Untersuchungen zu den Aufständen in den französischen Banlieues
Kollektiv Rage (Hrsg.): Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei.

besprochen von Peter Nowak

04/10

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Für den französischen Verfassungsschutz handelte es sich um einen „nicht organisierten Aufstand mit der zeitlich sowie räumlichen Ausdehnung eines Volksaufstands, ohne Anführer und Programm“. Die meisten linken Parteien und Zusammenhänge in Frankreich konnten mit den Aufständen in den französischen Vorstädten, den berühmt-berüchtigten Banlieues, nicht umgehen. Schließlich wandten sich die AkteurInnen nicht an Parteien oder Gewerkschaften, klagten nicht über ihre schlechte Jugend, forderten nicht bessere Schulen und mehr Sozialarbeiter sondern zerstören Einrichtungen, die sie für Symbole des verhassten Staates halten.

Gerade deshalb wurden sie für einen kleinen Teil der radikalen Linken interessant. Aus diesem Kreis kommen größtenteils die AutorInnen des im letzten Herbst im Verlag Assoziation A erschienenen Buches über die Banlieu-Unruhen. Ihr letzter großer Höhepunkt war im Herbst 2008, aber auch seitdem flackerten in unregelmäßigen Abständen die Unruhen immer wieder auf. Bernard Schmid, der für verschiedenen linke Zeitungen und Zeitschriften aus Frankreich publiziert, verfolgt in seiner kommentierten Chronik die Unruhen bis in die 70er Jahre zurück. Allerdings hatten Jugendliche mit algerischem Hintergrund noch die Kommunistische Partei (KPF) auf ihrer Seite, als sie aus Wut über rassistische Beleidigungen im September 1971 in einem Lyoner Vorort einen Blumenladen verwüsteten. Die von der KPF gestellte Lokalregion forderte nicht nur gemeinsam mit den Angehörigen der verhafteten Jugendlichen deren Freilassung sondern kümmerte sich auch um einen Anwalt. Lang ist es her. Bevor die KPF ihren Einfluss verlor, setzte sie immer mehr auf die nationale Karte und mobilisierte in den 80er Jahren im Zweifel gegen Einwanderer.

Das Beispiel Lyon bestätigt die von vielen AutorInnen in dem Buch vertretene These, dass die Banlieu-Unruhen eine Folge des Bedeutungsverlusts des proletarischen Milieus in Frankreich anzeigt. Der Mitgliederschwund der KP und der Gewerkschaften sind dafür ein wichtiges Indiz. Damit ist auch eine Vermittlungsinstanz zwischen Staat und Gesellschaft weggebrochen, was Reformisten beklagen während staatskritische Linke hierin eine Chance stehen. Allerdings ist der Staat in neuer Form in den Banlieues präsent.
Unterwerfung unter die Staatsraison

Die Journalistin Emmanuelle Piriot und der Berliner Publizist Max Henninger beschreiben detailliert, wie die Banlieues in den letzten Jahren Experimentierfeld für diese neuen staatlichen Praktiken wurde. In der Ära Mitterand in den 80er Jahren wurde der Schwerpunkt noch auf die Integration gelegt. Dabei spielten Organisation wie „SOS Rassismus“ oder die feministische Organisation „Weder Huren noch Unterworfene“ eine zentrale Rolle. Für sie war der Kampf gegen rassistische und sexistische Unterdrückung mit einer Unterwerfung gegen die Staatsraison verbunden. Das hat dazu geführt, dass SOS-Rassismus für viele Banlieu-Jugendlichen nur noch als Konzertagentur wahrgenommen wird, so Henninger.

Die feministische Organisation dagegen hat vor allem im Ausland wegen ihrer berechtigten Kritik an der patriarchalen Gewalt innerhalb der Banlieues lange einen guten Ruf besessen. Erst seit die Mitbegründerin Fadela Amara in die rechte Regierung von Sarkozy eingetreten ist, wurde die Distanz größer. Piriot und Anne Brügmann zeigen in ihrem Beitrag auf, wie eine feministische Intervention im Sinne des Staates vereinnahmt worden ist und die Spaltung in den Banlieues vertieft. Doch auch die von den beiden Autorinnen erwähnte Gegengründung „Bewegung der Eingeborenen der Republik“ scheint wegen ihrer mangelnden Abgrenzung zu islamistischen Organisationen keine Alternative zu sein.

Im Kontext der sozialen Misere

Ein großes Verdienst des Buches ist es, dass die AutorInnen die Probleme in den Banlieues in den Kontext der Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse stellen, von denen auch die Menschen in anderen Stadtteilen betroffen sind. Damit wird die vorherrschende mediale Sichtweise aufgebrochen, die die Banlieubewohner mehr oder weniger aus der Gesellschaft ausgrenzt und sie zu einem polizeilichen Problem erklärt. Auch einer auch in linken Kreisen vertretenen These, dass die Architektur der Banlieues aggressiv mache, wird widersprochen. Damit soll nur von den sozialen Verhältnissen abgelenkt werden. Die aber stehen im Zentrum fast aller Beiträge. So schreibt die Soziologin Ingrid Artus über die „zornigen Väter“ der revoltierenden Jugendlichen: „Sie haben versucht, sich zu qualifizieren und einen guten Schulabschluss zumachen. Doch die meisten sind nicht weit gekommen. Trotz qualifizierter Berufsabschlüsse oder gar Hochschuldiplome verrichten sie oft unterqualifizierte Tätigkeiten, sind prekär beschäftigt, als Leiharbeiter oder in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs.“

Interessant sind auch die Interviews mit drei Frauen aus dem Banlieu, die über ihre mehr oder weniger erfolgreichen Kämpfe gegen schlechte Arbeitsbedingungen berichten. Im Fall der Verkäuferin Fatima wurde es schließlich auch ein Kampf gegen die Bürokratie der Gewerkschaft CGT, der die kämpferische Frau am Ende zu selbstbewusst war. In diesen Interviews kommen die Banlieu-BewohnerInnen direkt zur Wort. Sie werden von dem Interview mit einem Eric, einem mit „Aufständische aus den 93ern unterschriebener Aufruf und einen Artikel eines Aktivisten mit dem Pseudonym Marinus van der Lubbe komplementiert. Die übrigen Beiträge wurden von vorurteilsfreien BeobachterInnen verfasst. Angesichts der vielen publizistischen Schnell- und Fehlschüsse, die nach den letzten Banlieu-Unruhen verfasst wurden und bei den nächsten Revolten garantiert wieder auf den Markt geworfen werden, ist das Buch eine lobenswerte Ausnahme, das auch noch in einigen Jahren mit Gewinn zu lesen sein wird.

Parallelen zu Deutschland

Mit dem Beitrag des Soziologen Steen Thorrson wird ein Blick auf die Verhältnisse auf den Berliner Stadtteil Wedding geworben. Doch gibt es bisher keine Unruhen, aber auch dort werden neue Regierungstechniken ausprobiert, in die die Jobcenter ebenso eingebunden sind wie die schlecht bezahlten Kiezläufer, die wiederum mit der Polizei vernetzt sind. Merkwürdig nur, dass Thorsson sich im Buch als Journalist, DJ und Filmemacher vorstellt, aber nirgends erwähnt, dass seine Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit einem Stadtteilladen im Wedding in seine Diplomarbeit mit dem Titel „ Soziale Brennpunkte in Berlin: Stadtteilpolitik im Berliner Wedding“ einflossen, die er im Jahr 2008 am John-F.-Kennedy-Institut an der Freien Universität abgeschlossen hat. Gerade, wenn er sich selber als der sozialrevolutionären Linken versteht, sollte er seine Rolle als Wissenschaftler auch transparent machen. Denn damit kann er auch eine wichtige Rolle bei der Herausbildung linker Theorie und auch Praxis spielen. Interessant wäre auch ein Beitrag gewesen, der untersucht, ob die brennenden Autos in Berlin, die in der letzten Zeit in den Medien so viel Aufmerksamkeit erzeugten, eine Nachahmung französischer Verhältnisse sind. Schließlich gehört dort das Autoanzünden zu den regelmäßigen Begleiterscheinungen der Unruhen.
 

 

Kollektiv Rage (Hrsg.):
Banlieues.
Die Zeit der Forderungen ist vorbei.


Assoziation A
(Berlin) 2009. 280 Seiten.
ISBN 978-3-935936-81-1