Christian Riechers
Erinnerung an linken Intellektuellen

 von Peter Nowak

04/10

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Selbst manche Linke entdecken plötzlich den Charme von Extremismus- und Totalitarismustheorien, reden von Gemeinsamkeiten von Faschismus und Stalinismus, die angeblich die Aversion gegen die bürgerliche Gesellschaft einte. Dabei wird ignoriert, dass es häufig Dissidenten der Arbeiterbewegung und der Linken waren, die schon vor vielen Jahren mit analytischer Schärfe den Stalinismus und andere linke Irrwege kritisierten, ohne auf die rostigen Requisiten aus dem Fundus der Totalitarismustheorie zurück zu greifen. Der Münsteraner Unrast-Verlag will mit seiner Reihe „Dissidenten der Arbeiterbewegung“ einige der auch heute weitgehend vergessenen Theoretiker und Praktiker einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen. Sie waren oft nicht nur in den nominalsozialitischen Staaten verfemt sondern standen auch im Westen unter Extremismusverdacht. Gleich mit dem ersten Band hat der Verlag einen Glücksgriff getan. Der Kölner Publizist Felix Klopotek hat den Nachlass des frühverstorbenen Hannoveraner Soziologen Christian Riechers herausgegeben. Bis zu seiner kurzen schweren Krankheit lehrte und forschte Riechers an der Universität Hannover. Er engagierte sich dort besonders in der Erforschung der lokalen Arbeiterbewegung. Doch daneben beschäftigte er sich seit Mitte der 60er Jahre mit den aus der nominalsozialistischen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen und verfemten linken Kommunisten Italiens, die in den ersten Jahren der Kommunistischen Internationale eine zentrale Rolle spielten. Zu nennen ist dabei in erster Linie der erste Vorsitzende der KPI Amadeo Bordiga. Als Riechers in den 60er Jahren seine Forschungen über die Historie der italienischen Kommunisten aufnahm, war Bordiga weitgehend unbekannt. Riechers wollte in Italien eigentlich über Antonio Gramsci forschen. Der war damals in den großen Teilen der Linken, die kritisch zum Nominalsozialismus standen, das große historische Vorbild. Hatte er doch schon früh Fehlentwicklungen in der Sowjetunion kritisiert. Seine Hegemonietheorie schien zudem für die akademische Linke der 60er und 70er Jahre der Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft. Dass Gramsci an den Folgen der faschistischen Haft verstorben ist, erhöhte sein Ansehen. Doch Riechers, der auf den Spuren von Gramsci nach Italien gegangen war, verweigerte sich dem Hype um Gramsci. Er traf in Italien noch mit Angehörigen der ersten Generation der italienischen Kommunisten zusammen, unter Anderem mit Amadeo Bordiga. In den folgenden Jahren sollte ihn die Auseinandersetzungen der frühen italienischen kommunistischen Bewegung nicht mehr loslassen, wie sich im Nachlass-Band zeigt. Er beginnt mit seiner programmatischen Schrift „Arbeiterklasse und Faschismus“ und endet mit dem nicht mehr vollendeten nur handschriftlich erhaltenden Aufsatz „Amadeo Bordiga: Unperson, Abweichler, Altmarxist“. Darin kritisiert Riechers auch eine bestimmte Art der auch in der Linken populären Renegatenliteratur. So schrieb er über Bordiga: „Als historischer Materialist, … konnte er, der 1926 den gefürchteten Stalin aus der Reserve lockte und zu Eingeständnissen eigener menschlicher Schwächen zwang, auch „keinen Gott der keiner war“, abschwören.“ So lautete der Titel einer bekannten Abrechnungsschrift ehemaliger Kommunisten, die anders als Bordiga tatsächlich an Stalin geglaubt haben.

Riechers Texten merkt man die Sympathie für das politische Werk von Bordiga an und trotzdem bleibt er auch ihm gegenüber kritisch. Vor allem zu Bordigas politischen Epigonen, die sich in untereinander bekämpfende Fraktionen gespalten haben, bleibt er auf Distanz. Manche von Bordigas politischen Nachlassverwaltern äußerten offen Aversionen gegen den kritischen Wissenschaftler aus Deutschland.

In zahlreichen in dem Buch veröffentlichen Aufsätzen, Vorträgen und Buchrezensionen kritisiert Riechers Antonio Gramsci hart. Er hält ihn für einen maßlos überschätzten Theoretiker. Besonders in dem Rundfunkbeitrag, „Gramsci – eine nicht notwendige Legende“ warf er ihm auch vor, die italienische KP Mitte der 20er Jahre auf die Linie der Komintern gebracht zu haben. Trotzdem bezeugt Riechers vor dem Lebenswerk Gramscis Respekt. „Die größte Tragik Gramscis lag darin, dass er in den beiden Lebensabschnitten, in denen sich sein Denken entwickelte und dann seinen Abschluss fand, er dies völlig auf sich allein gestellt tat.“

Hoffnung auf die Subalternen

Neben der Riechers Leben begleitenden Auseinandersetzung mit der italienischen Linken, finde sich in dem Buch ein Aufsatz über eine Begegnung mit den Linkssozialisten Willy Huhn, einer der Dissidenten der deutschen Arbeiterbewegung, der von den Nominalsozialisten und den Sozialdemokraten ignoriert worden ist. Äußerst aufschlussreich sind auch die meist kurzen persönlichen Notizen, mit denen Riechers auf aktuelle Ereignisse im Wissenschaftsbetrieb eingeht. Dort setzt er sich auch ironisch mit den linken Kollegen auseinander, die sich allmählich in verbeamtete Marxegeten verwandeln. „Sie starren gebannt auf die Gazetten, die sie anspringern und anfazen und sehen voraus, dass ihre Öffentlichkeit begrenzt, ja eliminiert werden soll, wie diese Gazetten das fordern“. Kurz vorher macht sich Riechers in einem kurzen Text über die Sprache der sozialwissenschaftlichen Intelligenz“ lustig. „Ohne Begriffe keine Eingriffe, ohne Begreifen kein Eingreifen. Aber dann bitte Begriffene und keinen Abgegriffenen. Und vor allem nicht beim Verwenden der Abgegriffenen, ungriffig gewordenen Begriffe noch die miese Haltung des akademischen Näselns“. In den Notizen häufen sich die Klagen über die zunehmende Marginalisierung marxistischer Lehre und Forschung, die ab Ende der 70er Jahre von postmoderner Ideologie verdrängt wurden. Gelegentlich äußert Riechers auch seinen Widerwillen gegen eine im Zuge der Terrorismushysterie der 70er Jahre Verteufelung von linken Vorstellungen. Ein abgedruckter Beitrag Riechers auf einem Kolloquium der Uni Hannover zum ersten Golfkrieg 1991 fällt auf analytischem Niveau teilweise hinter seine Forschungsarbeiten zurück. So wird dort die deutsche Bevölkerung im zweiten Weltkrieg zu Opfern erklärt. Ähnliche Schwächen finden sich in einer Würdigung des Hannoveraner Sozialdemokraten Karl Nasemann, zu dessen 80 Geburtstag, mit dem Riechers im Rahmen des Projekts „Arbeiterbewegung in Hannover“ eng zusammenarbeitete. Er kann Nasemanns Unwillen gegen die „Nazisuche auf unterer Ebene“ gut verstehen, die ihn im Herbst 1945 sogar zur Kündigung in einem Hannoveraner Großbetrieb bewegte. Ausführlich beschreibt Riechers, wie durch die Arbeiterforschung der Kontakt zwischen Nasemann und einem zwangsverpflichteten Franzosen hergestellt wurde. Beide hatten sich auf der Hanomag im zweiten Weltkrieg angefreundet. Vor einem Treffen stirbt der alte Mann in Frankreich. Riechers findet hier sehr pathetische Worte: “Unter schwierigen Bedingungen haben sich zwei wechselseitig als Internationalisten zu erkennen gegeben und kurz vor einem möglichen Wiedersehen nach Jahrzehnten waren die Schranken der endlichen Lebenszeit auf einer Seite endgültig heruntergelassen.“ Dabei bleibt die Frage unbeantwortet, warum Nasemann, der Namen und Wohnort des Mannes kannte, selber nie den Kontakt gesucht hatte. Ist es der Respekt, vor dem alten Arbeiter, die Riechers solche Fragen verboten haben. Oder ist es seine Überzeugung, in den Widerstandsgeist und die Solidarität der Subalternen? Diese Fragen bleiben nach der Lektüre des Buches offen.

Distanz zu aktuellen Themen

Insgesamt fällt auf, wie sparsam Riechers die aktuellen politischen Themen seiner Zeit kommentierte. Die, den linken Wissenschaftsbetrieb in jenen Jahren stark tangierende Praxis der Berufsverbote bleibt ebenso ausgeblendet wie die die Entlassung des linken Soziologen Peter Brückner, der sich seine Meinung über die RAF nicht vom Staat vorschreiben lassen wollte. Diese Leerstelle ist besonders verwunderlich, weil Brückner ebenfalls in Hannover lehrte und dort eine zeitweilig starke Solidaritätsbewegung existierte. Ob es Desinteresse oder die Vorsicht eines linken Intellektuellen war, die Riechers hier schweigen ließ? Das Buch regt zu vielen Fragen an. Mit der Herausgabe dieses Bandes hat sich Klopotek und der Unrast-Verlag in doppelter Hinsicht Verdienste erworben. Sie haben nicht nur einen linken Intellektuellen wieder entdeckt, der obwohl noch nicht zwei Jahrzehnte tot, weitgehend vergessen war. Mit den Texten wird ein Fundus linker Theorie präsentiert, an die wir auch heute noch kritisch anknüpfen können.
 

 

Christian Riechers
Die Niederlage in der Niederlage
Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus

Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek

ISBN: 978-3-89771-453-3
Ausstattung: br., 576 Seiten,
Preis: 28.00 Euro

UNRAST-Verlag