) Aber es ist nichts zu machen: Auch weiterhin bringen sich Lohnabhängige um, und man verzeichnet fast einen Selbstmordfall pro Woche. Und in Annecy, Nancy oder Paris überschneiden sich die Augenzeugenberichte (aus dem Unternehmen): Die Moral bleibt tief unten. Im besten Falle ist man ungeduldig (Anm.: bezüglich erwarteter Veränderungen), im schlimmeren sieht man schwarz.

Sicherlich, einige Dingen haben sich verändert. (...) Zwangsversetzungen wurden aufgegeben, wie in Donges (an der Atlantikküste). (...) Für die ,schwierigen Anrufe’ – zornige Kunden – wurde eine Fortbildung gegeben. ,Dies gab es vorher nicht, das war nützlich’ sag dazu Sonia Aoufa, eine Arbeitskollegin (der zuvor zitierten SUD-Gewerkschafterin) Danielle Rochet. (...)

Für die Arbeitsmedizinerin Monique Fraysse ,hat der Druck nachgelassen. (...) In Grenoble haben die Manager aufgehört, in den Verkaufsstellen/Geschäften von Orange/Télécom jeden Tag die individuellen Ergebnisse der Verkäufer auszuhängen.’ Und der CGT-Vertrauensmann in Paris, Jean-Marc Lassoutanie, versichert: ,Wenn Lohnabhängige eine Krise bekommen, versuchen unsere Vorgesetzten eine Lösung zu finden. Vorher hätten sie das nie akzeptiert. Jetzt haben sie Angst, dass es zu Selbstmorden kommt und sie dafür verantwortlich gemacht werden.’

Vor allem ,wurde es nunmehr möglich, Dinge offen auszusprechen’, sagt (die Ärztin) Fraysse. ,Man spricht wieder über die Arbeit. Die abhängig Beschäftigten können sagen, dass sie es satt haben, Kunden schlecht zu behandeln oder ihnen manchmal (unnütze) Dinge aufzuschwätzen, nur um ihre Soll-Verkaufsziffern erfüllen zu können.’ Das Problem ist, dass dieses Ermöglichen des offenen Aussprechens eine enorme Hoffnung erweckt hat. Und, im Anschluss daran, eine fette Enttäuschung bei denen, die sich wirklich eine radikale Veränderung erhofften und eine solche nicht verspürten. ,Wir wurden angehört, aber wir wissen nicht, ob man unsere Botschaft gehört hat’, fasst (die SUD-Gewerkschafterin) Danielle Rochet zusammen.

(...)

Es kam (im Call-Center von Annecy) auch zur Einrichtung von Mittagessen im Team, um wieder irgend eine Bindung zwischen hyper-individualisierten Beschäftigten zu schaffen. Bei der Logisitik der Handy-Abteilung von Orange/Télécom in Bagneux (einer Vorstadt südlich von Paris), wo die CGT-Vertrauensfrau Margaret Corvington-Guerlais arbeitet, ,haben wir wieder begonnen, Geburtstage von Kollegen zu feiern. Einmal pro Monat. Aber solche Dinge kann man nicht vorschreiben. Das müsste von selbst kommen.’

Der gleiche Unglauben (Anm.: über reale positive Veränderungen) herrscht bei Jean-Claude, der seinen Familiennamen nicht nennen möchte, in einem Verkaufsgeschäft von Orange/Télécom in Nancy: ,Eines Morgens brachte man uns Croissants und Orangensaft. Aber wir (die Kollegen) hatten einander nichts zu sagen. Das ist normal, denn wir sprechen seit Jahren nicht mehr miteinander.’ Eine junge Frau aus dem Zentrum für Rechnungs- und Mahnwesen in Villers-lès-Nancy (bei Nancy), wo alle Rechnungen des Konzerns Télécom/Orange erstellt werden: ,Ob sich etwas verändert hat? Nicht viel. Ah, doch! Jetzt sagen wir (einander) Guten Tag. Vorher wäre das als Zeitverschwendung betrachtet worden.’ - Der Ort wird auch als ,Krankenhaus’ bezeichnet. Denn hier landen alle Beschäftigten, die zu kaputt sind, um noch anderswo eingesetzt werden, und etwa in einem Call-Center der Telekom nicht mehr durchhalten würden.

In Wirklichkeit, meint Philippe Dillier von SUD, der bei der Abteilung Dienstleistungen für Unternehmen Ostfrankreich arbeitet, ,sind wir höchstens zu einem früher bestehenden oder zum gesetzlichen Zustand zurückgekehrt. Beispielsweise werden erstmals Instanzen wie (die französische Entsprechung zum Betriebsrat) respektiert. Oder es wird darauf geachtet, dass Ehepartner/innen – wenn beide Eheleute im Unternehmen arbeitet – nicht allzu weit auseinander versetzt werden. Früher gab es dieses Prinzip, und es funktionierte ziemlich gut. Aber mit der Privatisierung in den neunziger Jahren war es verschwunden.’

Manche beklagen das Fortdauern alter Praktiken. ,Wir funktionieren nach wie vor mit Challanges (Wettbewerben unter Arbeitskollegen) im Call-Center. Und zwar für lächerliche Summen, 150 Euro, die man sich zu zwölft teilen soll’, bedauert Danille Rochet. Manchmal findet sie sogar, es sei schlimmer als zuvor: ,Die Direktion hat nun kollektive (Anm.: statt, wie vorher, individuelle) Ziele festgeschrieben, die jedoch unerreichbar sind. Da manche Verkäufer nunmehr bis zu 40 Prozent ihres variablen Entgelts (- Anm.: das zuvor an der Erreichung individueller Verkaufsziele hing -) verloren haben, werden nun denjenigen, die Schwierigkeiten beim Verkauf haben, Schuldgefühle gegenüber ihren Kollegen eingetrichert.’

(...) Undsoweiter unsofort...“

FUSSNOTE

1 Auch auf zivilrechtlicher Ebene, also eventuell Schadensersatzansprüche von Hinterbliebenen betreffend, muss das Unternehmen eventuell gerichtliche Konsequenzen befürchen. Denn seit dem 17. Dezember 2009 gibt es nun erstmals einen Präzendenzfall dafür. An jenem Tag fiel das Urteil in einem Prozess, der vier Wochen zuvor – im November 2009 – vor dem Sozialgericht in Nanterre bei Paris eröffnet worden war. Dabei wurde der Automobilhersteller (erstinstanzlich) wegen des Selbstmords eines Beschäftigten zur Schadensersatzpflicht verurteilt.

Die aufgeworfene Frage lautete, ob der Arbeitgeber Schuld oder Mitschuld an diesem Suizid trage; und falls ja, ob ein „unentschuldbarer Fehler des Arbeitgebers“ (une faute inexcusable de l’employeur) vorliege. Denn bei Bejahung dieser Fragen wird der Suizid als Arbeitsunfall eingestuft, für dessen Konsequenzen – gegenüber den Hinterbliebenen des Verstorbenen – jedoch in diesem Falle nicht die Sozialversicherungskassen einzutreten haben, sondern bei Vorliegen eines „unverzeihlichen Arbeitgeberfehlers“ das Unternehmen selbst. Das Sozialgericht in Nanterre bejahte alle beide Fragen, und dadurch auch das Vorliegen eines „unentschuldbaren Fehlers“ und die finanzielle Haftung des Unternehmens.

Der Todesfall, um den es ging, liegt um drei Jahre zurück. Es betraf einen Ingenieur im Testzentrum von Guyancourt (in der Nähe von Versailles), dessen Witwe infolge seines Selbstmords Briefe ihres Ehemanns vorlegen konnte, in denen er eindeutig durch seine Arbeit verursachte Depressionen, Schlafstörungen und Alpträume beschrieb. Es konnten Arbeitshetze, Überlastung und autoritäre Personalführung zur „Auspressung“ des (in dem Falle hochqualifizierten) Lohnabhängigen nachgewiesen werden.

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.