Algerien
Abdelaziz Boutefliqa gewinnt die „Wahl“


von Bernard Schmid

04/09

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In den kommenden Tagen wird Abdelaziz Bouteflika (oder Boutefliqa, je nach Transkription aus dem Arabischen) seinen Amtseid als neuer algerischer Präsident ablegen. Der neue Staatschef ist der alte. Denn Bouteflika wurde erstmals vor nunmehr genau zehn Jahren, am 15. April 1999, ins Amt gewählt. Im November 2008 war die algerische Verfassung abgeändert worden, die bis ihm bis dahin die Kandidatur für eine dritte Amtszeit verbot: Die bisherige Beschränkung der Mandate auf zwei wurde aufgehoben. Böse Zungen behaupteten damals schon, damit sei die wichtigste Weiche gestellt worden, die bedeutender sei als der Wahlgang selbst - der am 9. April dieses Jahres stattgefunden hat. Ihn gewann Abdelaziz Boutefiqa „wie erwartet“. 

Doch wie auch schon bei der vorletzten und der letzten Präsidentschaftswahl sind auch bei dieser die Ergebnisse umstritten. Vorwürfe von Wahlbetrug wurden und werden auch jetzt wieder laut. Am 13. April o9 wies das algerische Verfassungsgericht jedoch 47 Klagen der fünf Mitbewerber Bouteflikas, die Hinweise auf Wahlbetrug und Manipulationen enthielten, ab. (Vgl. http://www.aloufok.net) Daraufhin wurde am 14. April o9 das amtliche Wahlergebnis verkündet: Bouteflika kam demnach auf 90,23 % der Stimmen. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com) Als zweitbest platzierte Kandidatin hinter ihm steht die Linksnationalistin und frühere Trotzkistin - erste Frau, die eine Partei in der arabischen Welt anführt, die „Arbeiterpartei“ PT - mit  4,22 Prozent. Die beiden islamistischen Kandidaten Djahid Younsi von der Partei El-Islah (Die Reform) und Mohammed Saïd, die jeweils unterschiedliche Strömungen des ‚moderaten’ – d.h. institutionell orientierten – politischen Islam repräsentieren, gewannen 1,37 % respektive 0,92 %. Und hier die Ergebnisse der Kandidatin und ihrer männlichen Mitbewerber im Einzelnen:
http://www.aloufok.net/spip.php?article414 

Unterdessen äuberte sich die US-Administration „besorgt“ über die Vorwürfe betreffend Wahlmanipulationen (vgl. http://www.lefigaro.fr/, auch http://tempsreel.nouvelobs.com) Hingegen hatten sich Bouteflikas tunesischer Amtskollege Zine ben Abidine Ben Ali und der französische Präsident Nicolas Sarkozy sich beeilt, dem algerischen Staatsoberhaupt die allerherzlichsten Glückwünsche zu seiner erfolgten „Wiederwahl“ zukommen zu lassen und das Ereignis zu begrüben. (Hier die Reaktion von Präsident Ben Ali:
http://tempsreel.nouvelobs.com

1999 hatten sich sechs von sieben Bewerbern, also alle Gegenkandidaten Bouteflikas, am Tag vor dem Wahldatum zurückgezogen - weil ihre Wahlbeobachter konstatiert hätten, dass etwa in den Kasernen, wo die Stimmen schon eine Woche zuvor abgegeben wurden, massiv gefälscht worden sei. Ihre Namen blieben aber auf dem Stimmzettel, obwohl sie nicht mehr als Kandidaten zur Verfügung standen, so dass der Wahlakt eine Farce darstellte. Auch 2004 wurde die Gültigkeit des amtlichen Wahlergebnisses durch die Opposition und einen Teil der Presse bestritten. Von Wahl zu Wahl stieg Bouteflikas Ergebnis dabei: von offiziellen 73,8 % im Jahr 1999 über 84,99 % (2004) auf jetzt über 90 %. 

Zweifel an der Echtheit des Ergebnisses werden auch im Nachhinein noch bleiben. Auf einer Pressekonferenz am 10. April 2009, dem Tag nach der Wahl, brachte eine spanische Journalistin den algerische Innenminister Yazid Zerhouni in schwere Verlegenheit. Sie fragte ihn danach, warum in Algerien unbeirrt weiterhin Holzurnen - auf deren Inhalt man nicht sehen kann - verwendet werden. Überall sonst auf der Welt würden doch inzwischen durchsichtige Urnen, in die die Stimmzettel in verschlossenen Briefumschlägen abgelegt werden, benutzt. Zerhouni antwortete ausweichend, wurde fahrig, wechselte mehrfach im Laufe seiner Antwort die Sprache: Französisch, Spanisch, Arabisch... (Vgl.
http://www.la-kabylie.com) Der Hintergrund war den Anwesenden klar: Zahlreiche Beobachter vermuten, dass viele ausgefüllte Stimmzettel bereits in den Urnen lagen, als sie aufgestellt wurden. Solcherlei vorab aufgefüllte Stimmbehälter nennt man in Algerien im Volksmund auch „geschwängerte Urnen“.  

Auch andere Hinweis deuten ansonsten auf Wahlbetrug hin, etwa der als unglaubwürdig angenommene Bericht der algerischen amtlichen Nachrichtenagentur APS, wonach „sogar eine 130jährige Frau wählen gegangen sei“. Während eine französische Tageszeitung daraufhin von einem „Rätsel“ sprach (vgl. http://www.leparisien.fr), ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass es eine einfache Erklärung gibt: Es wurde einfach „von Amts wegen“ in ihrem Namen eine Stimme abgegeben... – Die einzigen zugelassenen Wahlbeobachter kamen von der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union, in deren jeweiligen Reihen die Autokraten und Diktatoren einen regelrechten Club unterhalten. Beide Institutionen sprechen von einer „fairen Wahl“ (lt. http://tempsreel.nouvelobs.com). Laut Auffassung einer französischen Journalistin spielten sie eine Rolle als „pure Zuschauer, aber kontrollierten auf keinen Fall die Wahl“. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/

Die meisten Beobachter hielten allerdings einen Wahlsieg Bouteflikas auch für den Fall, dass die Ergebnisse nicht manipuliert worden wären, für höchst wahrscheinlich. Zumal er in diesem Jahr keine Gegenkandidaten von Gewicht hatte: Alle größeren Parteien unterstützten entweder Bouteflika und sind in seiner „Präsidentenkoalition“ aufgegangen (wie die historische „Nationale Befreiungsfront“ FLN oder die den Muslimbrüdern nahe stehende, institutionelle Islamistenpartei MSP-Hamas). Oder aber sie zogen es vor, der Präsidentschaftswahl fern zu bleiben, wie die beiden vor allem in der Kabylei - einer von Berbern bewohnten Minderheitsregion mit hohem Politisierungsgrad - verankerten Oppositionsparteien FFS und RCD. Ihre Gallionsfiguren, Hocine Ait Ahmed (FFS) und Saïd Sadi (RCD), sind zwar profilierte Figuren der algerischen Politik, versprachen sich aber keinerlei Chancen bei dieser Wahl. Die „Dampfwalze Bouteflika“ ließ ihrer Auffassung nach anderen Bewerbern nicht den Hauch einer realistischen Chance. 

Die meisten Beobachter glauben denn auch, dass Bouteflikas Wahlsieg real sei und höchstens der prozentuale Stimmenanteil übertrieben sei. Stark in Frage gestellt wird hingegen die Wahlbeteiligung, die von den meisten unabhängigen Kommentatoren für sichtlich übertrieben gehalten wird. Etwa von Luis Martinez, einem der profundesten Kenner Algeriens - Forscher am Institut CERI sowie Autor mehrerer Bücher und Schriften mit fundierten Analysen, von La guerre civile en Algérie (1998) bis zu La peur de la démocratie au Maghreb (April 2009, http://www.iss.europa.eu/uploads/media/A4web.pdf). Er weist darauf hin, dass „selbst in der Periode der Demokratieeuphorie in den Jahren 1990 und 1991“ - also nach dem Zusammenbruch des Ein-Parteien-Staates unter Führung der FLN (Ende 1988) und vor dem Aufstieg der radikalen Islamisten -, als sich allerorten Parteien und Bürgerinitiativen gründeten, die Wahlbeteiligungen nie über 40 bis 50 % gelegen hätten. (Vgl. http://www.lejdd.fr) Umso unglaubwürdiger wirkt es also heute, wenn sie offiziell mit 75,5 % angegeben wird.  

Die beiden wichtigsten Oppositionsparteien (was immer man von ihrer bisherigen jeweiligen Strategie halten mag, zu der es viel Kritisches anzumerken gäbe), FFS und RCD, arbeiten vor diesem Hintergrund auf eine Annäherung hin. „Um zu überleben“, wie eine französisch-afrikanische Internetpublikation schreibt (siehe http://www.afrik.com/article16603.html). Bislang hatten diese beiden bürgerlichen Oppositionsparteien  eher gegenläufige Strategien verfolgt, unter anderem, aber nicht allein, aufgrund eines Bedürfnisses nach gegenseitiger Abgrenzung: Der FFS spielte die Rolle einer Art populistischen Regionalpartei in der Kabylei und ging im Laufe der 90er Jahre ein zeitweiliges, auf der „Suche nach einer Verhandlungslösung zum Ausgang aus der algerische Krise“ basierendes, taktisches Bündnis mit den illegalisierten Islamisten – ohne inhaltliche Übereinstimmung bei sonstigen Prinzipien – ein. Der RCD hingegen war zwar ebenfalls (wenngleich etwas schwächer als sein Rivale) unter der berbersprachigen Minderheit verankert, übernahm aber ansonsten vor allem die Funktion einer Partei der französischsprachigen Modernisierungselite und profilierte sich als Anti-Islamisten-Kraft. Es gelang ihr dabei nicht immer, auf reale Distanz zu den Machthabern in Algier zu bleiben. Von 1999 bis 2001 gehörte der RCD den ersten Regierungen unter Präsident Bouteflika an. Heute sind diese „historischen“ Gegensätze aus der jüngeren Geschichte Algeriens, und aus der Ära des inzwischen überwundenen Bürgerkriegs, jedoch de facto überholt. Insofern ist eine Annäherung zwischen den beiden Kräften durchaus plausibel. Unterdessen geriet der RCD in den Tagen rund um den Wahlgang ins Visier der Staatsmacht: Die Partei hatte auf ihrem Hauptquartier in El-Biar, einem Stadtteil auf den Höhen von Algier, kurz vor der „Wiederwahl“ Bouteflikas die algerische Nationalfahne eingeholt und statt ihrer eine schwarze Trauerflagge gehisst. Deswegen ermittelt unterdessen die algerische Justiz gegen den RCD, denn die Staatsanwaltschaft wirft der Partei deswegen die Verunglimpfung respektive „Beleidigung von Nationalsymbolen“ vor. Die algerische Fahne als Nationalsymbol war anlässlich der letzten Verfassungsänderung im November 2008 –- die im Prinzip nur dazu dient, Bouteflika eine dritte Amtsperiode zu ermöglichen, aber damit es nicht so aussah, wurden gleich noch mehrere unbedeutende Änderungen an andere Artikeln vorgenommen – unter den besonderen Schutz der Verfassung gestellt worden. Unterdessen wurde der Sitz des RCD in Algier am 10. April, dem Tag nach der „Wahl“, durch einen mobartigen Menschenauflauf belagert. Unter den Nationalflaggen schwenkenden Präsidentenfans befand sich auch der Bürgermeister der Hauptstadt Algier, Tayeb Zitouni. (Vgl. http://www.la-kabylie.com

Autoritäres Präsidialregime, stärker denn je von Konservativismus oder neuem Pietismus durchdrungene Gesellschaft 

Dass Abdelaziz Bouteflika (Boutefliqa) eine solche Zentralisierung der politischen Macht in seinen Händen gelingen konnte, dafür sind zwei wichtige konjunkturelle Faktoren verantwortlich. Zum Ersten kam er 1999 in einer Phase ins Amt, als die bewaffneten Islamisten den Bürgerkrieg de facto bereits verloren hatten. Ihre Niederlage erklärte sich zum Teil dadurch, dass sie durch ihre Kampfmethoden und ihren Tugendterror jene Unterklassen, die ihnen gegenüber anfänglich oft freundlich eingestellt waren und in ihnen die „gegen das Regime kämpfenden Robin Hoods“ sahen, abgeschreckt hatten. Dass das Blutvergieben jedenfalls in den städtischen Zentren seit zehn Jahren drastisch abgenommen hat, wird in breiten Kreisen ihm zugute gehalten. Auch wenn es noch zu vereinzelten, aber umso spektakuläreren Attentaten kommt, zu denen sich nun „Al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQMI) bekennt. Unter diesem Label haben sich die letzten verbliebenen bewaffneten Islamisten in Algerien zusammengeschlossen. Ihre Anzahl wird derzeit auf 400 geschätzt, zuzüglich einiger Kampfgefährten aus Tunesien, Libyen oder Mauretanien. Auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, 1995, wurde die Zahl bewaffneter Islamisten auf 27.000 geschätzt. Bouteflika brachte im Wahlkampf die Idee eines neuen Angebots für eine Generalamnestie ins Gespräch, dieses Mal an die Adresse der Kämpfer unter dem Banner von AQMI - für den Fall, dass auch sie die Waffen niederlegen. Auch Vertreter verschiedener islamistischer Formationen, etwa der im Exil lebende Radikalislamist und frühere FIS-Chef Abassi Madani (vgl. http://www.lexpressiondz.com/ ) oder der jüngst zu den Präsidentschaftswahlen kandidierende Djahid Younsi, letzterer zitiert laut ‚Jeune Afrique’ vom o5. April, unterstützten diese Idee. Bislang gilt es aber als höchst unwahrscheinlich, dass der harte Kern von AQMI dem bewaffneten Kampf abschwört. 

Zum Zweiten konnte Boutefliqa zu erheblichen Teil vom Erdölpreis profitieren: Das Barrel Rohöl kostete auf den Weltmärkten rund 10 Dollar, als er erstmals auf dem Präsidentensessel Platz nahm. Es kostete auf dem Höhepunkt des Preisanstiegs vor nunmehr anderthalb Jahren bis zu 175 Dollar, derzeit ist der Preis wieder auf rund 40 Dollar gesunken. 

Darüber hinaus vertritt bspw. die Journalistin Florence Beaugé, die seit über 20 Jahren die Entwicklung in Algerien beobachtet - und erst für die Pariser Libération, später für Le Monde berichtete -, die Auffassung, die algerische Gesellschaft selbst sei in den letzten Jahren zunehmend religiöser und konservativer geworden. Allerdings unterscheidet sie diese erkennbare Zunahme von (Alltags-)Religiosität deutlich von der Hochphase des politischen Islam(ismus) in den 1990er Jahren: Heute gehe es den Menschen, die sich in dieser Alltagsideologie wieder erkennen, vor allem um die Änderung des eigenen Verhaltens und seine Anpassung an tatsächliche o. vermeintliche religiöse Vorschriften.

Hingegen, so könnte man dem hinzufügen, ging es den Wählern und Anhängern der (seit 1992 verbotenen) radikal islamistischen „Islamischen Rettungsfront“ FIS damals eher darum, „gute Moslems“ an die Spitze des Staates zu setzen -  und dadurch die Regierungsform und vor allem die Art und Weise öffentlichen Vermögens vermeintlich zu „moralisieren“. Selbstverständlich verfolgte auch der harte Kern der „Islamischen Rettungsfront“ und ihrer Kader ein Programm der „Islamisierung“ der Gesellschaft und ihres Alltagsleben, um deren autoritäre Anpassung an „Tugendvorschriften“ mittels Zwang und notfalls auch gewalttätiger Methoden. Aber dieses ideologische Programm des harten Kerns machte sich ein Gutteil der Sympathisanten, Wählerinnen und Wähler gar nicht unbedingt zu eigen: 1990/91 konnte man in Algerien auch einige Leute beobachten, die am Wahltag aus dem Kabarett (in Algerien: Lokal mit Alkohlausschank und Musik) heraus und  zur Stimmabgabe für den FIS torkelten. Den damaligen Anhängern der Partei ging es, in ihrem Geiste, vorwiegend um eine – vom FIS erhoffte – radikale Änderung auf staatlicher Ebene. Doch von genau dieser Ebene erwartet sich heute kaum noch jemand etwas. Und ihre gewaltsame Eroberung scheint gerade auch den, früheren oder noch immer geistig bei der Stange bleibenden, Anhängern der radikalen Islamisten (jedenfalls in ihrer  „breiten Masse“), auf unabsehbare längere Sicht hin gescheitert. Was bleibt, ist eine Internalisierung und freiwillige Befolgung vorgeblicher religiöser Gebote. Die Logik und Stobrichtung sind nicht dieselbe, und die Leute sind vielleicht auch nur zum Teil dieselben wie jene, die damals FIS wählten (zumal in einem überwiegend sehr jungen Land ein Grobteil der aktiven Bevölkerung ohnehin nachgewachsenen Generationen angehört). Heute ist die Religiosität auf dem Vormarsch, aber sie gibt sich eher „unpolitisch“ oder konservativ, und hat nur sehr bedingt mit dem politischen Islam zu tun – eher wenig in seinen vergangenen „umstürzlerischen“ Varianten.  

Der verbotene FIS, dessen früherer Chef Abassi Madani in der Golfmonarchie Qatar im Exil sitzt (während der frühere Vizechef und Oberideologe Ali Belhadj in Algier lebt und politischem Betätigungsverbot unterliegt, das er periodisch durchbricht), besitzt als solcher längst keine einheitliche Linie mehr. Ein Teil der früheren Parteifunktionäre unterstützte heute Boutefliqa, nachdem er in den letzten neun Jahren eine Amnestie für seine bewaffneten Anhänger und erhebliche materielle Beihilfen (als „Wiedereingliederungsstützen“) erhielt. Der nicht so gut integrierte Teil der früheren FIS-Führung hingegen rief in Gestalt von Abassi Madani, Ende Februar o9, zum Boykott der Präsidentschaftswahl auf. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ ) Doch hielt Abassi Madani sich mit einer „konstruktiven“ Forderung, jener nach einem neuen Angebot zur Generalamnestie für (noch immer) bewaffnet kämpfende Islamisten -- die auch Boutefliqa nicht ausschlieben möchte -- im Gespräch, vgl. oben stehende Ausführungen dazu. 

Zurück zu den Ausführungen und Erkenntnissen von Florence Beaugé. Auf jüngst von wissenschaftlichen Instituten vorgenommene Studien gestützt, analysiert sie, die Einstellungen zur Gleichheit von Frauen und Männern hatten sich in regressivem Sinne entwickelt. So berichtet sie, dass etwa vor einigen Jahren noch die Hälfte der Algerier für eine Reform gewesen wäre, die den Söhnen und Töchtern dasselbe Erbrecht einräumt: Bislang gilt in Algerien ein (1984 verabschiedetes) Familien- und Personenstandrecht in Gestalt des ‚Code de la famille’, das auf orthodox-islamischen Vorstellungen beruht und den männlichen Nachkommen einen doppelt so hohen Anteil gewährt wie den weiblichen. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr) Aber, fährt Beaugé fort, heute sei es nur noch unter einem Drittel der algerischen Gesellschaft. Auch die Erwerbstätigkeit von Frauen werde heute nur noch von 20 Prozent der männlichen Algerier befürwortet, was einen Rückschritt gegenüber der Situation vor wenigen Jahren darstelle.

Aber gleichzeitig entwickelt sich die Erwerbstätigkeit von Frauen auf allen Gebieten: Reihenweise wurden in den letzten Jahren die erste Busfahrerin, die erste Streifenpolizistin, die erste LkW-Lenkerin… der Öffentlichkeit präsentiert.  

Ökonomische Perspektiven: kurzfristig gut, auf Dauer eher düster 

Die algerische Gesellschaft ist voll von Widersprüchen. Aber auf politischer Ebene liegt ein Deckel des Autoritarismus über der Gesellschaft, der zunehmend jener unter dem Ein-Parteien-Regime einer untergegangenen Periode gleicht. Nur nicht im Namen einer Partei (FLN) und einer Idee (Entwicklung, Industrialisierung und Staatssozialismus), sondern im Namen eines Mannes an der Spitze. Wie lange das gut geht, wann die Widersprüche aufbrechen, und wie lange das „Modell Bouteflika“ sich aufgrund der Ölrente Zustimmung „erkaufen“ kann, bleibt abzuwarten. Denn neben der Beendigung des Bürgerkriegs mit den radikalen Islamisten ab 1998/99 – die nicht auf Bouteflikas persönliches Wirken zurückzuführen ist, wohl aber ihm zugute kam und in breiten Bevölkerungskreise auf seine Rechnung geschrieben wurde, da er just in jener Periode an die Spitze des Staates aufrückte – zählt das starke Anwachsen der Staatseinnahmen aus dem Export von Erdöl und Erdgas zu den wichtigsten Grundlagen von Bouteflikas Erfolgsstory. Derzeit verfügt das Land, das noch vor 15 Jahren (auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs) um eine Stundung seiner Schuldenzahlungen beim IWF betteln mussten und als kreditunwürdig gegolten hatte, über 139 Milliarden Dollar Devisen-Reserven. (Vgl.
http://globe.blogs.nouvelobs.com) Und die Auslandsschulden sind, bis auf circa vier Milliarden, bereits – überwiegend vorzeitig – abbezahlt. Auch wenn ein Teil der Jugend als „Kandidaten für die illegale Emigration“ ihr Heil lieber in der Flucht sucht, da das Land ihnen keine längerfristige Perspektive zu bieten hat (vgl. http://abonnes.lemonde.fr/), so konnte die Staatsmacht sich doch vorläufig „den sozialen Frieden erkaufen“. 

Nur: Und dennoch ist diese neu errungene Stabilität auf Sand errichtet. Buchstäblich, denn unter diesem Sand liegen die einzigen Reichtümer Algeriens, die das Land derzeit – auf dem Weltmarkt und im Rahmen der bestehenden internationalen Arbeitsteilung – anzubieten hat und es „interessant“ machen. Aber die Periode der Hoch- und Höchstpreise beim Erdöl, die vor circa anderthalb Jahren (mit Spitzenwerten bei rund 175 Dollar pro Barrel Rohöl) erreicht wurde, ist längst wieder vorüber. Resultat: Die Exporterlöse Algeriens, die im ersten Vierteljahr 2009 insgesamt 10,74 Milliarden Dollar erreichten, gingen gegenüber dem Vorjahreszeitraum (dem ersten Trimester 2008) um 42,07 % zurück. Denn über 97 Prozent – exakt sind es 97,27 % - dieser Exporteinnahmen hängen von den beiden Rohstoffen Erdöl und Erdgas ab. Letztere brachten Algerien im ersten Vierteljahr 2008 noch 18,01 Milliarden Dollar, im vergleichbaren diesjährigen Zeitraum hingegen nur noch 10,45 Milliarden Dollar ein. Denn in den ersten Jahresmonaten 2008 kostete das Rohöl durchschnittlich 110 Dollar auf den Weltmärkten, in den ersten Jahresmonaten 2009 hingegen im Durchschnitt 42 Dollar. (Angaben aus ‚El Watan’ vom 21. April 2009, vgl. http://www.elwatan.com/Les-revenus-du-pays-baissent-de) Wie lange - vor diesem Hintergrund - die Phase der „populären Diktatur“ noch andauern wird, sei vorläufig ausdrücklich dahingestellt.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.