Gabriel Kuhn (* 1972 in
Innsbruck) ist Autor und Übersetzer mehrerer Bücher u.a. über
den „Neuen Anarchismus in den USA“ oder „Zur US-amerikanischen
Linken, White Supremacy und Black Autonomy“ im Unrast-Verlag.
Stefan Paulus sprach mit ihm über sein Einreiseverbot in die
USA, Black Autonomy und Postanarchismus.
Stefan Paulus: Hallo Gabriel, ich hatte gehofft Dich hier in
San Francisco auf der anarchistischen Buchmesse zu treffen und
Dich auf Deiner Lesetour zu Deinem neuen Buch „Sober Living for
the Revolution: Hardcore Punk, Straight Edge, and Radical
Politics“ zu besuchen. Doch leider ist Deine Tour gecancelt bzw.
wurde Dir die Einreise in die USA verweigert. Was ist passiert?
Gabriel Kuhn: Im Prinzip ist das ganz einfach: Mir wurde die
Reisegenehmigung über das im letzten Jahr eingeführte Electronic
System for Travel Authorization (ESTA) verweigert. Das bedeutet,
dass mein Name auf der so genannten No-Fly List aufscheint, was
es mir verunmöglicht, auch nur ein Flugzeug Richtung USA zu
besteigen. So war ich also gezwungen, die Lesetour abzusagen.
Als Möglichkeit für die Zukunft bleibt mir, mich über eine
US-Botschaft zu bemühen, von dieser Liste genommen zu werden,
doch das scheint in diesem Fall ziemlich hoffnungslos. Dies
deshalb, da ich davon ausgehen muss, im Jahr 2005 von einem
FBI-Agenten aus politischen Gründen auf die Liste gesetzt worden
zu sein. Würde es sich um so etwas wie eine Verletzung der
Immigrationsbestimmungen handeln (also hätte ich zum Beispiel
irgendwann ein Visum übertreten), ließe sich das eventuell
regeln, aber nicht in politischen Fällen. Nelson Mandela blieb
noch als südafrikanischer Präsident jahrelang auf der Liste
aufgrund seiner ANC-Mitgliedschaft.
Zu dem unglücklichen Zusammentreffen mit dem FBI-Agenten kam es
bei meiner letzten Einreise, als Stempel arabischer Länder, mein
Adressbuch und meine Reiselektüre Verdacht erregten und das FBI
gerufen wurde. Ich wurde mehrere Stunden verhört, doch konnte
ich damals nicht so einfach abgewiesen werden, weil ich noch ein
gültiges Zehnjahresvisum hatte. Mir wurde allerdings meine
Aufenthaltserlaubnis auf das Minimum reduziert und mein Name
offenbar auf die No-Fly List gesetzt, um weitere
Einreiseversuche von vornherein zu unterbinden. Das merkte ich
aber erst jetzt. Generell werden zum Inhalt der No-Fly List
keine Auskünfte erteilt, da dies die „nationale Sicherheit“
gefährden würde.
S: Du hast ja lange Zeit in Amerika gelebt, bist viel
umhergereist und hast mit Deinem Buch „Neuer Anarchismus in den
USA“ einen sehr guten Überblick von verschiedenen
anarchistischen Strömungen und Gruppen abgeliefert. Ich habe
hier den Eindruck, dass die anarchistische Szene eine sehr
identitäre bzw. Lifestyle bezogene Szene ist. Dieser Eindruck
wird auch durch Dein Buch bestätigt, da zum Beispiel keine
„classwar“ Gruppen wie die IWW zum „Neuen Anarchismus in den
USA“ gezählt werden. Die momentane Straight Edge Bewegung hat
sicherlich auch einen sehr hohen Anteil
identitätskonstituierender Mechanismen. Wie würdest Du denn
diesen „Neuen Anarchismus“ und die Straight Edge Bewegung im
Besonderen in Bezug auf Organisierungs- und Mobilisierungsgrad,
Militanz bzw. auf die Gefährdung der „nationalen Sicherheit“
einschätzen? Und kannst Du ein paar Aktionsformen erläutern?
Tja, einige große Fragen auf einmal.
Also zunächst stimmt das mit der „Lifestyle“-Orientierung wohl.
Es gibt Gruppen in den USA, die sich explizit zu einer
„sozialanarchistischen“ Tradition bekennen, wie etwa die
Northeastern Federation of Anarcho-Communists (NEFAC), aber die
sind innerhalb der anarchistischen Bewegung in der Minderheit.
Der berüchtigte US-Individualismus schlägt scheinbar auch hier
durch. Identitäre Bilder spielen da sicher eine große Rolle. Für
viele AnarchistInnen in den USA mag es wichtiger sein, sich
selbst als AnarchistIn zu entwerfen, als sich die Frage zu
stellen, wie wir am effektivsten zu strukturellen
gesellschaftlichen Veränderungen beitragen können.
Die Straight-Edge-Bewegung trägt schon lange solche Züge. In
Washington, DC, wo sie entstand, war sie zwar noch stark in
soziale Bewegungen eingebunden, aber schon bald entstand eine
Szene, in der es wesentlich um persönliche („nüchterne“)
Selbstverwirklichung ging und sich die sozialen Dimensionen auf
deine „crew“ oder „brotherhood“ beschränkten. Das änderte sich
in den 1990er Jahren etwas mit der starken veganen
Straight-Edge-Bewegung („Vegan Straight Edge“), die breitere
politische Ansprüche stellte. Allerdings fehlte auch dieser oft
jede Analyse von Klassenverhältnissen, rassistischen oder
patriarchalen Strukturen. Der individuelle „Lifestyle“ wurde
gewissermaßen zu einem universalen moralischen Prinzip erhoben.
In seinen schlimmsten Formen wurde Vegan Straight Edge damit zum
Ausdruck selbstzentrierter und selbstgerechter puritanischer
Politik. Ein Grauen für alle libertär orientierten Menschen ...
Allerdings gab es immer auch Straight-Edge-AktivistInnen, die
ihre Lebensweise nicht zu einem aggressiv präsentierten Modell
erhoben, sondern sie in Zusammenhang mit einer differenzierten
gesellschaftlichen Analyse und einer politischen Praxis
brachten. Die Geschichte dieser AktivistInnen habe ich versucht,
in „Sober Living for the Revolution“ nachzuzeichnen.
Aber zurück zum Zusammenhang zwischen dem „Neuen Anarchismus“ in
den USA und der Straight-Edge-Bewegung: Zu den stärksten
Überlappungen kam es hier sicherlich in Zusammenhang mit
militanten Tierbefreiungs- und ökologischen Bewegungen wie der
Animal Liberation Front (ALF) und der Earth Liberation Front
(ELF). Diese Gruppen erhielten viel Unterstützung aus
Vegan-Straight-Edge-Kreisen und einige ihrer AktivistInnen kamen
direkt aus diesem Umfeld. ALF und ELF werden vom FBI seit langem
als „terroristische Gefahren“ hochstilisiert und Leute haben
Gefängnisstrafen von bis zu zwanzig Jahren für Aktivitäten
erhalten, in denen kein Mensch verletzt wurde – oder die sich,
im Falle von Eric McDavid, noch nicht einmal ereignet hatten.
Nun ist es natürlich schwierig zu sagen, ob die Behörden die
Gefahr, die von diesen Gruppen ausgeht, einfach übertreiben,
oder ob derartige Repressionsmaßnahmen wirklich zum Schutz
herrschender Interessen notwendig sind. Die Wahrheit liegt wohl
irgendwo in der Mitte. Einerseits brachten ALF und ELF das
US-amerikanische Gesellschaftssystem kaum ans Kippen.
Andererseits verursachten ihre Aktionen genug Schaden und
erregten genug Aufmerksamkeit, um die Behörden unruhig werden zu
lassen. Zumal es relativ breite Sympathien für ihre Aktionen
gab, die, wie gesagt, immer darauf ausgerichtet waren, niemanden
zu verletzen, geschweige denn zu töten.
ALF-Aktionen bestanden meistens aus Einbrüchen in
Tierlaboratorien oder Pelzfarmen, einerseits um Tiere zu
befreien, andererseits um Anlagen und Materialien zu zerstören.
ELF-Aktionen bestanden meistens aus Brandstiftungen, die sich
gegen Einrichtungen gentechnologischer Forschung oder Bauten in
„wilderness areas“ richteten. Ich spreche in der
Vergangenheitsform, weil diese Aktivitäten – nicht zuletzt in
Zusammenhang mit der starken Repression – in den letzten Jahren
entscheidend zurückgegangen sind, auch wenn es immer noch hier
und dort zu Aktionen kommt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es durchaus eine relativ
starke Militanzbereitschaft und auch einen relativ starken
Mobilisierungsgrad gab. Eventuell flammt dieser auch wieder auf,
aber das werden die nächsten Jahre zeigen.
Was die Organisierung betrifft, so ist das noch einmal eine
andere Frage. Ich denke, dass Organisierungsfähigkeit mehr mit
Motivation als mit Struktur zu tun hat. Soll heißen: Solange
Leute an eine Sache glauben und wirklich an ihr arbeiten wollen,
werden sie sich organisieren. Teils in größeren Zusammenhängen,
teils in Kleingruppen. Letzteres wurde wesentlich in der ALF und
ELF praktiziert und passt wohl auch besser ins Bild des „Neuen
Anarchismus“, der allgemein komplexeren Organisationsformen
gegenüber sehr skeptisch ist. Aber ich denke, ob Menschen in
größeren oder kleineren Gruppen aktiv sind, ist nicht das
Entscheidende. Entscheidend ist, dass sie überhaupt aktiv sind.
Noch einmal anders gesagt: Ich denke, jede motivierte Bewegung
produziert ihre eigenen Organisationsformen – aber keine
bestimmte Organisationsform kann eine motivierte Bewegung
produzieren.
S: Wie verhalten sich denn die klassenkämpferischen und
anarchosyndikalistischen Gruppen zu diesen „postmodernen“
Erscheinungsformen des Anarchismus?
Im Grossen und Ganzen sehr ablehnend. Es gibt da einige tiefe
Gräben. In der Regel sehen sich diese Gruppen als wahre Erben
der anarchistischen Tradition und schreiben den
„Individualisten“ und „Lifestylisten“ ihre anarchistische
Identität ab. Gruppen wie CrimethInc. wird vorgeworfen, typische
weiße Mittelklassepolitik zu betreiben. Einerseits ist vieles an
der Kritik berechtigt, vor allem wenn es um fehlende
Klassenanalysen geht. Andererseits macht das Beharren auf der
einen richtigen Auslegung des Anarchismus die Bewegung nicht
unbedingt stärker. Ich würde mir wünschen, dass es von beiden
Seiten etwas mehr Dialogbereitschaft und etwas weniger
Rechthaberei gäbe.
S: Das letzte Mal als wir uns gesehen haben, hast Du das Buch
„Tötet den Bullen in eurem Kopf! Zur US-amerikanischen Linken,
White Supremacy und Black Autonomy“ von Greg Jackson, das Du
übersetzt und herausgegeben hast, in Hamburg vorgestellt. Dabei
hast Du einem deutschsprachigen Publikum einen noch relativ
unbekannten Ansatz, den der „Black Autonomy“, vorgestellt. So
wie ich Deinen Vortrag verstanden habe, verbindet das Konzept
der „Black Autonomy“ den antiautoritären Kern des Anarchismus
mit radikal-sozialistischen Ideen aus dem Black Panthers Umfeld.
Interessant finde ich an diesem Ansatz, dass die Kritik des
Konzeptes dahin geht, dass White Supremacy nicht auf
rassistische Identitätskonstruktionen zu reduzieren sei und dass
die „weiße“ Linke „ihre bürgerliche Pseudoanalyse von ‚Rasse’
und Klasse“ selbstkritisch hinterfragen muss. Verstehst Du dabei
die Formel „Bringt den Bullen in eurem Kopf um!“ als Kampf gegen
die innere Kolonialisierung von sozialen Ungleichheiten oder
lässt sich die Formel und die Kritik des Konzeptes auch so
verstehen, dass die Analyse von „Rasse“ und Klasse ohne Praxis
nichts als bürgerliches Geschwätz ist?
Beides, denke ich. „Bringt den Bullen in eurem Kopf um!“ ist
zunächst sicherlich als Aufforderung zu verstehen, sein eigenes
Denken bzw. die „innere Kolonialisierung“ zu hinterfragen. Also
sich darüber klar zu sein, dass es nicht reicht, mit einem „Ich
bin gegen Rassismus!“-T-Shirt rumzulaufen, um antirassistisch zu
sein. Ein wichtiger Aspekt der Black Autonomy ist autonome
Organisierung von Schwarzen bzw. von People of Color. Darin
liegt auch der Anschluss an Ansätze, wie sie die Black Panther
Party und andere „nationalistische“ afroamerikanische Gruppen
vertreten haben. Der Ansatz der Black Autonomy hält die autonome
Organisierungsform aufrecht, distanziert sich aber von jedem
Nationalismus, da dieser letzten Endes – egal wie er formuliert
und begründet wird – als Gefahr für libertäre Politik gesehen
wird.
Die autonome Organisierung wird als strategische Notwendigkeit
erachtet, weil eine enge Zusammenarbeit mit weißen AktivistInnen
solange als unproduktiv wahrgenommen wird, solange diese die
rassistischen Muster in ihrem Denken nicht überwunden haben.
AktivistInnen, die dem Ansatz der Black Autonomy folgen – wie
etwa heute viele, die im Anarchist People of Color-Netzwerk
zusammenfinden –, meinen in der Regel, dass es zu einer solchen
Überwindung noch nicht gekommen ist.
Dass dabei auch ein stärkerer Praxisbezug bzw. eine Kritik an
eher akademisch ausgerichtetem Antirassismus eingefordert wird,
ist richtig. Ich denke, das hängt auch mit dem ersten Punkt
zusammen: Es ist relativ leicht, rassistische Strukturen
intellektuell zu analysieren und sich zu ihrer Überwindung zu
bekennen. Es ist um einiges schwieriger, dies in eine politische
Praxis umzusetzen, in der wirklich kollektiv und
gleichberechtigt jenseits aller „color lines“ gekämpft und eine
andere Gesellschaft aufgebaut wird. People of Color wurden in
diesen Zusammenhängen immer wieder von weißen AktivistInnen
enttäuscht.
Natürlich bedeutet dies nicht, dass es überhaupt keinen
Austausch mit weißen AktivistInnen geben kann. Hier führt das
Konzept der Black Autonomy – wie ähnliche „separatistische“
Konzepte in feministischen oder anderen sozialen Bewegungen –
immer wieder zu Missverständnissen. Es geht hier nicht um
„Essentialisierung“ oder „Spaltung“, sondern um etwas, das als
taktische Notwendigkeit empfunden wird. Möglichem Austausch wird
damit kein Abbruch getan, der wird im Gegenteil meistens
begrüßt. Allerdings nicht in Foren, wo weiße AktivistInnen unter
dem Deckmantel der „Gemeinsamkeit“ die Kontrolle an sich reißen
können, sondern wo sie sich zunächst einmal zurücknehmen und
zuhören, um zu einer Kommunikationskultur zu finden, in der
tatsächlich alle Stimmen gehört und berücksichtigt werden.
Ich sehe ähnliche Probleme auch in linken Bewegungen in Europa.
Obwohl die Geschichte des Rassismus in den USA natürlich eine
spezifische ist, denke ich, dass die dort entwickelten Konzepte
auch andernorts wichtige Anstöße geben können. Deshalb habe ich
dieses kleine Buch zusammengestellt.
S: Ich finde auch, dass das Konzept der „Black Autonomy“ –
gegenüber einem „Stellvertreter_innen Antirassismus“ – einige
interessante Denkansätze für die linke Bewegung in Europa zu
bieten hat. Kannst Du die Praxis der „Black Autonomy“ und deren
Anknüpfungspunkte für eine europäische Linke näher beschreiben?
Ich denke, im Wesentlichen geht es darum, zu akzeptieren, dass
die zentrale Rolle im antirassistischen Kampf von denjenigen
einzunehmen ist, die am unmittelbarsten von rassistischen
Strukturen betroffen sind. Das klingt einerseits
selbstverständlich, andererseits sieht das in linker Praxis
vielerorts nach wie vor anders aus – auch in Europa bzw. im
deutschsprachigen Raum. Antirassismus wird tatsächlich oft als
StellvertreterInnenpolitik betrieben, in vielen Gruppen tauchen
von Rassismus Betroffene als aktiv Handelnde überhaupt nicht auf
und in „gemischten“ Zusammenhängen verschwinden ihre Stimmen und
damit Perspektiven und Bedürfnisse allzu oft. Kein Wunder also,
dass es auch hier zu autonomer Organisierung kommt.
Natürlich hat das seine historischen, sozialen und ökonomischen
Gründe, und es hängt nicht nur vom guten Willen der Leute ab,
das zu ändern. Den guten Willen haben sicherlich die meistens,
aber es bedarf einer ernsthaften gemeinsamen Auseinandersetzung
mit rassistischen Strukturen – auch in unseren politischen
Szenen und in „unseren Köpfen“ –, um zu einer produktiven
Zusammenarbeit zu kommen. Dass autonome Organisierung von People
of Color dabei, wie oben erwähnt, eine strategische
Notwendigkeit sein kann und als solche verstanden werden sollte
– und nicht als „Spaltung“ –, wäre ein erster Aspekt, der auch
im europäischen Kontext von Bedeutung ist. Zusätzlich die
Herausforderung, sich mit seinen eigenen Rassismen und weißer
Identität auseinanderzusetzen. Damit verbunden ist die Bedeutung
des Zuhörens: Also wie sehen beispielsweise MigrantInnen in
Deutschland ihre Situation, was erwarten sie sich von der
Mehrheitsgesellschaft, wo hoffen sie auf Unterstützung, wo
nicht? Diese Realitäten werden nach wie vor zu oft hinter die
politischen Interessen, Vorstellungen oder Idealen weiß
dominierter Gruppen gestellt – auch in der linksradikalen und
autonomen Szene.
In Zusammenhang mit der autonomen Organisation von People of
Color sollte freilich auch klargestellt werden, dass eine Gruppe
vornehmlich oder ausschließlich weißer AntirassistInnen nicht
zwangsläufig „StellvertreterInnenpolitik“ machen muss. Die
Zusammensetzung der Gruppe gibt nicht den Ausschlag; das tun die
Kontakte, die gepflegt werden, und die Politik, die gemacht
wird. Leute von „Black Autonomy“ haben beispielsweise immer auf
die eine oder andere Weise mit weißen GenossInnen
zusammengearbeitet. Autonome Organisierung bedeutet in den
seltensten Fällen völlige Abspaltung – das ist ein Mythos, der
leider immer wieder reproduziert wird; meist von Leuten, die
autonome Organisierung als einen Angriff auf ihre offiziellen
oder inoffiziellen Privilegien in gemischten Zusammenhängen
sehen.
S: In diesem Zusammenhang ist auch der so genannte
postanarchistische Ansatz sehr interessant und weiterführend, da
dieser Elemente postkolonialer Kritik, poststrukturalistischer
Kritik essentialistischer Denkformen mit Elementen eines
staatskritischen und klassenkämpferischen Anarchismus verbindet.
Hier sehe ich einige Überschneidungen mit dem Ansatz der „Black
Autonomy“. Wie ist denn Deine Einschätzung dieses Ansatzes, der
es sich zur Aufgabe gemacht hat, Machtverhältnisse und
Herrschaftstechniken zu analysieren und kritisch zu
hinterfragen?
Das ist wieder eine sehr komplexe Frage.
Als erstes würde ich sagen, dass das, was im englischsprachigen
Raum unter „Postanarchismus“ verstanden wird, nicht unbedingt
das ist, was Jürgen Mümken im deutschsprachigen Raum unter
diesem Namen eingeführt hat. Mümken hat ein fundiertes Wissen,
was die Geschichte des Anarchismus betrifft, und ist in
Klassenfragen auf Zack. In diesem Sinne kann bei ihm tatsächlich
vom Versuch gesprochen werden, einen klassenkämpferischen
Anarchismus mit poststrukturalistischer Kritik zu verbinden und
sich dabei um eine Weiterentwicklung anarchistischer
Theoriebildung zu bemühen. Englischsprachige postanarchistische
Autoren wie Saul Newman – der auch den Begriff des
„Postanarchismus“ eingeführt hat – schaffen vielmehr einen
Gegensatz zwischen einem „klassischen“ und einem oft
wortwörtlich so genannten „neuen“ Anarchismus. Dabei wird der
„klassische“ Anarchismus oft genug karikiert – Leute wie Newman
haben einfach wenig Ahnung davon. Gleichzeitig wird ihr
Postanarchismus sehr abstrakt und akademisch und es fehlt jede
Ankopplung an soziale Kämpfe – vor allem Klassenkämpfe. Insofern
bin ich, was den englischsprachigen Postanarchismus betrifft,
sehr kritisch.
Wenn wir jedoch von den Labeln und den Szenen, die sich darum
gebildet haben, weggehen, dann würde ich durchaus sagen, dass
poststrukturalistische Ansätze uns dabei helfen können, komplexe
Machtdynamiken besser zu analysieren und zu verstehen.
Beispielsweise auch das Ineinanderwirken unterschiedlicher
Herrschaftsregime, ob es sich nun um Klassenverhältnisse
handelt, um rassistische und patriarchale Strukturen usw. Die
Debatte, ob eine solche Pluralisierung der Herrschaftsanalyse
gut für die Linke war oder nur eine fatale Ignorierung der
ökonomischen Frage zur Folge hatte, wird seit mindestens zwanzig
Jahren diskutiert, immer noch mit starkem Bezug auf das viel
zitierte, aber leider nur noch wenig gelesene „3:1“-Papier. Dass
es Gruppierungen in der Linken gibt, die blinde Flecken haben,
was ökonomische Strukturen betrifft, ist offensichtlich. Was das
„3:1“-Papier dafür kann, ist mir allerdings schleierhaft. Nur
weil Klassenverhältnisse eine wesentliche Bedeutung in
antiherrschaftlichen Kämpfen haben müssen, heißt das nicht, dass
anderen Herrschaftsstrukturen eine solche Bedeutung abzusprechen
ist.
In jedem Fall würde ich dir recht geben, wenn du sagst, dass
auch die Analysen der Black Autonomy hier ansetzen. Ganz
wesentlich ist hier, „class“ und „race“ zusammen zu denken und
nicht die eine Kategorie an Wichtigkeit gegen die andere
auszuspielen. Mit Verweis auf Begriffe wie „multiple oppression“
liesse sich zwar kritisch anmerken, dass es sich hier nur um
eine „double oppression“ handelt, aber ein Wettbewerb darum, wem
mehr gleichberechtigte Herrschaftskategorien einfallen, bringt
uns genauso wenig weiter wie die unbedingte Priorisierung einer
einzigen. Es geht um Beiträge, die uns helfen, den vielen
Gesichtern des Feindes auf die Spur zu kommen – solche werden
meines Erachtens von Black Autonomy geleistet und auch von
einigen AutorInnen, die anarchistische Prinzipien mit
poststrukturalistischen Theorien verbinden, ob sie sich nun
„PostanarchistInnen“ nennen oder nicht.
S: Du hast vollkommen Recht, sich nicht
von einem Theorielabel beeindrucken zu lassen und soziale
Ungleichheiten nicht als „Add on“ eines eindimensionalen
Analysemodells zu verstehen, sondern die zentralen
Unterdrückungsmechanismen intersektional in einem Theorien- und
Methodenpluralismus aufgehen zu lassen. Ich danke Dir jedenfalls
für das spannende Interview. Und zumindest hat Dein
Einreiseverbot etwas „Gutes“: Es verdeutlicht nur allzu gut das
absurde Theater des „Land Of Free Speech“ bzw. verdeutlicht es,
was in einem Herrschaftsdiskurs zugelassen wird und was nicht.
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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