Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Von der LCR zum ‚Nouveau Parti Anticapitaliste’ - Die französische radikale Linke nach den jüngsten Lokalwahlen

04/08

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„Tritt der Revolutionär als idealer Schwiegersohn auf?“ Diese Frage wird ihm oft mit leicht ironischem Unterton gestellt, wenn er etwa an Talkshows im französischen Fernsehen teilnimmt. Andere Medien verbinden die Darstellung seiner politischen Inhalte mit der Beschreibung seines – ihrer Darstellung zufolge - „puppenartigen“, soll heißen: knabenhaften, Gesichts (visage-poupée).  

Olivier Besancenot, der im April dieses Jahres 34 wird, wird durch die französischen Medien durchaus geschätzt. Als gefährlichen Brandstifter oder Sektenführer können sie diesen Revolutionär, anders als andere radikal linke PolitikerInnen, nur selten darstellen. Ein Schuss von Ironie wird hingegen durch die bürgerlichen Journalisten oft beigemischt, wenn sie sein angebliches jugendliches Auftreten beschwören. Auch wenn Besancenot inzwischen selbst Vater eines kleinen Kindes und seit elf Jahren berufstätig ist: Nachdem er Geschichte studiert hatte, wurde Olivier Besancenot 1997 als Briefträger eingestellt und ausgerechnet dem Pariser Millionärsvorort Neuilly-sur-Seine als Postzusteller zugeteilt. Die Ironie des Schicksal wollte es etwa, dass er Dienst hatte, als es vor Jahren darum ging, dem dort wohnenden rechten Ex-Innenminister Charles Pasqua eine Vorladung zu einem Prozess zuzustellen - wegen Verstrickungen in den Waffenhandel mit dem afrikanischen Bürgerkriegsland Angola.  

Im Herbst 2001 entschied sich die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), welcher Besancenot seit 1991 angehört, für den damals 27jährigen als Präsidentschaftskandidaten. Zur Auswahl standen er und die heute 51jährige Erzieherin Anne Leclerc, die – wie er – ebenfalls im 18. Pariser Bezirk wohnt und im März dieses Jahres als Spitzenkandidatin ihrer Partei im nördlichsten Pariser Bezirk zur Kommunalwahl antrat (und dabei 5,23 % der Stimmen holte).  

Seit damals hat Besacenot zwei mal jeweils gut vier Prozent und jeweils zwischen einer und anderthalb Millionen Stimmen bei den Wahlen zum französischen Staatsoberhaupt erzielt. Inzwischen ist er damit zu einem der bekanntesten Gesichter der französischen radikalen Linken geworden, er wird in Talkshows eingeladen und darf das aktuelle Geschehen auch in etablierten Medien kommentieren. Die LCR ist im selben Zeitraum zur stärksten Kraft links von der Sozialdemokratie avanciert, wenn man sich nur auf die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen stützt, nachdem die französische KP dort schwer eingebrochen ist. An Mitgliederzahlen übertrifft Letztere freilich Besancenots LCR, die rund 3.000 aktive Mitglieder zählt, nach wie vor um Längen. Allerdings leidet die weitaus etabliertere KP unter einem erheblichen Überalterungsproblem, während die LCR unter Besancenot eine starke Verjüngungskur erlebte und auch auf jugendliche Globalisierungskritiker und andere junge Leute erhebliche Ausstrahlungskraft hat.  

Bei den französischen Rathauswahlen, die in allen Kommunen des Landes am 9. und 16. März d.J. stattfanden, wollten Besancenot und seine Partei erneut von sich reden machen. Zu einer „Ohrfeige für die regierende Rechte“ sollten die Kommunalwahlen gemacht werden, forderte Besancenot am 4. März im Fernsehen, am Rande eines Wahlkampfauftritts in Toulouse. Besancenot, der einer von drei gleichberechtigten Sprechern der LCR ist, kandidierte dieses Mal nicht selbst, unterstützet jedoch die RathauskandidatInnen überall im Land. Die LCR hat nicht genügend Personal, um vollkommen flächendeckend anzutreten, stellte jedoch in 180 Städten eigene Listen (allein oder in Zusammenarbeit mit, meist kleineren, linken Bündnispartner/inne/n) auf und war in 36 von 37 Großstädten über 100.000 Einwohner bei den Rathauswahlen präsent. In der Hauptstadt Paris trat sie in 12 von 20 Bezirken auf. Ausgespart blieben nur die stark bourgeois geprägten Arrondissements im Pariser Westen, wo für konsequente Linke ohnehin nicht viel zu holen ist. Dort, wo sie präsent war, erhoffte die LCR sich ein Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde, das es ihr erlauben würde, im zweiten Wahlgang dabei zu sein und mit den Listen der etablierten Linksparteien um die Bedingungen einer eventuellen Unterstützung für die Stichwahl zu verhandeln. Allerdings grenzte die LCR sich auch von der Rathausführung der etablierten Linken etwa in Paris scharf ab, wo sie der rosa-rot-grünen Mehrheit (aus Sozialdemokratie, KP und Grünen) vorwirft, ihre Stadterneuerungspolitik richte sich vorwiegend an die urbanen Mittelschichten – die berühmten BoBos oder „Bourgeois-Bohèmes“, die zur rot-grünen Kernklientel in den städtischen Zentren geworden sind -, während für die Unterklassen kaum etwas abfalle. So sei der Bau von  städtischen Sozialwohnungen absolut unzureichend, und das vorhandene Angebot sei für die ärmsten Haushalte aufgrund der Zugangsbedingungen – etwa Anforderungen in Bezug auf ein stabiles Einkommen jenseits bestimmter Untergrenzen – kaum verfügbar. Die Umwelt- und Luftreinehaltepolitik der kommunalen Mehrheit sieht die LCR im Prinzip positiv, aber sie moniert, dass etwa der seit einem Jahr vom Pariser Rathaus angeleierte Fahrradverleih privaten Unternehmen lukrative Gewinnaussichten einbringe.            

Auch für die eigene Entwicklung der LCR ging es in diesen Wahlen um Einiges. Hat die 1969 – unmittelbar aus dem Schwung der Mai-Unruhen im vorangegangenen Jahr heraus – entstandene Partei doch nach den Präsidentschaftswahlen vom Vorjahr angekündigt, zur Schaffung einer breiteren „Neuen Antikapitalistischen Partei“ (Nouveau Parti Anticapitaliste, abgekürzt NPA, als vorläufiger Titel bis zu einer offiziellen Namensgebung) beitragen und sich bei Erfolg in diese hinein auflösen zu wollen. Bislang hatte die LCR ein ideologisches Profil, das sich als trotzkistisch, jedoch undogmatisch beschreiben lässt. Nun möchte sie jedoch auch all jene Menschen, die die historischen Bezüge des Trotzkismus – in Russland 1917 etwa – nicht teilen, aber für eine sowohl radikale als auch nicht-sektiererische Gesellschaftskritik eintreten, ein Angebot zur gemeinsamen Organisierung machen. Schon bei seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 2002 hatte Besancenot Schritte in Richtung einer solchen Öffnung unternommen: In seinem damals publizierten Buch „Révolution“ schrieb er, auch die „libertären Kommunisten“ – die in Frankreich aus einer anarchistischen Strömung kommen und den positiven Bezug auf die Oktoberrevolution nicht teilen – hätten ihre Platz in der LCR. Nunmehr sind die Trotzkisten aber auch bereit dazu, ihre eigene Organisation aufs Spiel zu setzen und nur noch eine Strömung innerhalb einer breiter angelegten radikalen Partei zu bilden. 

Wird dieses Vorhaben gelingen? Dies hing sicherlich auch mit von den Ergebnissen der LCR-Listen bei den Kommunalwahlen, auf denen oftmals auch viele bislang Unorganisierte oder BündnispartnerInnen eingeschrieben waren, ab. Denn auch wenn man die Aussagekraft von Wahlergebnissen nie überschätzen darf, so stellen sie doch zumindest einen Stimmungstest, einen politischen Barometer dar. Unter diesem Gesichtspunkt fallen die Resultate der Rathaus- (und Bezirksparlaments)wahlen vom März 2008 durchaus positiv aus. So übersprang die LCR vielerorts die Fünf-Prozent-Hürde, die bei den französischen Kommunalwahlen über die Chancen auf staatliche Wahlkampfkosten-Rückerstattung entscheidet, deutlich.  

Ermutigende (Wahl-)Ergebnisse, ein Barometer 

Konkret: Von insgesamt knapp 200 Listen, die entweder in Gänze oder im Wesentlichen durch die LCR unterstützt oder aber zusammen mit anderen linken Kräften gebildet worden waren, erhielten insgesamt 114 über fünf Prozent der Stimmen. Unter ihnen schnitten 34 sogar oberhalb der 10 Prozent ab. In Sotteville-lès-Rouen, einer Eisenbahnerstadt mit 30.000 Einwohnern und langen sozialen Kampftraditionen, erhielten zwei Listen aus der radikalen Linken zusammen gut 19 Prozent der Stimmen -  mit 14,5 % für die Liste der LCR, und 4,5 % für die Liste der eher traditionalistisch-trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière, LO (deren Name „Arbeiterkampf“ bedeutet). In der westfranzösischen Hafenstadt Saint-Nazaire mit rund 70.000 Einwohnern (aber 170.000 Einwohnern in der Agglomeration) zog die LCR-Liste in die Stichwahl ein und holte dort 17,69 Prozent der Stimmen. Und in der größten Stadt der Region Auvergne, Clermont-Ferrand -- 140.000 Einwohnern, aber 280.000 in der Ballungszone --, konnte die LCR in der Stichwahl ein Ergebnis von 15,34 % erzielen. (Vgl. http://afp.google.com/article/ALeqM5ix4Jz3AaOA3YvUlhabeJEjFO2HXw ) Hingegen fielen die Wahlresultate der radikal linken Listen in den bürgerlich geprägten Kernstädten der Ballungsräume, wie Paris oder Lyon, schwächer aus. Ähnlich gilt auch in den Pariser Banlieues - wo die französische KP stark präsent bleibt und ihre historischen Bastionen verteidigen konnte, mit Ausnahme von Aubervilliers und Montreuil, deren  nunmehr erstmals an die Sozialdemokratie bzw. die grüne Partei fielen. Allgemein schnitt die radikale Linke in mittelgroßen Städten sowie Ballungszentren „der Provinz“ stärker ab als im Großraum Paris. 

Der Gründungsversuch scheint unterdessen ganz gute Chancen zu haben, bislang nicht in einer politischen Organisation aktive GewerkschafterInnen und Aktive sozialer Bewegungen anzuziehen. Andere strukturierte Strömungen der Linken oder radikalen Linken stehen dem Angebot zu einer gemeinsamen Organisierung jedoch ablehnend gegenüber und sehen darin nur einen Versuch der LCR, ihren eigenen Umfang auszudehnen. Zu diesen konkurrierenden Strömungen zählt die eher traditionsmarxistisch ausgerichtete trotzkistische Partei Lutte Ouvrière (LO, „Arbeiterkampf“). Sie hatte bislang die wesentlich undogmatischere LCR dafür kritisiert, dass sie mit BündnispartnerInnen in allen möglichen sozialen Bewegung – „opportunistisch“ – zusammenarbeite und den „Parteiaufbau in den Betrieben“ vernachlässige.  

Der jüngste Rechtsschwenk von LO 

In diesem Jahr hatte LO jedoch einen scharfen Kursschwenk (nach rechts, von ihrer bisherigen Linie aus betrachtet) vollzogen und unterstützte erstmals in der Hälfte der Städte, wo sie zu den Rathauswahlen antrat, Kommunalwahllisten der Sozialdemokratie oder der KP schon im ersten Wahlgang. Gegenüber der Rechtsregierung unter Nicolas Sarkozy müsse man sich von vornherein mit der etablierten Linken verbünden, verkündet die bislang bei Wahlen durch die Altrevolutionärin Arlette Laguiller vertretene Partei, die in  Wirklichkeit vor allem ihre Wahlniederlage im vergangenen Jahr – wo sie von zuvor 6 auf nur noch 1,5 Prozent für ihre Kandidatin zurückfiel – nicht verdaut hat. Den Platz der „radikalen sozialen Opposition“ kann damit derzeit vor allem die LCR ausfüllen. 

Wie wird es nun weitergehen? In zahlreichen Städten, Gemeinden oder großstädtischen Bezirken haben sich inzwischen „Initiativkomitees für eine Neue Antikapitalistische Partei“ gebildet, an denen Mitglieder der örtlichen Sektionen der LCR jeweils teilnehmen, aber nicht unter sich bleiben. Am 5. und 6. April d.J. sollen zunächst die „Jugend-Initiativkomitees“ sich in Saint-Denis, das nördlich an Paris angrenzt, zu einer frankreichweiten Aktionskonferenz treffen. Und bis Ende Juni 08 soll es zu einer nationalen Konferenz auch der („erwachsenen“) Gründungskomitees kommen. Falls das Vorhaben dann Aussichten auf Erfolg verspricht, so ist an einen Gründungskongress bis zum Ende des Jahres 2008 gedacht. In diesem Falle soll die LCR dann über die Modalitäten ihrer Auflösung in eine neu zu gründende Partei, eventuell als innerhalb der neuen Organisation bestehende Strömung, sowie über die Unabhängigkeitsgarantien für die aus anderen politischen Traditionen kommenden Mitglieder beraten. 

Innerparteilicher Zoff als gefundenes Fressen für die Aasgeier der bürgerlichen Medien 

Selbstverständlich wacht die bürgerliche Presse und Medienlandschaft nicht ausschließlich mit einem lachenden Auge über den neuen politischen Gründungsversuch. Doch bis dahin war die LCR von ihnen eher gehätschelt, und im schlimmsten Falle als „nette Utopisten“ belächelt worden. Hingegen erschien Lutte Ouvrière (LO), die tatsächlich auch in Wirklichkeit weitaus sektierischer auftrat - jedenfalls bis zu ihrem jüngst vollzogenen Schwenk zum puren Rechtsopportunismus und Anbiederungskurs an die Sozialdemokratie - und intransparente, rigide und mitunter autoritäre Organisationsstrukturen aufwies, in den Medien stets als der „böse Bruder“. Das ging hin bis zu einem reichlich dümmlichen „Enthüllungsbuch“ über die Geheimnisse von LO aus der Feder eines Journalisten des konservativen Wochenmagazins L’Express, François Koch: ‚La vraie nature d’Arlette’ (Editions du Seuil, 1999). 

Einen gefundenen Anlass, nun erstmals auch die LCR in einem relativ finsteren Licht darzustellen -- während LO eine negative und bisweilen hetzerische Berichterstattung schon länger gewohnt war --, bietet just in den letzten Tagen die seit dem 27. März in den Medien hochkochende Affäre um die angebliche „politische Entlassung eines Oppositionellen innerhalb der LCR“.  

Was steckt dahinter? Bei der LCR, die seit ihrer Gründung 1969 das Recht auf freie Fraktionsbildung und -betätigung anerkennt, gibt es heute im Wesentlichen zwei große Strömungen. Ein Mehrheitsblock strebt heute im Kern die Neuformierung einer (über bisherige ideologische Grenzen, aus der Ära von vor 1989, hinweg schreitenden) radikalen Linken in völliger Unabhängigkeit von der Sozialdemokratie an. Als Chiffre dafür steht das politische Projekt der „Neuen antikapitalistischen Partei“, auch wenn in der Realität unterschiedliche konkrete Vorstellungen über deren künftiges Profil und über deren Betätigungsformen innerhalb der LCR bestehen dürften. Hingegen strebt eine Minderheitsfraktion ein - sagen wir es offen - „rechts“ davon zu verortendes Projekt an, nämlich den Zusammenschluss in einem gemeinsamen Bündnis (oder längerfristig unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach) mit bisherigen Strömungen oder Parteistrukturen der etablierten Linken. Als Vorbild für letzteres Projekt könnte etwa die Partei „Die Linke“ in der Bundesrepublik Deutschland dienen, die von manchen Anhängern der Minderheitsströmung in der LCR auch als positives Vorbild zitiert wird. Nunmehr hat - seit kurzem, und insbesondere seit den jüngsten Landtagswahlen in Hessen, Niedersachen und Hamburg - auch der Parteiapparat der französischen KP sein Interesse an einem solchen „neuartigen Bündnisprojekt“ entdeckt. So veröffentlichte nach der Hamburgwahl vom 24. Februar d.J. die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ eine volle Zeitungsseite mit Reaktionen aus unterschiedlichen Ecken der französischen Linken zu den Ergebnissen der neuen Partei in Deutschland. Dabei äußerte auch ein hochrangiger Vertreter der KP, es könnte interessant sein, „eine ähnliche Partei auch in Frankreich unter Einschluss der KP, der Parteilinken bei den Sozialisten und eines Teils der LCR“ (die er dabei praktischerweise, zumindest in Worten, gleich spaltet) herauszubilden. 

Die Minderheit in der LCR wog im Jahr 2006 - vor dem Scheitern des Projekts einer gemeinsamen „anti-(neo)liberalen Präsidentschaftskandidatur“ der unterschiedlichen Linkskräfte, von der sozialistischen Parteilinken über die KP und die Anhänger José Bovés bis hin zur LCR, das diese Fraktion nach Kräften favorisiert hatte - rund 35 % der Delegiertenstimmen auf dem damaligen Kongress. Heute, nach dem Kongress vom Januar 2008 in Saint-Denis in der Nähe von Paris, hingegen repräsentiert der Minderheitsblock nur noch 14 % der Organisation. Dagegen votierten 83,5 % der Delegiertenmandate für die Perspektive einer „Neuen Antikapitalistischen Partei“, während der ein wenig (pardon) rechtere Flügel weitaus eher für die Ausrichtung auf eine „anti-(neo)liberale Kraft“ setzen würde. 

 Nunmehr bot die Leitung der LCR, die insgesamt 4,5 Hauptamtlichenstellen (gemessen an der Äquivalenz zu Vollzeitstellen, auch wenn sich oft mehrere Personen eine Vollzeitstelle teilen) aufweist, der Minderheitsfraktionen eine Neuverhandlung über ihren Anteil an den materiellen Mitteln der Organisation an. Die Minderheit forderte die Fortführung einer - bereits bislang bestehenden - festen Rubrik in der parteieigenen Wochenzeitung ‚Rouge’, die sie schon bisher inhaltlich voll selbst verantworten konnte, 12.000 Euro jährlich (oder 1.000 Euro pro Monat) an finanziellen Zuwendungen sowie anderthalb Vollzeitstellen. Ersteres wurde der Minderheit durch die Leitung vorbehaltlos gewährt. Die 12.000 Euro hingegen mochte die Leitung der LCR nur im Zusammenhang mit innerparteilichen Aktivitäten - etwa Reisen, um den eigenen Standpunkt in lokalen oder regionalen Gliederungen der Ligue darzustellen, oder zu Kongressen - aufwenden. Hingegen weigerte sich die Mehrheitsfraktion, dem Minderheitsblock auch Aktivitäten außerhalb der eigenen Organisation zu finanzieren - mit dem Argument, dass ein Teil der Minderheit ihren Schwerpunkt zunehmend außerhalb der bisher gemeinsamen Partei suche. Kurz zusammengefasst, ging es ihr (der Mehrheit) darum, nicht den Aufbau einer Organisation neben der Organisation mit ihren eigenen Mitteln zu finanzieren.  

Am dritten Punkt kam es endgültig zum Streit: Die Minderheitsfraktion forderte, eine halbe Stelle für organisatorische Bedürfnisse der LCR insgesamt (etwa die Arbeit an der Wochenzeitung ‚Rouge’), aber eine volle Stelle für die eigene Fraktionstätigkeit zur Verfügung gestellt zu bekommen. Bezüglich der erstgenannten halben Stelle stimmte die Leitung dem Ansinnen des Minderheitsblocks zu. Jedoch verweigerte sie ihre Zustimmung zu dem Wunsch, daneben über eine Stelle für auch außerhalb der gemeinsamen Organisation gelagerte Aktivitäten der Minderheitsfraktion zu verfügen. Daher entfiel nunmehr die volle Stelle, die bis dahin Christian Piquet - seit 28 Jahren Hauptamtlicher, und zuletzt Chefredakteur der Wochenzeitung ‚Rouge’ - besetzte. Ihm wurde „nur“ die halbe Stelle, die nach dem Beschluss verblieb, angeboten. Die Minderheitsfraktion verweigerte darauf sämtliche Mittel, die ihr laut dem Beschluss zugestanden hätten, und ging zwecks Denunziation einer behaupteten „politischen Repression innerhalb der LCR“ - die ihr widerführe - an die Öffentlichkeit. 

Darüber berichtete erstmals eine Meldung der Nachrichtenagentur AFP vom 27. März (vgl. http://afp.google.com/article/ALeqM5gW61-0WFFFV1NotNJD3spqToeggQ) und am folgenden Abend ein Artikel von Sylvia Zappi in der liberalen Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’. Die Journalistin, die als eine von mehreren Spezialistinnen für die politische Linke bei der (politisch in ihrer Redaktion ein breites Spektrum, vom brutal-thatcheristischen Wirtschaftsredakteur Eric Le Boucher bis hin zum LCR-nahen Gewerkschaftsspezialisten Rémi Barroux, abdeckenden) Zeitung tätig ist, steht Ch. Piquet in seinen Positionen sehr nahe. Ihr Artikel musste den Eindruck erwecken, dass innerhalb der LCR eine quasi-stalinistische Säuberungswelle gegen „den bekanntesten innerparteilichen Oppositionellen“ am Laufen sei. Erleichtert wurde das Entstehen dieses Eindrucks allerdings auch durch ungeschickte, dumme und falsche Äußerungen des Angehörigen des Mehrheitsblocks und der Leitung, Pierre- François Grond. Dieser warf Picquet in wohl kaum hinreichend abgewogenen Worten vor, er wolle nicht „die durch die Organisation beschlossene Linie anwenden“ und „seinen Pflichten in der Repräsentation der Organisation nachkommen“, was tatsächlich unangenehm nach parteikommunistischen Politikformen vergangener Tage klingt - auch wenn die LCR als solche überhaupt nicht so strukturiert ist. Pierre-François Grond schafft es durchaus, obwohl nicht Hauptamtlicher (sondern von Beruf Lehrer), sich wie ein Apparatschik auszulassen, ja als ob er der letzte stalinistische Bürokrat wäre, obwohl dies überhaupt nicht der Lebensrealität der LCR entspricht. Woraufhin es die Minderheitsfraktion natürlich leicht hatte, eine entsprechende Kampagne zu starten, mittels derer sie sich als Opfer brutaler politischer Repression darstellt…  

Auch wenn der Anlass der Affäre nun wirklich so dramatisch nicht ist - die Leitung hatte dem „zur Hälfte gekündigten“ Christian Piquet das Auffinden „alternativer Lösung“ zur Beschäftigung oder aber einer konsequenten finanziellen Abfindung angeboten -, so wuchs der Schneeball nun allmählich zur Lawine an. Seitdem springen so einige bürgerliche Medien auf diesen Zug auf. Und man darf darauf warten, dass sie nun endlich ein Argument gefunden haben, um auch die LCR künftig zumindest teilweise in finster-negativem Licht erscheinen zu lassen…

Editorische Anmerkungen

Den Aufsatz erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.