< De mortuis
nihil nisi bene >, „Von den Toten nur Gutes“: Diesen
Wahlspruch der alten Römer beherzigte im März dieses Jahres
auch die Boulevardzeitung Le Parisien, als sie auf ihrer
Sportseite über den Tod des 37jährigen Fußballfans Yann
Lorence zu sprechen kam. Der Tote liebte das gute Essen und
die Zuschauertribünen des Vereins Paris-Saint Germain (PSG),
erfährt man dort.
Ansonsten
enthält der Artikel wenig Aufschlussreiches, außer dass „Yann
L., 37, unter den Schlägen gestorben“ sei. Doch in
Wirklichkeit verhalten sich die Dinge etwas komplizierter. Und
auch wenn der schwergewichtige Mittdreißiger mit dem kahlen
Haupt tatsächlich zu Tode geprügelt wurde und in dieser
Hinsicht als Opfer einer strafwürdigen Handlung zu betrachten
ist, so kann er doch - unter einer Würdigung der sonstigen
Umstände - kaum insgesamt als reines bedauernswertes Opfer
hingestellt werden. Seit seinem Tod sind in den letzten Wochen
Hektoliter von Tinte über die Situation im französischen
Fußball, vor allem im Hinblick auf die Gewaltproblematik,
geflossen. Ein Grund mehr, genauer hinzusehen.
„Yann L.“, Sohn einer deutschen Mutter und eines französischen
Vaters, wurde in der Nacht vom 18. zum 19. März 2010 klinisch
tot gemeldet. Doch zu dem Zeitpunkt lag der arbeitslose Koch
schon seit zwanzig Tagen im Koma. In der Vorwoche war in
Medienberichten darüber spekuliert worden, ob die Apparate,
die ihn künstlich am Leben erhielten, abgeschaltet werden
sollten – nachdem Anfang März vorübergehend eine Besserung
seines Zustands vermeldet worden war. Am Ende erwiesen sich
seine Kopfverletzungen als zu schwer.
Tod eines Hooligans
Am 28. Februar dieses Jahres war Yann Lorence von mehreren
Personen, mutmaßlich um die dreißig, mit Schlägen und Tritten
traktiert worden. Zu diesem Zeitpunkt lag er bereits am Boden.
Doch die Darstellung seiner Fußballkumpane, wonach er beim
Bierholen „in der Nähe eines Getränkeverkaufs“
niedergeschlagen worden sei, erwies sich schnell als
unhaltbar: Der nächste Getränkekiosk befand sich zu dem
Zeitpunkt, als der 37jährige zu Boden ging, über 400 Meter
entfernt. In unmittelbarer Nähe des Orts, wo er
niedergeschlagen wurde, befinden sich jedoch die
„gegnerischen“ Zuschauerränge – jene der Tribune Auteuil
genannten Nordkurve im Parc des Princes, dem am südwestlichen
Stadtausgang von Paris erbauten Stadion des PSG. Die Reihen
dieser Nordkurve waren zu dem Zeitpunkt, als sich das
fragliche Geschehen ereignete, von einer „gegnerischen“
Gruppe, einer Mischung aus Neonazis und Fußballhooligans, zu
der auch Yann Lorence gehörte, attackiert worden. Und ihre
Insassen hatten sich zur Wehr gesetzt. Dass ein einzelner
Angreifer, der bereits zu Boden gegangen war, die geballte Wut
der Übermacht von mehreren Dutzend der Verteidiger – von denen
vier inzwischen festgenommen worden sind - zu spüren bekam,
ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber fraglich ist auch, wie
es überhaupt so weit kommen konnte.
Der Begriff „gegnerisch“ sollte theoretisch fehl am Platze
sein, denn beide Zuschauerkurven, die da auf harte Weise
miteinander kämpften, gehören zum selben Fußballclub. Am Abend
jenes 28. Februar empfing der Pariser PSG den führenden Verein
der zweitgrößten französischen Stadt, l’Olympique de
Marseille, zu einem Spiel der französischen Nationalliga – am
26. Spieltag der ‚Ligue 1’ (ungefähr vergleichbar mit der
Bundesliga). PSG und OM sind für ihre Rivalitäten und für die
verbalen Kraftsprüche ihre Anhänger, „Anti-Pariser“ versus
„Marseillehasser“, bekannt. Doch die Spannung, die sich an
jenem Abend schon vor Spielbeginn in offener Gewalt entlud,
hatte sich nicht zwischen Paris- und Marseillefans aufgebaut.
Vielmehr waren es die Fans aus der ,Tribune Boulogne’
genannten Südkurve des PSG, die jene in der Nordkurve des
„eigenen Vereins“ angriffen. Das Gewaltklima zwischen beiden
war schon in den Monaten zuvor notorisch gewesen; und manche
Anhänger äußern im Nachhinein die Auffassung, dass „irgendwann
etwas Gravierenderes passieren musste“, was sich im Grundsatz
bereits vorher angekündigt habe.
Beide Kurven lassen sich relativ prägnant charakterisieren, um
sie voneinander zu unterscheiden. Sie liegen nicht nur
topographisch links (Auteuil) respektive rechts (Boulogne) von
den Fernsehkameras, wenn diese auf das Tor gerichtet sind. Die
Fangemeinde aus der Südkurve des Stadions - das 1897 als
Fahrrad-Rennbahn eingeweiht, und ab 1972 in seiner heutigen
Form für Fußball- und Rugbyspiele genutzt wurde -, die Tribune
Boulogne, benannt nach der westlich angrenzenden Vorstadt, ist
älteren Datums. Sie zog schon früh auch als gewaltbereit
geltende Fans aus den sozialen Unterklassen an. Die Nordkurve
für die Auteuil-Anhänger, benannt nach einem Stadtteil im
östlich angrenzenden 16. Pariser Bezirk, hingegen wurde ab
1991 als eigene Fangemeinde aufgebaut. Damals stieg der
Privatfernsehsender Canal + mit massiven Kapitalinvestitionen
in den PSG ein. Er brachte Geld mit, um neue Fanclubs mit
eigenen Utensilien, Fähnchen und anderen Fanartikeln
aufzubauen. Die neue Nordkurve mit ihren nunmehr
eigenständigen Clubs unterschied sich darin von ihrer Rivalin,
dass ihre Zusammensetzung von Anfang an „bunter“ und
gemischter war: Leute aus Einwandererfamilien und
Vorstadtbewohner fühlten sich hier wesentlich leichter zu
Hause.
Rechtsextreme Einflüsse
Gegenüber der Tribune Auteuil, die ihren Aufschwung nahm und
Fans anzog, riefen Angehörige von Clubs der Südkurve den
„Widerstand“ aus. Ein Teil von ihnen radikalisierte sich
politisch nach rechts, durch Kontakt mit (parteiförmigen oder
außerparlamentarischen) rechtsextremen Gruppierungen, um den
Erhalt einer „weiß“ dominierten Kurve zu reklamieren. Diese
sollte vor dem drohenden Aufgehen in einer „Rassenmischung“ im
Stadion gerettet werden. Gleichzeitig fanden gezielte
politische Manipulationen statt. Schon in den 1980er und
1990er Jahren hatte der rechtsextreme Front National (FN) -
auch über Vorstandsmitglieder des Vereins (PSG), die ihm
angehörten – politischen Einfluss auf einen Teil von dessen
Fans auszuüben versucht.
Nach dem 21. April 2002, also jenem Sonntag, an dem Jean-Marie
Le Pen in die Stichwahl einer französischen
Präsidentschaftswahl einziehen konnte – nachdem der FN seit
dem Winter 1998/99 eine ernste Krise (infolge der Spaltung Le
Pen/Mégret) durchlaufen hatte, die eine erhebliche Schwächung
seines Mitgliederstamms nach sich zog – kam es erneut zu einem
Aufschwung dieses politischen Einflusses. Die extreme Rechte
versuchte zeitweilig erneut, offen Fuß im Stadion zu fassen. -
Diese kaum verhüllte Präsenz des FN war zwar nur vorübergehend
zu beobachten. Dennoch bleibt ein Teil der „rechts“
beeinflussten Hooliganszene ihm verbunden. Beispielsweise nahm
eine Abordnung rechtsextremer PSG-„Ultras“ am 22. April 2007
am Wahlabend (zum ersten Durchgang der französischen
Präsidentschaftswahl) des FN und seines Kandidaten Jean-Marie
Le Pen teil – wo die Hooligans den ebenfalls anwesenden
schwarzen Antisemiten Dieudonné M’bala M’bala, den sie als
„Neger“ verachteten, beinahe vermöbelt hätten. So berichtete
es jedenfalls ein kurz darauf erschienener Artikel in der
rechtsextremen Wochenzeitung ,Minute’.
Am 24. Januar 2010, als im Pariser Saal La Mutualité eine
Gedenkveranstaltung der französischen radikalen Linken für
ihren verstorbenen politischen Denker und Philosophen Daniel
Bensaïd (NPA) stattfand, sammelten sich draußen vor den Türen
circa 30 Fußballhooligan und Rechtsradikale. Diese waren zwar
klar in der Unterzahl, was Hooligans aus diesem Spektrum
allerdings oft nicht hindert, ebenso kackfrech wie brutal
Angriffe gegen zahlenmäßig überlegene (gegnerische)
Menschenmengen durchzuführen – ähnlich wie mitunter in den
oder rund um die Stadien auch. In diesem Falle hätten sie
gegen den gut organisierten Ordnerdienst des NPA keine Chance
gehabt, Chaos zu stiften. Doch die Hooligans und Neofaschisten
waren auch eher zufällig dort anwesend: Eine kleinere Zahl von
ihnen hatte sich in einer gegenüberliegenden Kneipe befunden
und hatte, angelockt von Neugier über das im Mutualité-Saal
stattfindende Ereignis, wohl per Telefon Verstärkung
herbeigerufen. Die drei Dutzend Mann befanden sich in
Begleitung von Alexandre Simmonot, einem
Kommunalparlamentarier des FN in der nördlichen Pariser
Banlieue. Simonot zählt bei der rechtsextremen Partei zu den
potenziell aufstrebenden Jungpolitikern. Er gilt (jedenfalls
außerhalb der Reihen des FN) jedoch auch als ziemlich
„durchgeknallt“. Ein Gericht in der Pariser Nachbarstadt
Pontoise hat ihn 2008 zu einer Geldstrafe verurteilt, nachdem
er am Welt-AIDS-Tag (im Dezember 2006) einen
Ausstellungsgegenstand – ein Riesenpräservativ von sechs
Metern Höhe – durchstochen und wegen „Moralwidrigkeit“
öffentlich zerstört hatte. (Vgl.
http://www.champagnole-zoom.fr/news/news.php?idNews=3046 )
In den letzten Jahren wurden aber auch die Kontakte von Teilen
dieser Fanszene zu eher außerparlamentarischen, militanten
rechtsradikalen Gruppen (etwa dem Bloc identitaire und seinem
Umfeld) enger. Anhänger der Tribune Boulogne wurden etwa am 9.
Mai 2009 bei einer alljährlich an diesem Datum stattfindenden
Gedenkdemonstration von Neonazis im Süden von Paris
beobachtet. Ihr Gegenstand ist das Andenken an Sébastien
Deyzieu, d.h. ein Mitglied der für die militante Szene
zeitweise offenen Jugendorganisation des Front National – FNJ
-, das sich im Mai 1994 einer Festnahme durch Polizeibeamte
mittels Flucht aus einem Fenster entziehen wollte. Die Sache
endete in einem tödlichen Sturz aus dem fünften Stock. Bei der
letztjährigen Demonstration, zu der vor allem Neonazis und
Nationalrevolutionäre kamen, griffen Boulogne-Fußballfans u.a.
Passanten mit schwarzer Hautfarbe an. Ihr Demoblock wurde aber
wiederum von Auteil-Fans militant attackiert. Auf deren
Nordkurve findet man inzwischen des öfteren auch Mitglieder
und Sympathisanten aktivistisch orientierter Antifagruppen,
etwa der autonomen Antifa SCALP.
Der zweite „Märtyrer“ innerhalb von gut drei Jahren
Yann Lorence gehörte zu diesem Milieu der Südkurve, auch wenn
es in seinem Fall keinen Hinweis auf politische Betätigung im
engeren Sinne gibt. Höchstwahrscheinlich war er ein
„einfacher“ Hooligan, der eher Gefallen an Bier und Prügelei
denn an ideologischen Ausführungen fand. Seiner Darstellung
als einfacher, friedliebender Mensch widersprechen jedoch
Kenner der Szene und Fußballfans, die sich jetzt in den
einschlägigen Foren zu Wort melden, entschieden. Im Internet
findet sich noch ein älteres Video von einem Auswärtsspiel des
PSG im burgundischen Auxerre im Jahr 2003, auf dem man ihn als
einen der Angreifer in der ersten Reihe Prügel austeilen
sieht. In den letzten Jahren soll der Boulogne-Anhänger,
jedenfalls laut Angaben von befreundeten Fans, sich jedoch
leicht zurückgezogen haben – was anscheinend so viel
bedeutete, dass er mit prügelte, aber nicht mit in der ersten
Reihe stand.
Es handelt sich bereits um den zweiten Toten beim PSG
innerhalb von gut drei Jahren. Am 23. November 2006 war der
25jährige Boulogne-Fan Julien Quemener durch einen Schuss aus
der Waffe des Polizisten Antoine Granomort getötet worden.
Voraus ging ein angespanntes Gewaltklima während eines Spiels
des PSG gegen den Gastclub Hapoël Tel Aviv, das sich am
Ausgang in einem Lynchversuch gegen einen jungen
französisch-jüdischen Fan entladen hatte. Antoine Granomort
hatte sich zusammen mit dem bedrohten Yanniv Hazout in ein
Schnellrestaurant geflüchtet. In einer Notwehrsituation, wie
es scheint, zog er am Schluss die Waffe, die er bei sich trug.
Auch wenn die von dem Polizeibeamten angegeben Version
inzwischen Risse erhielt, da ein ballistisches Gutachten 2009
ergab, er habe den tödlichen Schuss nicht – wie er selbst
dargestellt hatte – von unten auf dem Boden liegend abgegeben,
sondern horizontal auf Herzhöhe, so bleibt doch an der damals
bestehenden Bedrohungssituation insgesamt nicht zu zweifeln. /
In der Folgezeit hatten die Hooliganszene, aber auch die
etablierte extreme Rechte den getöteten Julien Quemener zum
Opfer & Märtyrer aufzubauen versucht. (Vgl.
http://www.trend.infopartisan.net/trd0107/t130107.html
oder
http://www.hagalil.com/01/de/Europa.php?itemid=312 )
Derzeit ist ein vergleichbares Phänomen übrigens in der
etablierten rechtsextremen Presse nicht zu beobachten.
Möglicherweise ein Indiz für die Nähe respektive Nicht-Nähe
der jeweiligen „Opfer“ zu den harten Kernen rechtsextremer
Strukturen? Oder nur eine Konjunkturfrage?
Erneut steht nun der PSG vor der Aufgabe, mit der Gewalt aus
dem eigenen Anhängerlager umzugehen. Die Mutter des 2006
getöteten Fans, François Quemener, warf jüngst in der Presse
den Vereinsverantwortlichen vor, nichts Wirksames gegen die
Gewalt in den Stadien unternommen zu haben; auf den
einschlägig bekannten Rängen gebe es weniger Kontrollen als
zuvor. Der Tod ihres Sohnes sei „umsonst gewesen“.
Gleichzeitig wollte sie deutlich zwischen einer „kleinen
rassistischen Minderheit“ und dem überwiegenden Rest
unterschieden wissen. In den Debattenforen zum Thema wird dies
unterdessen zum Teil anders diskutiert, wo darauf hingewiesen
wird, „dass alle immer sagen: wir werden nur durch eine
verschwindend kleine Minderheit schlecht gemacht“, während das
Verhalten vieler Fans in den Gruppen mit Hooligan-Anteil sich
in Wirklichkeit gleiche.
Reaktionen
Die Vereinsspitze beschloss nach den ernsten Zwischenfällen
vom 28. Februar 10, für die laufende Spielsaison keine Karten
für Auswärtsspiele mehr an ihre Fans zu verkaufen. In Nizza,
in der vorletzten Märzwoche, und in Auxerre am letzten
Dienstag im März musste der Pariser PSG so vor leeren
Zuschauerbänken auf der eigenen Seite spielen. In Auxerre
hatte der Präfekt – auf Weisung von Innenminister Brice
Hortefeux hin – ohnehin angeordnet, das Spiel müsse ohne
Publikum stattfinden. Kurz vor dem Gastspiel in Nizza (bei dem
der PSG dann doch siegreich war, fußballerisch betrachtet)
verkündete der dortige Hooliganclubs der „Ultras“ von Nizza
seinerseits seine Selbstauflösung.
Der französische Innenminister Hortefeux seinerseits setzt auf
noch stärkere Polizeipräsenz in den und um die Stadien – die
aber in den letzten Jahren massiv ausgebaut worden ist. Am 28.
Februar bspw. waren rund 1.300 Beamte zugegen, was das
Geschehen nicht verhindern konnte. (Dies liegt zum Teil auch
daran, dass manifeste politisch begründete und motivierte
Komplizenschaften zwischen einem Teil der Polizei, den
„rechts“ beeinflussten Hooligans und mutmaßlich auch einem
Teil der Vereinsstrukturen beim PSG bestehen.)
Ferner plädiert er für das Verbot und die Auflösung
„risikobehafteter“ Fanclubs. Letztere Maßnahme ist jedoch im
Hinblick auf ihre Wirksamkeit umstritten. Im April 2008 hatte
der bis dahin größte Fanclub der Südkurve, die ‚Boulogne
Boys’, seine Auflösung per Verbotsakt einstecken müssen;
parallel zu ihm wurde auch ein rassistischer Fanclub in Metz
aufgelöst. (Vgl. hier das Regierungsdekret zum Verbot:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000018663587
) Schon kurz zuvor hatten drei Fanclubs beim PSG, die unter
erheblichen äußeren Druck geraten waren - ,Boulogne Boys’,
,Gavroches’ und ,Rangers’ -, ihre „wahrscheinliche“
Selbstauflösung bekannt gegeben. Voraus ging u.a. die Affäre
um das unrühmliche Transparent bei einem Spiel des PSG gegen
Lens am Abend des 29. März 2008 (das 2:1 ausging): Auf ihm
waren die Einwohner der – sozial schwachen – Region Nord-Pas
de Calais pauschal als „Arbeitslose, Kinderschänder und
Inzestkinder“ bezeichnet worden. (Vgl. das Foto dazu:
http://observers.france24.com/fr/content/20080421-boulogne-boys-chtis-lens-psg-interdiction-banderole
, wobei der Pädophilie-Vorwurf eine Anspielung auf die so
genannte „Outreau-Affäre“ in den späten neunziger Jahren
darstellte – doch die damaligen Angeklagten stellten sich
sämtlich als unschuldig heraus.) Das Clublokal wurde
geschlossen, und die früheren Mitglieder des Fanclubs konnten
nur noch einzeln Zutritt zum Stadion finden, aber keinen
organisierten Eintrittskartenvertrieb unter sich mehr
betreiben. Jedoch wurde infolge der Auflösung der Clubstruktur
festgestellt, dass das Risiko- und Gewaltpotenzial nur noch
größer geworden sei, weil sich nunmehr kleine hochmobile
Gruppen mit ausgeprägter Gewaltbereitschaft gebildet hätten.
Die für Sport zuständige Staatssekretärin – die
senegalesischstämmige Französin und Diplomatentochter Rama
Yade - fordert unterdessen alternativ dazu, namentlich
ausgestellte Eintrittskarten einzuführen, die an ihren Träger
gebunden sind. Auf diese Weise wäre es möglich, wirksame
Stadionverbote für durch Gewalt auffällig gewordene Individuen
zu verhängen. Derzeit kann ein administratives Stadionverbot
für sechs bis zwölf Monate verhängt werden. Kritiker unter den
Diskussionsteilnehmern in den Fanforen weisen allerdings
darauf hin, dass „England, als es mit seinem Hooliganproblem
fertig geworden ist, bis zu lebenslange Stadionverbote“
ermöglicht habe. Der frühere PSG-Vereinspräsident in den
Jahren 2003 bis 05, Francis Graille, weist unterdessen darauf
hin, er habe in seiner Amtszeit „bereits namensgebundene
Eintrittskarten gefordert, aber deswegen bin ich damals noch
als < Faschist > gescholten worden“. Deshalb sei „viel Zeit
verloren worden“.
Die heutige Vereinsspitze will sich, nach einer Spielsaison
ohne Kartenverkauf für Auswärtsspiele, bis Herbst 2010 nun
Zeit für weitere Beschlüsse lassen. Bis dahin hat der Verein
seine geschäftlichen Beziehungen zu mehreren Fanclubs
„eingefroren“. PSG-Präsident Robin Leproux spricht
gleichzeitig davon, auf die Dauer wolle er „auf keinen Fall
die Stadien leeren, sondern im Gegenteil vollere Stadien
haben“. Der Sport-Staatssekretärin Rama Yade warf er vor,
durch ihre Warnung, „die Zukunft des Vereins“ stehe „auf dem
Spiel“, auf unzulässige Weise dramatisiert zu haben. Und
Anfang April wurde ferner bekannt, dass Leproux nun auch die –
eher bunt zusammengesetzte und z.T. antifaschistisch geprägte
– Zuschauerbühne ,Tribune Auteuil’ (die keineswegs
ausschließlich aus Einwandererkindern besteht!) massiv
angriff: Er forderte diese dazu auf, sie müsse „auch ganz
weiße Leute hereinlassen“; und solange sie diese (angeblich)
nicht aufnehme, sei sie Bestandteil des Problems. Es wird
vermutet, dass künftige repressive Maßnahmen denn auch, und
vielleicht sogar vorrangig, die ,tribune Auteuil’ treffen
dürften. Tatsächlich zählten jene, die Yann L. totschlugen, zu
deren Anhängern. Doch würde eine Repression hauptsächlich
gegen diese Seite den massiven Rassismus nicht berücksichtigen
und, natürlich, das „Faschoproblem“ nicht im Entferntesten
lösen helfen.
Die rechtsextrem beeinflusste Hooliganszene selbst überlegt
derzeit allem Anschein nach noch, wie ihre Reaktion aussehen
könnte. Manche auf ihrer Seite angesiedelte Fanclubs rufen
zwar zur Besonnenheit auf (und glauben wohl, dadurch
profitieren und „Sympathiepunkte“ sammeln zu können, dass das
„Opfer“ auf der „richtigen“ Seite fiel). Aber gleichzeitig
werden derzeit monatlich zwei bis drei Schläger- und
„Rache“aktionen außerhalb der Stadien, etwa am Wohnort
namentlich bekannter und identifizierter „gegnerischer“
PSG-Anhänger, verzeichnet. Dem Vernehmen nach wird in
einschlägigen Kneipen über eine „richtig große, spektakuläre
Rachemaßnahme“ diskutiert. Und denselben Quellen zufolge
ziehen sich selbst hartgesottene, einschlägig vorgeprägte
Individuen aus dieser (Schläger-)Szene oder den entsprechenden
Bars derzeit zurück: Weil sie zu der Auffassung gelangt sind,
dass „die Messlatte für eine zu unternehmende Aktion jetzt
sehr hoch gehängt“ ist – „unter mindestens einem Toten könnte
es nicht als erfolgreich gewertet werden“. Ein Risiko, dass
zumindest manche von ihnen denn doch nicht eingehen oder
mittragen möchten. Aber wie viele werden sich finden, die
letztendlich doch verrückt oder „hart“ genug sind?
LETZTE MINUTE :
Am Sonnabend, den 10. April 10 hielt Innenminister Brice
Hortefeux sich anlässlich der Begegnung PSG – FC Bordeux im
,Parc des Princes’, dem Stadion des Pariser Vereins, auf.
Beide « rivalisierenden » Zuschauertribünen, die
Nordkurve-tribune Auteuil und die Südkurve-tribune Boulogne,
erhoben sich aus demselben Anlass zu einer Hommage für den
getöteten Yann Lorence. Es handelte sich um das erste Spiel
des Pariser Vereins vor Zuschauern, das seit dem Ableben Yann
L.s stattfand, nachdem zwei Auswärtsspiele ohne Zuschauer
hatten auskommen müssen. Während des Spiels (das der PSG 3 :1
gewann) hielt man auf der Boulogne-Tribüne ein schwarzes
Trauertransparent und das Portrait Yann L.s hoch.
Innenminister Hortefeux erklärte im Anschluss vor der Presse,
man müsse zwischen « Fans » einerseits und « Verrückten »
sowie « Unerträglichen » andererseits unterscheiden ; für
Letztere seien gesetzliche « Ausgangssperren » während der
Spiele ihres Vereins anvisierbar. Dies würde konkret das im
Gesetz festgeschriebene Verbot, das Stadion – oder das Innere
einer Zone in Stadionnähe – zu betreten, und/oder einen
Zwangsaufenthalt auf der nächst gelegenen Polizeiwache während
der Spieldauer beinhalten. Bei Zuwiderhandeln gegen das Verbot
drohe dann « mindestens eine empfindliche Geldbuße », fügte
Hortefeux hinzu.
Ihm zufolge wurden derzeit 792 individuelle (administrative)
Aufenthaltsverbote im Stadion verhängt, gegenüber 311 im
Februar vor dem tödlichen Zwischenfall. (Vgl.
http://www.lepoint.fr/actualites-politique/2010-04-10/foot-hortefeux-reflechit-a-un-couvre-feu-contre-fous-et/917/0/443019
)
Editorische
Anmerkungen
Wir
erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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