Lehrstücke
Analyse des sozialistischen und kapitalistischen China

 von Vinzenz Bosse

04/10

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„Ist das moderne China schon kapitalistisch? Oder – entgegen dem ersten Anschein – doch noch sozialistisch? Ist es heute vielleicht sogar der brutalste kapitalistische Staat? Oder doch so etwas wie eine alternative Kraft, die das internationale Kräfteverhältnis hin zum Guten beeinflusst? Ist ein demokratisches China denkbar? Wird dann mehr Rücksicht auf das Volk genommen? Oder kann und muss man auf einen Aufruhr der chinesischen Arbeiter hoffen?“ (370) Fragen dieser Art bewegen die Linken, wenn sie sich mit China beschäftigen. Gegen die darauf folgenden Antworten, die sich mit gewisser Notwendigkeit auf einem Feld subjektiver Einschätzungen tummeln, setzt die Autorin des gerade bei VSA erschienenen Buchs „China. Ein Lehrstück.“ eine Analyse, die es in sich hat.

Renate Dillmann liefert in ihrem bereits Buch, das im Herbst erschienen und nun schon in die 2. Auflage gegangenen ist, eine umfassende marxistische Erklärung von dem, was heute ökonomisch und politisch in der Volksrepublik auf der Tagesordnung steht. Sie analysiert die Subsumtion einer ganzen, vormals realsozialistischen Gesellschaft unter den Imperativ des Geldverdienens und die dazu gehörende Scheidung der egalitären maoistischen Gesellschaft in neue soziale Klassen (Bauern, Lohnarbeiter und neue Kapitalistenklasse). Sie untersucht den ökonomischen Sonderfall, der – weltpolitisch einmalig! – aus der Zulassung westlichen Kapitaltransfers ein Aufstiegsmittel der chinesischen Nation hat werden lassen. Sie widmet sich den gesellschaftlichen Widersprüchen, die aus Deng Xiaopings Devise „Bereichert euch!“ erwachsen sind und die 1989, mit dem staatlichen Zuschlagen am Tiananmen-Platz, zugunsten der neuen kapitalistischen Staatsräson „bereinigt“ wurden. Und sie untersucht die Konsequenzen, die das neue ökonomische Programm für die Kommunistische Partei, die politische Willensbildung und das Bewusstsein des chinesischen Volks hat: „Die Partei ändert sich und ihren sozialistischen Staat – der neuen Ökonomie zuliebe“ (290). Die Analyse des modernen China wird komplettiert durch ein Kapitel zur Außenpolitik und eine kurze Auseinandersetzung mit der linken Literatur.

Diese, mit viel Material angereicherte (dem Buch liegt eine CD mit Quellen, Grafiken und Zahlenmaterial bei) und trotzdem gut lesbare Abhandlung der modernen Volksrepublik ist aber nur die eine Hälfte des Buchs. In einem ersten, fast genauso ausführlichen Teil befasst sich Dillmann mit Maos sozialistischer Volksrepublik. Ein kurzer Rückblick auf die imperialistische Vorgeschichte des Landes leitet die Vorstellung der Kommunistischen Partei und ihres Programms ein; es folgen Kapitel über die Durchsetzung Maos gegen die Guomindang-Partei (mit einer Untersuchung der unrühmlichen Rolle, die die Sowjetunion und die Komintern dabei gespielt haben), über die neudemokratische Etappe und ihre Widersprüche bis zum Aufbau der sozialistischen Planwirtschaft. Deren Anliegen – staatlich geplante Gebrauchswert- und Wertproduktion, die Anwendung des „Wertgesetzes“ in einer Wirtschaft, die die Produktivkräfte entfaltet und Arbeitern und Bauern einen gerechten Anteil am produzierten Reichtum einbringt – werden vorgestellt und als halbherzige Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise ausführlich kritisiert. Am historischen Material (Verhältnis von Schwerindustrie und Landwirtschaft, Maos Massenkampagnen) werden die daraus resultierenden Widersprüche und Schlussfolgerungen der chinesischen KP erörtert; ein Kapitel zur Außenpolitik macht den Leser mit dem Korea-Krieg und damit dem Beginn des Kalten Kriegs bekannt und analysiert „Freundschaft und Bruch mit der Sowjetunion“.

Trotz seiner erstaunlichen Tiefe und sachlichen Breite von Themen besticht das Buch durch seine einfache und anschauliche Darstellung, die das Lesen zum Vergnügen macht. Der Mix von historischer Darstellung, begrifflicher Schärfe und Kritik liefert eine überzeugende Zusammenschau dieses „sozialistischen Gegenentwurfs“ und bringt Aufklärung nicht nur für diejenigen, die damals Anhänger des maoistischen China waren und nie so richtig durchgeblickt haben durch die zahllosen Wendungen und Streitfragen „ihrer Partei“, sondern auch für die später Geborenen, denen diese Zeit nur noch aus der in den Massenmedien üblichen Perspektive bekannt ist, einer Mischung aus Schaudern und Faszination gegenüber einer irrationalen Massenbewegung und ihrem „hitler-gleichen“ Führer.

In einem für ihre Argumentation zentralen Exkurs über „Kommunismus und Nation“ setzt sich die Autorin zudem mit einem prinzipiellen Problem auseinander, das die Geschichte der Arbeiterbewegung und gerade auch die antiimperialistischen Emanzipationsprojekte von ihren ersten Tagen an begleitet hat: der nationalen Frage. In der ungenügenden Kritik von Staat und Nation macht sie entscheidende Schwachstellen der chinesischen KP dingfest, die letztlich zur „historischen Wende“ von 1978 geführt haben. „Dass sie mit ihrem Nationalkommunismus in dieser realen Konkurrenz nichts auszurichten vermochten und all ihre sozialen Errungenschaften dafür wenig hergegeben haben, hat ihnen dann so zu denken gegeben, dass sie nach nicht einmal dreißig Jahren lieber ihren Kommunismus für ihren nationalen Erfolg weggeworfen haben als umgekehrt ihrer sozialistischen Volksfürsorge zuliebe das Programm einer weltweit erfolgreichen chinesischen Nation sein zu lassen.“ (46) Die an Hand des maoistischen China vorgelegte Kritik von halbherzigem Antikapitalismus, Staatsidealismus und nationalem Ehrgeiz kann tatsächlich als exemplarisch für eine ganze Reihe anderer sozialistischer Projekte gelten – entsprechend breit dürfte die Auseinandersetzung mit diesem Buch ausfallen!

 

Renate Dillmann
China
Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht.

2009, VSA-Verlag, 22,80 €

2010, 162 Seiten, 16,90 Euro
ISBN 978-3-89144-424-5

Diesem Buch liegt eine CD-Rom bei, die ergänzende Zitate, Dokumente und Tabellen enthält.