Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich nach den Regionalparlamentswahlen
Die Strategie Nicolas Sarkozys liegt in Stücken“ - Eine vorläufige Auswertung

04/10

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Was ist der Unterschied zwischen Nicolas Sarkozy und José Maria Aznar? Es gibt mindestens einen, und er hat mit der baskischen ETA zu tun. Im März 2004, drei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen, explodierten Bomben in Madrid und töteten 191 Menschen. Aznar hätte gar zu gerne gesehen, dass es die ETA gewesen wäre. Pech für ihn: Die Täter waren Islamisten. Aznar verlor die Wahl (u.a. weil die Stimmbürger/innen auf diese Weise seine Lüge über die Schuld der ETA honorierten, indem sie für die damalige Opposition stimmten). Im März 2010, in der Woche zwischen den beiden Durchgängen der französischen Regionalparlamentswahlen vom 14. und 21. März, töteten Schüssen einen Polizeibeamten - einen Karibikfranzosen - in einem Pariser Vorort, Dammarie-les-Lys. Sarkozy hätte gar zu gerne gesehen, dass es Islamisten gewesen wären. Oder wahlweise auch gerne Kriminelle aus den Sozialghettos französischer Trabantenstädte?! Pech für ihn: Die Täter waren von der ETA. Und den Franzosen ist die ETA relativ egal. Sarkozys Regierungspartei UMP verlor die Wahlen haushoch.

Dieses schlechte Timing des Schusswaffeneinsatzes durch ein ETA-Kommando - dessen Mitglieder am 16. März durch die Polizeibeamten beim Autodiebstahl gestört worden waren, als es ihnen darum ging, Fahrzeuge für Attentate in Spanien zu entwenden - war natürlich nicht der einzige Grund dafür, dass Sarkozys Parteifreunde jetzt nur noch das Elsass (und zwei Überseeregionen) regieren. Aber einer der Hauptgründe dafür ist, dass sich das Erfolgsrezept, soziale Verunsicherung und Zukunftsangst durch eine „Sicherheits“rhetorik - die Zukunftsperspektiven durch das Versprechen auf ‚Law and Order’ ersetzt - ruhig zu stellen, abgenutzt hat. Nicolas Sarkozy hat mit ihr die Präsidentschaftswahl 2007 gewonnen und dem rechtsextremen Front National einen Gutteil seiner Wähler abgenommen. 2010 funktioniert das nicht mehr. Nach dem Tod des Polizisten erschienen Sarkozys martialische Sicherheitssprüche als „Vereinnahmung“. Eine der Ursachen dafür, dass die Masche nicht mehr zieht, liegt in den Widersprüchen zwischen autoritärem Populismus und neoliberaler Politik, die auf radikale Reduzierung der Staatsausgaben zielt. Als Sarkozy im Jahr 2002 Innenminister wurde, stellte der Staat 13.000 zusätzliche Polizisten und Gendarmen ein. Über 75 Prozent der Stellen (lt. ‚Le Monde’ vom 26. März) wurden inzwischen wieder abgebaut: Sparzwang verpflichtet. Und die Verrohung in Teilen der Gesellschaft hat auch nicht abgenommen.

Was die unter den Sicherheitsdiskurs gemixte Einwandererhetze betrifft, so ziehen die Wähler inzwischen das „Original“ FN wieder vor (vgl. dazu nebenstehenden Artikel). Und auch auf sozialer Ebene hielt Sarkozy nicht, was eine rechts ausgerichtete Wählerschaft sich von ihm versprach. Keine Lohnerhöhungen stellte der konservative Kandidat 2007 in Aussicht, wohl aber mehr Geld am Monatsende durch viele Überstundenzuschläge: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ (Travailler plus pour gagner plus). Das ist ohnehin widersprüchlich, da Überstunden für höhere Arbeitslosigkeit durch Nichteinstellung sorgen. Aber vor allem: Überstunden werden nur auf Abruf der Unternehmen hin verrichtet, nicht auf Verlangen der abhängig Beschäftigten. In Krisenzeiten ist es vorläufig aus damit.

Dass in den letzten Tagen Nicolas Sarkozys eigener Vater - Pàl Sarkozy - und seine Ehefrau Carla ihm von einer erneuten Kandidatur zur Präsidentschaftswahl im Jahr 2012 abrieten, ist ein Indiz: Sie spüren die drohende Niederlage. Manche Stimmen, auch innerhalb der UMP, aber nicht nur dort, halten derzeit sogar eine Stichwahl 2012 zwischen der Sozialistin Martine Aubry und der smarten Neofaschistin Marine Le Pen für möglich. (Vgl. u.a. in ,Le Monde’ vom 25. 03., folgenden Bericht über eine Krisensitzung der UMP-Fraktion in der Nationalversammlung: http://abonnes.lemonde.fr)

Die soziale Enttäuschung begünstigt die Stimmabgabe für die sozialdemokratische Opposition, das frustrierte autoritäre Element tendiert - erneut - zu einer Radikalisierung nach rechtsaußen. Auch der Bürgerblock zeigt, unter diesem Druck zentrifugaler Tendenzen innerhalb seiner Wählerschaft von 2007 stehend, sichtbare Risse. Viele konservative Aktivisten und sogar Abgeordnete erklären nun offen, von Nicolas Sarkozy, seiner Arroganz, seinem Schicki-Micki-Gehabe (französisch: ,bling-bling’), seinen machtpolitischen Spielchen „die Schnauze voll“ zu haben, und flüchten sich unter die Fittiche der „Vertreter von Sachpolitik“ in ihren Reihen. (Vgl. etwa http://abonnes.lemonde.fr)

Ihren Unmut zeigten die UMP-Abgeordneten, die sich u.a. auch an Sarkozys grokoalitionärer „Öffnungs“politik - ,L’Ouverture’ – durch Einspannen früherer sozialdemokratischer Spitzenpolitiker für hohe Posten stören und sich selbst bei deren Vergabe durch den Monarchen übergangen fühlen, Sarkozy am 23. März: An diesem Tag zwangen sie ihn zur Aufgabe der zum 1. Juli 2010 geplanten Ökosteuer auf CO2-Emissionen, die zwar auf einem höchst merkwürdigen „Kompromiss“ beruhte (die gröten CO2-Emittenten in Gestalt umweltverschmutzender Industrien wären von der Steuer ausgenommen worden; lohnabhängige Pendler/innen hingegen sollten zahlen, doch einen vage bleibenden „sozialen Ausgleich“ bekommen), aber Sarkozy dennoch zur Entwicklung einer Ausstrahlung auf Grünwähler – oder ihren eher bürgerlichen Teil - dienen sollte. „Genug mit dem Öko-Schnickschnack und den Geschenken an Linke und linksliberale Yuppies“, befanden nun die strammen UMP-Abgeordneten in ihrer Mehrheit. Getrieben vom Unmut der konservativen Parlamentarier, verkündete François Fillon am Dienstag Mittag, 23. März, dass diese Weichenstellung des Elysée-Palasts – zugunsten der Ökosteuer, französisch ‚taxe-carbone’ – aufgegeben bzw. „auf unbestimmte Zeit (und bis zu einer höchst unwahrscheinlichen „Einigung auf EU-Ebene“ darüber) „verschoben“ worden sei. Diese Entscheidung ist allerdings durchaus populär, 57 % der befragten Französinnen und Franzosen begrüßten Umfragen zufolge das Kippen der Ökosteuer (in ihrer bislang geplanten Form jedenfalls). Die Staatssekretärin für Ökologie, Chantal Jouannau, erklärte sich darauf zwar öffentlich „verzweifelt“, wurde jedoch durch Nicolas Sarkozy - der in Brüssel vor die Mikrophone trat - angekoffert: „Ein Minister hat nicht verzweifelt zu sein. Ein Minister hat seine Arbeit zu verrichten.“

Sarkozy seinerseits rächte sich an seinem Premierminister, indem er ihm einen Auftritt in den Abendnachrichten des gröten Fernsehsenders TF1 untersagte, wie ,Le Monde’ zwei Tage später (in ihrer Ausgabe vom Donnerstag Nachmittag) enthüllte. Dieses Verbot sollte verhindern, dass Fillon als hierarchisch Untergebener zu sehr Sarkozs Kontrolle entgleitet.

Doch schon im Vorfeld der Regionalparlamentswahlen war die Stimmung bei der Regierungspartei UMP, wo man – in Teilen von ihr – den Schlamassel kommen sah, seit spätestens Anfang Februar d.J. eher mies und verdorben. Anlässlich der Aufstellung der Listen zur Regionalparlamentswahl stimmten am 30. Januar d.J. nur rund 60 Prozent der Delegierten bei einer nationalen Zusammenkunft im Pariser Schwimmbad Aquaboulevard für die vorgeschlagenen Kandidatenlisten (vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ ). Voraus ging das Auftauchen neuer Spaltungslinien innerhalb des Bürgerblocks, infolge des gerichtlichen Freispruchs für Ex-Premierminister de Villepin vom 28. 01. 2010, der dadurch seine politische Karriere vorläufig gerettet sah.

Im eigenen, bürgerlichen Lager tritt Sarkozys Erzrivale Dominique de Villepin nun mit einer neuen, eigenen Partei gegenüber, deren Gründung - ihr offizielles Datum ist auf den 19. Juni 10 angesetzt - am Donnerstag, 25. März durch ihren künftigen Chef angekündigt wurde. Ihr Name steht noch nicht fest, oder ist jedenfalls dem Publikum noch nicht bekannt. Bereits nach seinem spektakulären Freispruch in der ,Clearmstream-Affaire’ (einem Bespitzelungsskandal aus den Jahren 2004/05, in dem der frühere Innenminister Nicolas Sarkozy gegen seinen früheren Ministerkollegen Dominique de Villepin Strafanzeige erstattet hatte; de Villepin wurde jedoch am 28. Januar 10 freigesprochen, die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt) war Dominique de Villepin vor die Mikrophone und Kameras getreten und hatte eine systematische Kritik an der Politik Sarkozys geübt. Bereits damals hatte er erkennbar eigene politische Ambitionen, auf höchster Ebene, angemeldet. Die Schauspielertruppe ,Action Discrète’, die bei einer Satiresendung auf einem französischen Privatfernsehsender mitwirkt, ging darauf ein Tuch mit einem Konterfei Dominique de Villepins und der Aufschrift „Der Retter naht“ am Pariser Parteisitz der UMP befestigen. Es hing nicht lange dort, sondern wurde sofort durch Wachpersonal abgerissen. Doch die lustige Idee hatte noch weitere Folgen. Denn kurzzeitig konnte man danach im Internet Aufnahmen bewundern, die von UMP-Kadern ins Internet gestellt worden waren: Auf ihnen sieht man Mitglieder, die eifrig damit beschäftigt sind, das abgerissene Konterfei „des Retters“ mit Füen zu treten und zu traktieren. Echter hass scheint also, unter bisherigen „Parteifreunden“ ausgebrochen. Die Bilder standen zwar nicht lange im Netz, sondern wurden alsbald gelöscht, hatten aber dank Twitter schon längst die Runde gemacht... - Zu den Hintergründen der so gnannten Clearstream-Affäre vgl. übrigens http://www.trend.infopartisan.net/trd0506/t340506.html

Und die Inhalte? De Villepin kritisiert den Amtsinhaber mal von einer moderateren - mit Kritik an dessen Ausländerhetze und der Regierungskampagne unter dem Titel „Debatte zur nationalen Identität“ -, mal von einer härteren Position aus; im letzteren Falle mittels Kritik am ausgebliebenen Kippen des Kündigungsschutzes. (Nachdem der frühere Premierminister de Villepin dies in den Jahren 2005/06 als damaliger Regierungschef mit den Sonder-Arbeitsverträgen CNE und CPE aktiv versucht hatte, die jedoch durch breite soziale Proteste gestoppt wurden.) So weit jedenfalls seine Auslassungen anlässlich seines Auftritts vor der Presse von Ende Januar dieses Jahres. An diesem Donnerstag, 25. März, an dem Dominique de Villepin seine künftige neue Partei im ,Club de la Presse’ vor einem Wald von Mikrophonen und Kameras ankündigte, wählte er jedoch eher den Angriffswinkel von einer „sozialer“ erscheinenden Position aus. An diesem Tag kritisierte er Sarkozy für die 2007 erfolgte (und inzwischen, unter den Bedingungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, ziemlich unpopulär gewordene) Absenkung des Spitzensteuersatzes – den so genannten ,bouclier fiscal’ oder „steuerlichen Schutzschild“, der Schwerreichen eine maximale Obergrenze für sämtliche Steuer und Abgaben zusammengerechnet garantiert -, forderte mehr Steuergerechtigkeit, eine höhere Besteuerung für Grounternehmen, und kritisierte den rabiaten Stellenabbau in den öffentlichen Diensten. Generell prangerte er Sarkozys Politik mit den Worten an: „Man kann nicht akzeptieren, in einem Land zu leben, in dem Ungleichheit und Ungerechtigkeit ein solches Niveau erreicht haben.“ (Vgl. ,Le Monde’ vom 27. März)

Taktisches Opponieren also, wie es eben kommt oder erforderlich ist. Aber der Feind aus den eigenen Reihen könnte Sarkozys Lager endgültig die Chancen auf einen künftigen Wahlsieg kosten. Nicolas Sarkozy hat nun versucht, diese „Bedrohung“ zu neutralisieren, indem er einen Anhänger Dominique de Villepins – den bürgerlichen Abgeordneten Georges Tron – bei der Mini-Kabinettsumbildung vom 22. März zum Staatssekretär für den öffentlichen Dienst ernannte. Auf diese Weisen sollten „die Villepinisten“ ins Kabinett gehoben und dadurch eingebunden werden. Doch Dominique de Villepin wird sich dadurch keineswegs gebunden fühlen, und seine politischen Ambitionen sind dadurch keinesfalls ausgeschaltet.

Ein Rückblick auf die Regionalparlamentswahl

Die Strategie Nicolas Sarkozys liegt in Stücken“, wetterte der smarte Anwalt und sozialdemokratische Politiker Arnaud Montebourg am Abend des ersten Wahlgangs der Regionalparlamentswahlen (14. März) in die Fernsehkameras. Und löste damit einen Wutanfall des Parteisprechers der rechtslastigen Regierungspartei UMP, Frédéric Lefebvre, der auch als persönliches Sprachrohr Sarkozys und nach Worten mancher Kritiker als dessen „Pitbull“ gilt, aus. Ihm zufolge gehörte diese Analyse „nicht hierher“, weil an jenem Sonntag schließlich nur über Regionalparlamente und nicht über die nationale Politik abgestimmt worden sei.

Die Grenze zwischen beiden ist freilich dünn: Wie in Frankreich als noch immer - wenngleich weniger als noch vor 30 Jahren - relativ zentralisiertem Staat üblich, stimmten alle 22 europäischen und vier Übersee-Regionen gleichzeitig am selben Tag ab. Und zwanzig Minister im Kabinett unter Präsident Sarkozy und seinem Premierminister François Fillon traten als Kandidaten an, um zu versuchen, einige Regionen für die konservativ-wirtschaftsliberale Rechte zurückzuerobern. Die meisten dieser Regionen, mit Ausnahme des Elsass und Korsikas, waren bereits bei der letzten Regionalparlamentswahl im März 2004 an die Sozialdemokraten gegangen. Auch Korsika fiel nun an die rosafarbene Partei. Alle zwanzig Minister, die in den Regionen angetreten waren, wurden bei den Regionalparlamentswahlen geschlagen. (Nur) Einer von ihnen, der bisherige Arbeits- und Sozialminister Xavier Darcos, wurde dafür vom obersten Boss stellvertretend abgestraft: Bei der Mini-Regierungsumbildung, die Präsident Sarkozy am Montag, 22. März vornahm, flog er aus dem Kabinett. Xavier Darcos hatte als UMP-Kandidat zur Regionalparlamentswahl in der Südwestregion um Bordeaux (L’Aquitaine) eines der schlechtesten Ergebnisse für die Regierungspartei eingefahren. Sein Nachfolger im Arbeitsministerium wurde Eric Woerth, ein eisenharter Sparzwangprophet und Reaktionär aus einer katholisch-monarchistischen Familie.

Auch Premierminister Fillon selbst hielt vor den Regionalparlamentswahlen höchstpersönlich Wahlveranstaltungen ab. Doch er kann freilich (neben seiner Popularität in den Reihen der Regierungspartei UMP, die ihn als „seriösen Sachpolitiker“ gegen den nervösen und machthungrigen Sarkozy hoch hält) auch noch auf ein persönliches Hoch seiner Sympathiewerte in der öffentlichen Meinung - laut Umfragen – bauen. Und hat insofern ein „Polster“: Da der machthungrige Nicolas Sarkozy ihn kaum regieren, sondern wie einen Butler im Hôtel Matignon (Amtssitz des französischen Premiereminister) aussehen lässt und unbedingt in alle Angelegenheit höchstpersönlich hineinpfuschen möchte, wird François Fillon durch die Wählerschaft kaum für die antisozialen Aspekte der Regierungspolitik verantwortlich gemacht. Bis vor kurzem hielt er sich sogar noch bei über 50 Prozent positiver Stimmungswerte im Meinungsbarometer, am letzten Wochenende im März fiel er nun allerdings auf 49 %.

Der Unmut über die antisoziale Regierungspolitik bleibt überwiegend Sarkozy direkt hängen; er wies am Wochenende des 27./28. März nur noch 30 Prozent positive Sympathiewerte, gegenüber 65 % negativen Einstellungen, in einer zuletzt publizierten Umfrage auf. Dieser hatte im Vorfeld der Regionalparlamentswahlen formell angegeben, diese Wahl gehe ihn nichts an, und danach - so verkündete er es noch in der Woche vor dem ersten Durchgang - werde er genau so weitermachen wie bisher. Auch eine Regierungsumbildung werde er nicht vornehmen (tatsächlich hat nun am 22. 03. eine winzigkleine Umbildung stattgefunden). Und an der eingeschlagenen Politik wolle er ohnehin nichts ändern, bevor er, so verkündete er es in einem groen Interview mit dem ,Figaro-Magazine’ vom 05.-07. März 10, „zum Jahresende 2011“ dann eine „Pause bei den Reformen“ einlegen wolle. Also nachdem die allgemein erwartete, sozial regressive Reform bei den Renten - mit einer weiteren Anhebung der gesetzlich vorgesehenen und für einen vollen Pensionssatz erforderlichen Beitragsjahre (derzeit 40), und eventuell auch des Renteneintrittsalters (derzeit zwischen 60 minimal und 70 maximal) - in diesem Jahr durchgedrückt sein wird, und wenige Monate vor der nächsten Präsidentschaftswahl, deren erste Runde planmäig im April 2012 stattfinden wird. Dennoch fiel Beobachtern auf, dass Sarkozy bei vielen Besuchen der letzten Wochen, etwa fünf Tage vor dem ersten Wahlgang in zwei Städten im ostfranzösischen Jura: Pontarlier und Morteau, auftrat wie ein Kandidat und die Säle mit UMP-Parteimitgliedern gefüllt worden waren. (In beiden Städten erhielt die UMP übrigens ein besonders niederschmetterndes Wahlergebnis, vgl. dazu ausführlich ,Le Canard enchaîné’ vom 24. März.)

Ein paar Zahlen

Bei knapp 27 Prozent der Stimmen für die UMP - gegenüber mehr als 29 Prozent für die Sozialdemokratie, zu denen gut 13 Prozent für die Grünen und 5,9 Prozent für die „Linksfront“ (französische KP plus eine Abspaltung von der französischen Sozialdemokratie unter Jean-Luc Mélenchon) hinzuzählen waren - im ersten Wahlgang war die bürgerlich-konservative Wählerbasis vor der Stichwahl kaum noch erweiterbar. Tatsächlich konnte die bürgerliche Rechte im zweiten Wahlgang, und obwohl ihre Konkurrenz auf der extremen Rechten in 10 von 22 Regionen des europäischen Festland-Frankreich nicht in die Stichwahlen einziehen konnte (vgl. dazu nebenstehenden Artikel), auch nur auf 37 Prozent kommen. Die Sozialdemokratie, Grüne und KP/„Linksfront“ hingegen erhielten zusammen, im frankreichweiten Durchschnitt, über 55 Prozent. Dies ist das höchste Wahlergebnis für die etablierten Linksparteien in Frankreich seit dem Mai 1981, also jener Präsidentschaftswahl, bei der François Mitterrand ins Amt gewählt wurde. Die Krise der parteiförmig organisierten radikalen Linken, und insbesondere die Schwäche des ,Nouveau Parti Anticapitaliste’ (NPA), der - entgegen überzogenen Erwartungen vor einem Jahr - einen Absturz erlebte und bei diesen Wahlen nur 2,4 % im Durchschnitt erhielt, trug dazu sicherlich auch noch bei. (Zum NPA und der radikalen Linken folgt demnächst an dieser Stelle ein eigener, ausführlicher Artikel.)

Ferner sollte noch die hohe Wahlenthaltung - 53,6 % im ersten und 49 Prozent im zweiten Durchgang der Regionalparlamentswahl -, infolge eines relativ unmotivierenden Wahlkampfs ohne wirkliche Höhepunkte, Erwähnung finden. Entscheidend scheint dafür insbesondere zu sein, dass in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise (und, in den Augen vieler Wähler/innen, relativ dramatischer Bedrohungen auf sozialer Ebene) zwar die Erwartungshaltung hoch ist, doch die Regionen als zu machtlos im französischen Staatsgefüge erschienen, um einen Gang an die Wahlurne zu rechtfertigen. Auch besteht, natürlich, eine echte Repräsentations- und „Vertrauens“krise gegenüber der bürgerlichen Politik. In besonders verarmten Trabantenstädten urbaner Zentren wie bspw. Clichy-sous-Bois, Montfermeil oder Sarcelles (rund um Paris) oder Vaulx-en-Velin (in der Nähe von Lyon), aber auch in der von sozialen Unterklassen bewohnten Stadt Roubaix im früheren Industrierevier rund um Lille überschritt die Stimmenthaltung die Zwei-Drittel-Grenze. Dies bedeutet, dass in den von Armut gebeutelten Stadtteilen bis zu 80 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen französischen Staatsangehörigen nicht zur Urne gingen. Die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ zieht daraus den Schluss, ganze Wohnviertel seien auf diese Weise vom Wahlsystem „abgehängt“. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr oder http://abonnes.lemonde.fr) Das fehlende Vertrauen in die Änderungsmöglichkeiten durch Stimmabgabe werden dort allerdings nicht durch revolutionäre Bestrebungen, sondern derzeit vor allem durch ein politisch-ideologisches Vakuum ersetzt. Sofern dieses Vakuum nicht, bisweilen und an den (minoritären) Rändern der dortigen Gesellschaft, durch kulturalistische Ideologien aufgefüllt wird.

Rechtes Wählerpublikum läuft auseinander - in unterschiedliche Richtungen, zum Teil nach weiter rechts

Wenn Sarkozy an den beiden Wahlsonntagen strategisch gescheitert ist - wie nicht nur Arnaud Montebourg es vertritt - dann in erster Linie deshalb, weil er es nicht länger vermocht hat, die rechtsextremen Wähler an seine UMP zu binden. Letztere hatte er in den Wahlkämpfen von 2006/07 noch in größerer Zahl dem Front National (FN) abwerben können, unter anderem indem er klare Signale setzte - so hatte Sarkozy damals fast wörtlich, in sehr schwacher Abwandlung, den rechtsextremen Slogan „Frankreich, liebe es oder verlasse es“ übernommen. Dies bildete eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Aufstieg der ‚droite décomplexée’, der „von ihren Komplexen befreiten“ und „wieder selbstbewusst gewordenen“ Rechten, die Sarkozy erklärtermaßen verkörpern wollte. Die zweite Bedingung für seinen Erfolg bestand darin, dass Sarkozy es geschafft, eine einheitliche politische Kraft aus einem Teil der Christdemokraten - deren anderer Flügel folgte dem Mitte-Rechts-Oppositionspolitiker François Bayrou -, den Wirtschaftsliberalen und zum Teil weit rechts stehenden Nationalkonservativen und Rechtskatholiken zu schmieden. Den Rahmen dazu bot ihm die 2002 unter seinem Amtsvorgänger Jacques Chirac geschmiedete und als Einheitspartei der bürgerlichen Rechten - die zuvor seit drei Jahrzehnten in Neogaullisten (RPR) und ein Konglomerat aus Liberalen und Christdemokraten (UDF) aufgespaltet war - konzipierte UMP. Sarkozy vermochte es, diese neue Einheitspartei der bürgerlichen Rechten mit starker Hand zusammenzuhalten und noch um weitere Strömungen zu erweitern.

Die zweitgenannte Voraussetzung für Sarkozys früheren Erfolg existiert nach wie vor. Auf dieser Ebene steht es sogar besser denn je für ihn, denn das von Bayrou angeführte MoDem (Bewegung der Demokraten), dessen Kandidat noch bei der Präsidentschaftswahl vor drei Jahren - als moderatere bürgerliche Alternative zu Sarkozy - überraschend hoch abschnitt, ist nun weitgehend implodiert. Erhielt François Bayrou damals noch über 18 Prozent der Stimmen auf seinen Namen, so zogen die Listen des MoDem im ersten Wahlgang bei den Regionalparlamentswahlen nur noch vier Prozent der Wähler an. Doch was wie ein Vorteil für Sarkozys UMP erscheinen könnte, dürfte sich eher als Nachteil entpuppen: Die nicht-faschistische Rechte ist derart stark hinter Sarkozy vereinigt, von der so genannten „Modernen Linken“ des elsässischen Politikers und derzeitigen Staatssekretärs für Gefängniswesen, Jean-Marie Bockel - eine Rechtsabspaltung von der Sozialdemokratie - bis hin zu den reaktionären Rechtskatholiken unter Philippe de Villiers, dass es keine Stimmreserven für den zweiten Wahlgang mehr gibt.

Bleibt die erste Voraussetzung für die vergangenen Erfolge der „selbstbewussten Rechten“: Ihre zeitweilige Anziehungskraft auf die Wähler der Neofaschisten unter Jean-Marie Le Pen, die sich bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2007 voll ausgewirkt hatte. Dadurch hatte die konservativ-liberale Rechte vorübergehend ihr strategisches Hauptproblem der achtziger und neunziger Jahre aufgelöst, das darin bestanden hatte, dass es rechts von ihnen eine rund 15 Prozent starke Partei gab. Entweder musste das bürgerliche Lager sich an sie oder wenigstens an ihre Wähler wenden, und verlor dabei liberale oder christlich-humanistische Anhänger in der Mitte. Oder aber sie lehnte jedes Bündnis mit der extremen Rechten ab - eine Linie, wie Jacques Chirac sie nach mehrjährigem Zögern ab Ende der achtziger Jahre in der bürgerlichen Rechten tatsächlich durchsetzte und durchhielt -, drohte dadurch jedoch dauerhaft, aufgrund der auf ihrer Rechten fehlenden Stimmen Erschwernisse bei der Mehrheitsbildung vorzufinden.

Nicolas Sarkozy glaubte, den Ausweg aus dem Dilemma gefunden zu haben: Man verbündete sich zwar nicht mit den Parteistrukturen der extremen Rechten, grub jedoch ihr Wählerpotenzial an und unterstrich den expliziten Willen dazu auch deutlich.

Doch die Situation, in der ihr dies gelungen war, ist offenkundig passé. Beim ersten Durchgang der französischen Regionalparlamentswahlen erhielt die extreme Rechte im frankreichweiten Durchschnitt gut 12,5 Prozent der Stimmen. Davon entfallen 11,5 Prozent auf den Front National (FN) als mit Abstand stärkste Partei des rechtsextremen Spektrums. Hinzu kommen kleinere rechtsextreme „Dissidenten“listen und Abspaltungen vom FN in mehreren Regionen. In den Stichwahlen erhielten die Listen des Front National (FN) in jenen 12 von 22 Regionen, wo sie präsent bleiben konnte - ein Einzug in die zweite Runde erfordert einen Stimmenanteil von mindestens zehn Prozent im ersten Durchgang - durchschnittlich 17,81 Prozent. Dieses Ergebnis fällt für die allermeisten Beobachter/innen unerwartet hoch aus.

Die tiefe Krise, die der Front National in den Jahren von 2007 bis 2009 durchlaufen hatte - seine Wahlergebnisse waren von zuvor landesweit rund 15 Prozent auf nur noch 4,3 Prozent bei den Parlamentswahlen im Juni 2007 abgesunken - ist damit zumindest auf der Ebene der Wahlergebnisse überwunden.

Dazu trugen verschiedene Versuche der regierenden Konservativen, die rechtsextreme Wählerschaft erneut zu ihren Gunsten zu mobilisieren, ohne Zweifel bei. Eine wichtige Rolle spielte die Regierungskampagne, die darin bestand, Frankreich vier Monate lang über seine „nationale Identität“ debattieren zu lassen. Der Minister „für Einwanderung und nationale Identität“, Eric Besson, der diese Debatte lancierte, sah sich am Montag früh nach dem ersten Wahlgang genötigt, ausdrücklich zu erklären, er sei „nicht verantwortlich für das Abschneiden des FN“; er sehe keinen Zusammenhang zwischen ihm und der Kampagne zur „nationalen Identität“. Und auch nach dem Montag früh nach der Stichwahl wiederholte er dieses Spiel. Mehrere offenkundig rassistische Äußerungen mancher konservativer Politiker wie des UMP-Fraktionsvorsitzenden im Senat, Gérard Longuet - der vier Tage vor dem ersten Wahlgang über den französischen sozialdemokratischen Politiker Malek Boutih erklärt hatte, er gehöre nicht „zum traditionellen französischen Körper“ (corps traditionnel français) - trugen wohl das Ihre zum Triumph des FN bei, indem sie seine Wähler in ihren Auffassungen bestärkten und enthemmten.

Die sozialdemokratische Parteivorsitzende Martine Aubry gab deswegen am Montag, 15. März Präsident Nicolas Sarkozy unmittelbar eine Mitschuld am Wahlergebnis des FN. Der Stuhl bzw. Ministersessel Eric Bessons schien zeitweilig gehörig zu wackeln, weil er auch innerhalb der UMP umstritten ist, wo er für die Wahlniederlage und den (Wieder-)Aufstieg des FN in hohem Ausma verantwortlich gemacht wird. Dort rutscht Besson leicht in die Rolle des „Sündenblocks“, jedoch nicht weil man seine Politik „zu rechts“ fände – hätte der Minister mit seiner Kampagne zur „Nationalidentität“ Erfolg gehabt und den erneuten Aufstieg der extremen Rechten auerhalb des Regierungslagers ausgebremst, dann würde ihn bei der UMP niemand dafür kritisieren -, sondern weil er erst im Wahlkampf 2007 als „Überläufer“ zur UMP kam. Deswegen gilt der Ex-Sozialist und frühere Berater von Ségolène Royal (bis im Januar/Februar 07) noch nicht als „vollwertiges Familienmitglied“; er wurde trotz Übernahme des Postens eines Vizevorsitzenden der UMP durch das konservative Lager nie als einer der „Seinen“ richtig aufgenommen. Umso bequemer ist es nun für die UMP-Kaziken, ihm ein gehöriges Ma an Schuld für die wahlpolitische Entwicklung in die Schuhe zu schieben, und um so leichter fällt es, ihn in die Ecke zu stellen (denn am Wahlabend des ersten Durchgangs der Regionalparlamentswahlen durfte er nicht vor die Kameras treten, sondern musste den Parteisitz hüten, wie ,Le Canard enchaîné’ genüsslich berichtete). Doch für die Regierungskampagne zur „Nationalidentität“ und andere chauvinistische oder rassistische Aspekte der Regierungspolitik ist Präsident Nicolas Sarkozy, der das Abhalten der „Debatte über die nationale Identität“ in einer ,Lettre de mission’ an seinen Minister vom 31. März 2009 angeordnet hatte, unmittelbar verantwortlich. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0310/t390310.html ) Das Staatsoberhaupt hat seinen umstrittenen Minister für die ideologische Schmutzarbeit, Eric Besson, nun anlässlich der Mini-Regierungsumbildung vom 22. März in seinem Amt beibehalten. Neue ideologische Schlammfluten aus dieser Ecke können deswegen absolut nicht ausgeschlossen werden...

Und die alte Tante Sozialdemokratie ?

Aubry fordert nun, nicht wie angekündigt „Ende 2011“, sondern „sofort“ müsse eine „Pause“ bei den wirtschaftsliberale, sozial rückschrittlichen Reformen eingelegt werden. Allerdings geht diese - im Kern durchaus richtige -Forderung seitens der Parteien der parlamentarischen Linksopposition mit einer Strategie einher, die die französische Wahlbevölkerung darauf vorbereitet, nun müsse „der Machtwechsel 2012“ vorbereitet werden. Und dies besonders durch Verhandlungen der Sozialdemokratie mit den Grünen (bzw. ihrem durch Daniel Cohn-Bendit ausgerufenen, breiteren und weiter in die neoliberale Mitte hineinreichenden Bündnisansatz ,Europe Ecologie’) und der KP/„Linksfront“.

Letztere kündigen sich besonders mit ,Europe Ecologie’, deren Anführer/innen derzeit glauben, vor Kraft kaum noch laufen zu können, relativ kompliziert an. Die französischen Grünen stehen bislang eher spürbar links von ihren deutschen Ökopartei-Kolleg/inn/en; doch Daniel Cohn-Bendit versucht, durch die von ihm neu lancierte Allianz dazu ein strategisches Gegengewicht zu schaffen, das dem Kurs der deutschen Grünen (wie sie seit ihrer Regierungsbeteiligung aussehen) näher kommt. Gleichzeitig wiesen die Listen von ,Europe Ecologie’ zu den jüngsten Wahlen durchaus hochinteressante Persönlichkeiten auf, wie bspw. die früheren Untersuchungsrichterinnen Eva Joly und Laurence Vichnievsky, die in der Vergangenheit zu französischer Wirtschafts- und Regierungskriminalität etwa auch in Richtung Afrika (im Zusammenhang mit der „ELF-Affäre“) ermittelten.

In der Stichwahl vom 21. März ist es der Sozialdemokratie wiederum gelungen, eine übergroße Mehrheit der künftigen Regionalregierungen zu stellen, wie schon 2004 - im europäischen Frankreich sogar eine mehr (Korsika), wo sich die Verhandlungen zur regionalen Regierungsbildung jedoch durch das starke Gewicht der korsischen Autonomisten und Nationalisten (35 %) erschweren werden. Statt bislang drei regiert die Sozialdemokratie nun nur noch zwei der Überseeregionen, wo die etablierte Politik jedoch weniger eine Frage von „links“ und „rechts“, sondern historisch gewachsener Seilschaften ist.

Doch auf frankreichweiter Ebene dürften die Schwierigkeiten für die sozialdemokratische Partei nun erst richtig anfangen. Denn die Regionalpräsidenten der - seit 2004 auf regionaler Ebene erfolgreichen, aber auf nationaler Ebene bei den entscheidenden Wahlen gescheiterten und strategisch konfusen - Partei, die schon in den letzten Jahren viel Macht auf Kosten der geschwächten Zentralführung an sich zogen, werden nun eine noch dominantere Rolle spielen. Dadurch droht jedoch ein Zerfransen der Partei, aber auch ihre Entpolitisierung, da die regionalen „Barone“ ihre technokratische Regierungsbilanz und nicht die durch Martine Aubry verfochtene Oppositionsstrategie gegen Sarkozys neoliberale Kahlschlags-Reformen in den Vordergrund rücken.

Editorische Anmerkungen

Wir  erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Eine weitere Hintergrundanalyse von Bernard Schmid veröffentlichen wir demnächst.