Peter Trotzig
Kommentare zum Zeitgeschehen

Ideologische und wissenschaftliche Begriffe. Womit arbeiten wir?

04/10

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Beispiel „Eurozentrismus“

In Wikipedia steht folgende Definition des Eurozentrismus:
“Unter Eurozentrismus versteht man die Beurteilung außereuropäischer Kulturkreise nach europäischen (westlichen) Vorstellungen auf der Grundlage der in Europa entwickelten Werte und Normen. Eurozentrismus ist somit eine Einstellung, die Europa unhinterfragt in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stellt.“

„Europa“ ist ein geographischer Begriff und kein sozialer. Was mit dem Begriff „Eurozentrismus“ aber ausgesagt werden soll ist eine bestimmte soziale Sichtweise der Verhältnisse auf dieser Erde. Diese Sichtweise ist eine bürgerlich-kapitalistische Sichtweise, die in Europa entstanden ist, hier ihre sozialen Wurzeln im „Kapitalismus“ hat. Dass diese Verhältnisse und diese Sichtweise in Europa und nicht in Asien oder Afrika etc. entstanden ist, ist eine „historische Fundsache“, in der Sprache der Regulationstheorie ausgedrückt. Will sagen, die Verhältnisse und die entsprechende Sichtweise hätten grundsätzlich auch in Asien entstehen können, weil der geographische Begriff „Asien“ kapitalistische Entwicklung und bürgerliche Ideologie nicht ausschließt. (Das schon mal rein begriffslogisch)

Das Geographische ist nicht kennzeichnend, nicht wesentlich. Wesentlich ist das Soziale. Vereinfacht ausgedrückt: auf der Suche nach Gold und anderen Reichtümern unterwarfen Europäer die Welt, und das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit konnte sich nur behaupten auf Basis einer tatsächlichen z.B. waffentechnischen Überlegenheit, letztlich einer „sozialen Überlegenheit“, die sich in besonderer Aggressivität, besonderer Heimtücke etc. ausdrückte. Kennzeichnend an dieser in entscheidenden Dingen auch technischen Überlegenheit war und ist die soziale Charakteristik und Aggressivität des Kapitals.

Die Erfolge bei der Unterwerfung bestärkten die in aggressiver Absicht der Unterwerfung und Eroberung aufgebrochenen Europäer in dem Bewusstsein ihrer Überlegenheit, bestärkten rassistisches Denken etc. Der Aufbruch und die Aggressivität ist aber nur Ausdruck der sich entwickelnden Geldwirtschaft und des aufkommenden Kapitals, auch wenn sich dieser Aufbruch und diese Aggressivität auf Ideologien stützt, die bereits unter vorkapitalistischen Verhältnissen entwickelt wurden. Das Kapital entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern unter ganz konkreten historisch vorgefundenen Bedingungen, die in allen Ländern ihre Besonderheiten aufweisen. Diese je historischen Besonderheiten besagen aber nichts über die wesentliche soziale Qualität.

Der Begriff des „Eurozentrismus“ verschleiert die wirklichen Triebkräfte und Ursachen von kapitalistischer Expansion und Unterwerfung und entsprechender Sichtweisen auf Völker, in denen sich die sozialen Verhältnisse nicht soweit in eine bürgerliche Richtung entwickelt hatten und haben. Der „Eurozentrismus“ ist in Wirklichkeit eine „Kapitalzentrismus“, der sich eben in bestimmten Sichtweisen nicht nur auf die Klassen in den bereits kapitalistisch entwickelten Gesellschaften, sondern auch auf die Völker der Welt ausdrückt. Völker, die das Kapitalverhältnis nicht soweit entwickelt haben, werden eben als unfähig, minderwertig, weniger fortschrittlich und entwickelt angesehen, wie die „eigene“ Arbeiterklasse als minderwertig angesehen wird, weil sie es nicht zu privatem Reichtum bringt. (Die Arbeiter selbst sehen sich als minderwertig an, weshalb sich niemand gern als Arbeiter bezeichnet.) Die Überlegenheitsvorstellung und „Ichbezogenheit“ der Europäer ist eine Überlegenheit und Ichbezogenheit der Geldwirtschaft und des Kapitals, seiner Selbstreflexivität. Das macht die besondere soziale Qualität des „europäischen“ Rassismus, Nationalismus etc. aus, der übrigens in den USA oder Japan nicht wesentlich anders aussieht. (Gehören auch die USA und Japan zu Europa oder warum blicken die Leute dort in gleicher Weise auf die Völker der Welt? Japan hatte den „Eurozentrismus“ vor seinem Überfall auf China und Pearl Harbour zu besonderer Blüte entfaltet. Ein Rassismus, eine Verachtung anderer Völker, eine „japanzentrierte“ Sichtweise, die ihresgleichen suchte.)

Wenn hier der Begriff der Nation eingeführt wird, dann müsste auch der in seiner sozialen Qualität entwickelt werden. Die Nation ist ihrer sozialen Qualität nach zunächst ein geographischer, kultureller Raum, in dem sich ein innerer Markt für die Kapitalakkumulation entwickelt. Ohne einen solchen inneren, geschützten Markt keine Akkumulation von Kapital (historisch betrachtet) und daher auch keine Expansion von Kapital. Diese Expansion folgt einer ökonomischen Logik, beschränkt sich aber nicht auf „ökonomisch-friedliche“ Maßnahmen des Handels. Sie muss sich ausdrücken in politischer Gewalt, wo sie auf Schranken stößt, die nicht auf rein ökonomische Weise niedergerissen werden können. Das Kapital entwickelt eine aggressive imperialistische Tendenz. usw.

Die Borniertheit und rassistische Aggressivität, das Überlegenheitsgefühl von Europäern kann ebensowenig mit dem Begriff des „Eurozentrismus“ erfasst und charakterisiert werden, wie die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Begriff „europäische Entwicklung“ zu fassen wäre. Die Wurzeln des Kapitalismus liegen in der Entwicklung der vorkapitalistischen Gesellschaften. Dass deren Auflösung in Europa am weitesten fortgeschritten war und dass hier die Voraussetzung für kapitalistische Entwicklung am weitesten gediehen waren, ist „historische Fundsache“, in der sich keinerlei soziale Entwicklungsgesetzlichkeit ausdrückt, die man mit dem Begriff „europäisch“ erfassen könnte.

Ich bin Geiste des „ländlichen Idiotismus“ (Marx) unter ganz bornierten Bedingungen groß geworden, aber ich verfolge heute, soweit ich kann, die Entwicklung in der Welt und leide und freue mich mit den Menschen in anderen Ländern. Ich freue mich wahnsinnig, dass die Venezulaner sich einen Scheißdreck um „postkommunistische“ linke Staatskritik kümmern, und die Staatsmacht nutzen, um die Gesellschaft in ihrem Interesse zu verbessern, das Elend wenigstens ein Stück weit zu lindern. (Von den Venezulanern und Bolivianern, auch den Argentiniern, können wir einiges lernen! Da sollte man sich drum kümmern! Überhaupt die Entwicklung in Südamerika aufmerksam verfolgen.) Ich freue mich wahnsinnig, wenn es den Buschmännern in Afrika gelingt, ihre Vertreibung rückgängig zu machen, und den „Diamantenjägern“ ein Schnippchen zu schlagen usw. Auch China hat da seinen Platz, übrigens unabhängig davon, wie wichtig die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft für die Entwicklung der Gesellschaft hier ist. Es interessiert mich im Interesse der Chinesen, unter dem Gesichtspunkt der internationalen Solidarität. Für die chinesische Bevölkerung sehe ich da aber im Moment ganz schön schwarz, trotz oder gerade wegen all des kapitalistischen Wachstums und der stattlichen Anzahl an „Gewinnern“, die große genug sein dürfte, um das Kapitalverhältnis fest zu installieren. Bin gespannt, wann und mit welchem „Paukenschlag“ der „normale“ kapitalistische Zyklus sich übermächtig zu Wort meldet. Da steht ordentlich Kapitalismus ins Haus, eine momentan unaufhaltsame Entwicklung!

Die Bedeutung der Entwicklung in China ergibt sich für mich nicht erst daraus und nicht primär daraus, dass sie unter ökonomisch-sozialen Gesichtspunkten für die hiesige Entwicklung wichtig ist. Die „eigene Betroffenheit“ ist aus meiner Sicht unzureichender Leitfaden für kommunistisches Denken und wissenschaftlich-theoretische Kritik. Mir hat die Beschäftigung mit der allgemeinen Kapitaltheorie von Marx (zu mehr ist er nicht gekommen) den „ländlichen Idiotismus“ ausgetrieben (siehe meinen Anfang zum „Eurozentrismus“) und einen anderen Blick auf die Welt eröffnet. Nicht die Tatsache, dass uns die Entwicklung in anderen Ländern betrifft, sondern, dass das Kapital alle Völker betrifft und überall die gleichen Prozesse anstößt und auslöst, lässt mich die weltweiten Entwicklungen in meinen engen Grenzen verfolgen. Daher ist bzw. wird es grundsätzlich möglich eine weltweite gemeinsame Bewegung gegen das Kapital zu entwickeln, im Geiste der internationalen Solidarität.

Es geht immer wie bereits mehrfach betont darum, wie die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Kapitals sich durchsetzen, und nicht ob. (Sieh z.B. meinen Artikel „Linke Kritik und Kritik der Politischen Ökonomie“) Das hat nichts mit einer fertigen „Weltformel“ zu tun, sondern aus meiner Sicht mit wissenschaftlich begründeter Erkenntnis. Der Prozess der Durchsetzung ist ungeheuer zerstörerisch (und nur in diesem negativen Sinne spannend) und produziert immer wieder neue widersprüchliche Formen, je nach den gegebenen Umständen des Landes, nach dem das Kapital greift. Die Untersuchung und Verfolgung dieses Prozesses unter der genannten Prämisse kann natürlich nur der machen, der sich mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten auseinandergesetzt und sie verstanden hat. (Nur so jemand könnte die allgemeine Kapitaltheorie auch als falsch zurückweisen. Die meisten Kritiker haben das „Kapital“ nicht einmal verstanden! Wie sollte da eine richtige Kritik zustande kommen? Heinrichs Arbeiten sind ein gutes Beispiel für Kritik, die auf Verständnis beruht, womit man sich ernsthaft auseinandersetzen muss. Aber sonst? Das meiste ist so flach und dumm, dass es mich graust.) Für andere Menschen mag das absurd und dogmatisch erscheinen. Wer meint, das alles sei Humbug und man solle sich die Frage des „ob“ stellen, auf dessen Kritik des „Kapitals“ von Marx warte ich. Bisher hat sich das jedenfalls aus meiner Sicht glänzend bewehrt.

Abschließend:

Die Kritik am so genannten „Eurozentrismus“ ist für mich auch so eine moderne linke Marotte, die bestenfalls in moralische Appelle einmünden kann, aber kaum zum Verständnis von Ursachen beitragen kann und damit auch keine Ansatzpunkte zu formulieren vermag, wie man aus der ganzen Scheiße rauskommt. Das geht alles buchstäblich ins Leere und liefert keinerlei Grundlage für Verständigung über klare Forderungen und Ziele. Aber diese Leere ist ja der Nährboden für die heute so geliebte neue „Unbestimmtheit“ und Vielfalt, die alles zur Meinungs- und Einschätzungfrage macht. Sich ein bisschen hier bedienen, sich ein bisschen da bedienen. Irgendeine Politik kann man damit machen, Ursachenbestimmung im Sinne der Kritik der Politischen Ökonomie und darauf gegründete Politik nicht.

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.