Frankreich-Algerien Bilaterales Verhältnis so angespannt wie seit langem nicht
Die algerische Seite thematisiert durch einen Gesetzesvorschlag vergangene Kolonialverbrechen Frankreichs in Nordafrika

von
Bernard Schmid

04/10

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Müssen französische Täter aus den Tagen der Kolonialkriege und Kolonialverbrechen jetzt Strafe fürchten und vor - spät, aber immerhin - drohender Verfolgung zittern? Dies ist jedenfalls, was der algerische Parlamentsabgeordnete Moussa Abdi gerne sähe. - Und nicht nur er: Am Freitag vergangener Woche (19. März 10), anlässlich des Parteikongresses der „Nationalen Befreiungsfront“ FLN in Algerien, schloss sich Ex-Premierminister Abdelaziz Belkhadem (vom eher nationalreligiösen Flügel des FLN) ihm an und forderte offiziell „eine Entschuldigung des französischen Volkes“ für in seinem Namen begangene Kolonialverbrechen. Dieser Auftritt war sicherlich nicht der beste Beleg ehrlicher Spontaneität und von Herzen kommender Empörung, da solch ein FLN-Kongress stets ein von Pathos begleitetes „Hochamt“ darstellt, und zumal der soeben zu Ende gegangene im Übrigen als Ausweis einer „Rückkehr zur sowjetischen Ära“ und „fossilen Praktiken“ gilt. Dennoch, jenseits der fehlenden Spontaneität und vielleicht sogar gerade deswegen, belegt der offizielle Auftritt von Ex-Premierminister Belkhadem vor dem FLN-Kongress eine echte Bestrebung seitens der algerischen Politik, diesem Thema in den kommenden Wochen und Monaten Gewicht zu verleihen.

Doch zurück zu Moussa Abdi, dem Initiator dieser Politik. Der Abgeordnete der früheren Einheitspartei - vor 1989 - und noch immer der Regierungskoalition angehörenden Nationalen Befreiungsfront (FLN), legte nicht nur am 13. Januar dieses Jahres einen Gesetzentwurf in der „Nationalen Volksversammlung“ (APN) in Algier vor, der eine „Kriminalisierung des Kolonialismus“ zum Gegenstand hat. 125 von insgesamt 389 Abgeordneten der APN unterstützen bislang diesen Entwurf. Käme er durch, würde er zur Einrichtung von Spezialgerichten führen, die Urteile gegen damalige politische oder militärische Verantwortliche auf französischer Seite aussprechen könnte. Abdi versucht auch, dafür Verbündete in anderen früher von Frankreich kolonisierten Ländern zu gewinnen. Marokkanische und tunesische Parlamentarier hat er bereits für sein Vorhaben gewonnen. Und in der ersten Februarwoche hielten algerische Abgeordnete, die seine Vorlage mit unterzeichneten, sich in Vietnam - das früher Teil der französischen Kolonie Indochine war - auf und sprachen dort ebenfalls für ihr Anliegen vor.

„Operation blaue Wüstenspringmaus“: menschliche Versuchskaninchen für Nukleartests

Angefeuert wird ihre Initiative aber auch vom Vorstoß einer algerischen Rechtsanwältin, Fatma Benbraham, die am 13. Februar 10 - dem Jahrestag des ersten französischen Atomwaffenversuchs im Jahr 1960, der Opération Gerboise bleue (Blaue Wüstenspringmaus) - ankündigte, eine Klage gegen Frankreich vor internationalen Strafgerichtshöfen zu erheben. Auch wenn ihre juristische Qualifikation, „Genozid“, unhaltbar sein dürfte, so hat ihr Anliegen doch einen ausgesprochen ernsthaften Kern. Französische Vertreter hatten 1957 - also mitten im algerischen Entkolonialisierungskrieg - angekündigt, Nuklearwaffentests im Süden Algeriens durchzuführen, aber „nur in unbewohnten Gebieten“. Nachträglich ist aber erwiesen, dass mindestens 40.000 Menschen, sowohl Nomaden als auch festansässige Einwohner, in den radioaktiv verseuchten Zonen lebten.

Frankreich hat zwar inzwischen ein Gesetz verabschiedet, das am 22. Dezember 2009 vom Senat als zweiter Parlamentskammer in letzter Lesung angenommen und am 7. Januar 10 im Amtsblatt veröffentlicht wurde, und das eine Entschädigung mancher Opfer seiner Atomwaffentests - in der algerischen Wüste ebenso wie auf Pazifikinseln rund um den Mururoa-Atoll - vorsieht. Um einen Anspruch darauf geltend machen zu können, müssen diese Opfer nachweisen können, infolge eines Nuklearwaffentests an Krebs oder einem anderen der aufgelisteten 18 schweren Leiden erkrankt zu sein. Doch nach wie vor verweigert Frankreich der algerischen Seite, ihr eine Liste der damals radioaktiv kontaminierten Örtlichkeiten zu übermitteln. Deren genaue Umgrenzungen durch Untersuchungen festzustellen, fällt - ohne über Dokumente zu verfügen - schwer, da diese Zonen in der Sahara liegen. „Die französische Armee benötigte 45 Jahre“, sagt Abderrahmane Leksassi, Sprecher einer Vereinigung algerischer Opfer von Atomwaffentests (Avaen), „um unserem Land eine Liste der verminten Orte an den Grenzen zu Tunesien und Marokko zu übergeben.“ Während des algerischen Befreiungskriegs hatte die Kolonialmacht Frankreich dort elektrifizierte Sperrzäune errichtet und Minengürtel gelegt. „Wie viel Zeit wird sie abwarten, bis sie uns auch mitteilt, wo sie radioaktive Hinterlassenschaft vergraben hat?“ In den Jahren von 1960 bis 66, also noch bis vier Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens, führte Frankreich insgesamt 17 Nukleartests in Reggane und In Ekker durch.

Hintergründe

Doch warum übt die algerische Seite gerade jetzt so starken Druck wie noch nie aus, um auf eine Anerkennung früherer französischer Kolonialverbrechen - dazu zählt auch die massive Anwendung der Folter im nordafrikanischen Kolonialkrieg - zu drängen? Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass das Thema seit Anfang dieses Jahres auf die Tagesordnung kam.

Die bilateralen Beziehungen sind so stark angespannt wie noch nie. Unter anderem kam deswegen die von beiden Seiten geplante Neuverhandlung des französisch-algerischen bilateralen Abkommens zum Umgang mit Einwanderern, das vom Dezember 1968 stammt und zuletzt im Jahr 2001 überarbeitet worden war, bislang nicht zustande. Der algerischen Seite geht es beim Wunsch um neuerliche Überarbeitung vor allem darum, die Anerkennung einer - zeitlich befristeten - Arbeitsmigration für Träger besonderer Qualifikationen, wie sie für Angehörige anderer Nationalitäten seit drei Jahren in Frankreich gesetzlich vorgesehen ist, auch für Algerier einzuführen. Denn der Text von 2001 befindet sich noch auf einem Stand, als der Stopp jeglicher neuen Arbeitsmigration offizielle Politik in Frankreich war. Das ist inzwischen historisch überholt. In den letzten Monaten drängte allerdings vor allem die französische Seite darauf, den Abkommenstext zu modifizieren. Sie möchte Verschärfungen im Ausländergesetz, die für andere Nationalitäten seit dem Wahlsieg Nicolas Sarkozys gelten, nun auch für Algerier durchsetzen. Auf letztere wird das biletarale Abkommen statt des allgemeinen Ausländerrechts angewendet. Deswegen können Algerier bisher nach zehnjährigem nachgewiesenem, auch „illegalem“, Aufenthalt ihre „Legalisierung“ und einen Aufenthaltstitel beantragen; für andere Staatsangehörige wurde diese Rechtsgarantie unter Sarkozy abgeschafft. Höchste Zeit, diese Vorschrift auch für Algerier zu streichen, meint nun die französische Seite.

Als letzter führender französischer Politiker besuchte Premierminister François Fillon im Juni 2008 Algier, um eine Visite seines Vorgesetzten Präsident Nicolas Sarkozy vorzubereiten. Doch letztere hat nie stattgefunden, obwohl sie für den Lauf des vergangenen Jahres geplant war. Auch ein Besuch des französischen Außenminister Bernard Kouchner, der für Januar angesetzt gewesen war, wurde verschoben. Vor einigen Wochen verlautbarte nun aber, er könnte „im März oder April“ stattfinden. Bislang kam es zu keiner Konkretisierung. Nun droht Kouchner allerdings, in Bälde aus dem Amt geworfen zu werden, falls es zu einer Regierungsumbildung infolge der Niederlage von Sarkozys UMP bei den französischen Regionalparlamentswahlen kommt: Sein Stuhl gilt in jüngster Zeit als „Schleudersitz“. Ein Auswechseln des Ministers dürfte die bilateralen Vorhaben, die Kouchner zusammen mit seinem algerischen Amtskollegen Mouard Medelci knüpfte, zumindest hinauszögern.

Eine der Ursachen dafür liegt darin, dass die algerische Seite sich schlecht behandelt fühlt. Jüngster Anlass dafür: In Algier hat man nicht verdaut, was Frankreichs Innenminister Brice Hortefeux verkündete, nachdem am 25. Dezember 09 der Attentatsversuch eines 23jährigen Nigerianers auf einen Linienflug Amsterdam-Detroit vereitelt worden war: Damals posaunte Hortefeux hinaus, schon seit April 2009 würden die Angehörigen von sieben „Risikostaaten“ auf französischen Flughäfen systematisch verstärkten Kontrollen und Leibesvisitationen unterzogen, was bis dahin nicht offen angekündigt worden war. Das einzige Kriterium dabei ist demnach die Staatsangehörigkeit. Zu den betroffenen Ländern zählen, neben Afghanistan und Pakistan, auch Algerien und sein Nachbarland Mali. Und dies, obwohl die Aktivitäten islamistischer Terroristen in Algerien im Vergleich zum Zeitraum vor 15 Jahren auf einen winzigen Bruchteil zurückgeschraubt werden konnte. Auch wenn einzelne spektakuläre Attentate in dem Land stattfinden, so haben die radikalen Islamisten dort doch schon seit einem Jahrzehnt die Kraftprobe während des Bürgerkriegs (1992 bis 99) verloren.

Unmut über das französische Gesetz zur Kolonialismus-Apologetik

Voraus ging dieser Ankündigung, die im Elysée-Palast und im französischen Außenministerium aufgrund ihres undiplomatischen Charakters für gewisse Verärgerung sorgte, die Debatte rund um das französische Gesetz vom 23. Februar 2005. Dieser Text, der durch den harten Kern der alten Koloniallobby im Parlament durchgedrückt worden war - und dessen brisanter Charakter den übrigen Abgeordneten erst Monate später auffiel, die Sozialdemokratie hatte ihm zunächst sogar zugestimmt und stellte im November desselben Jahres vergeblich einen Rückholantrag auf nochmalige Abstimmung - hat den Umgang mit der nationalen Kolonialgeschichte zum Gegenstand. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0106/t160106.html )

Sein besonders umstrittener Artikel 4 schrieb Lehrkräften und Wissenschaftlern vor, in Forschung und Lehre „die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee und besonders in Nordafrika“ zu betonen. Erst Anfang 2006 ließ Präsident Jacques Chirac den Artikel, nachdem er ihn aus formalen Gründen - weil der Inhalt der schulischen Lehrprogramme nicht Sache des Gesetzgebers sei - für verfassungswidrig hatte erklären lassen, streichen. Zuvor hatte er auch in den französischen „Überseebezirken“ in der Karibik erheblich für böses Blut gesorgt. Besonders in Algerien, wo je nach Angaben zwischen 300.000 und eine Million Menschen - davon weniger als 30.000 auf französischer Seite - im Kolonialkrieg starben, hat man diese Episode nicht vergessen. Der jetzige Gesetzentwurf im algerischen Parlament ist auch eine späte Antwort darauf.

Aber auch die Tatsache, dass Italien - trotz Rechts-Rechts-Regierung mitsamt Präsenz von „Postfaschisten“ im Kabinett - (im Gegensatz zu Frankreich) in jüngster Zeit seine eigenen Kolonialverbrechen in Nordafrika, d.h. im italienischen Falle in Libyen, anerkannt hat, dürfte eine erhebliche Rolle bei den Beweggründen auf algerischer Seite spielen. Tatsächlich hat Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi, im August 2008 anlässlich eines Besuchs im libyschen Benghazi sowie im Juni 2009 in Rom, gegenüber Libyens Staats- bzw. „Revolutionsführer“ Oberst Muammar al-Kaddafi die verbrecherischen Aspekte der Kolonialgeschichte seines Landes offiziell anerkannt. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0908/t290908.html  und http://de.qantara.de ) Italien bezahlt sogar Reparationen dafür, konkret in Form u.a. von Investitionen in den Wohnungsbau in Libyen über einen Zeitraum von 25 Jahren hinweg. Allerdings stehen im Hintergrund dabei auch schmutzige Absichten, bspw. Vereinbarungen über Erdöl- und Erdgaslieferungen, aber auch über die Aufnahme aus Italien (bzw. der EU) abgeschobener und „unerwünschter“ Einwanderer durch Libyen…

Und die Ökonomie ?!

Nicht zuletzt sind aber auch die ökonomischen Beziehungen im Hintergrund angespannt. Frankreich ist nach wie vor der erste Lieferant Algeriens bei dessen Importen, wenngleich es seine Rolle als größter Kunde für algerische Exporte schon 1990 an Italien verlor. Doch seine bislang noch relativ führende ökonomische Position in dem nordafrikanischen Land befindet sich im Abbröckeln. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass Frankreich zwar Algerien als Rohstofflieferanten und aufnahmefähigen Absatzmarkt betrachtete, aber nicht als Ort für Investitionen ernst nahm. Dafür war die politische Instabilität in den neunziger Jahre zeitweise ursächlich, doch ist diese Phase längst vorüber. Auch die besseren Bedingungen in Marokko und Tunesien, die anders als Algerien nach der Unabhängigkeit keine staatssozialistische Phase durchlaufen haben, und die Arroganz der Franzosen gerade gegenüber ihrer besonders „frechen“ Ex-Kolonie Algerien trugen dazu bei. Ähnlich wie anderswo auf dem afrikanischen Kontinent sind auch hier die Chinesen schwer im Kommen. Im Vorjahr war China bereits der zweigrößte Lieferant Algeriens mit einem Marktanteil von 12 Prozent, gegenüber 16 Prozent für Frankreich - das aber seit 1992 die Hälfte seines vorherigen prozentualen Anteils eingebüßt hat.

In Bälde dürfte China nun die Franzosen überholen, sofern die Franzosen nicht ihre Orientierung schnell ändern. Auch die politische Entwicklung dürfte dabei eine Rolle spielen.

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.