Die (Selbst-)Befreiung von Buchenwald
Leseauszug aus "Häftling ... X ... in der Hölle auf Erden!"


von  Udo Dietmar

04/08

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Am Sonntag, dem 8. April, erließ der SS-Kommandant Pister den Befehl, das Lager zu evakuieren. Außer den kommandierten Häftlingen, die später folgen sollten, hätte innerhalb einer Stunde alles marschmäßig auf dem Appellplatz anzutreten. Ich gehörte zu denen, die den Transportabschluß bilden sollten. Wir kannten das „Evakuieren" nun schon zur Genüge!

Um in den sicheren Tod „evakuiert" zu werden, sollten die Insassen vor ihren Blocks appellmäßig antreten, zum Appellplatz marschieren, um dort in Transporte von je viertausend Mann eingeteilt zu werden.

Was konnten wir tun, um dem neuen geplanten Massenmord zu entgehen? Konnten wir uns diesem Befehl, der alle betraf, einfach widersetzen? Nein, das wäre Meuterei gewesen und hätte unsere sofortige Vernichtung zur

Folge gehabt, und zwar um so sicherer, als die SS-Bewachung durch den Zustrom der die Außenkommandos begleitenden Truppen um das Vielfache verstärkt war. Die Übermacht war so groß, daß in diesem Falle jeder Widerstand Selbstmord bedeutet hätte. Dazu befanden sich noch die SS-Blockführer und andere SS-Funktionäre im Lager. Hier konnte also nur Klugheit helfen.

Die in den langen Jahren zwangsmäßig ausgeübte direkte Befehlsübermittlung wurde von uns fallengelassen. Allen Lagerinsassen wurde die ergangene Anordnung nur in erzählender Form bekannt gegeben, jedem einzelnen also selbst die Entscheidung überlassen, ob er ihr nachkommen wolle oder nicht. Zeit und nochmals Zeit gewinnen, war die Parole, denn unsere Befreier waren inzwischen schon sehr nahe gekommen. —

Die Stunde war vorbei, der Zeitpunkt des Antretens da, aber kein Mensch stand auf dem Appellplatz.

Da betrat der SS-Kommandant selbst in Begleitung seines Stabes das Lager und berief die Lagerältesten zu sich, um von ihnen Rechenschaft über das Verhalten der Lagerinsassen zu fordern. Diese wichen in geschickter Form aus, worauf sämtliche Blockältesten herbeigerufen wurden. Auch diese verstanden es, sich aus der Affäre zu ziehen. Dann ordnete der Kommandant an, daß um zwei Uhr nachmittags alles endgültig anzutreten habe, da er sonst zweihundert bis an die Zähne bewaffnete SS ins Lager schicke, die seinem Befehl Nachdruck verleihen würden.

Um zwei Uhr aber war der Appellplatz so leer wie vordem. Kurz vorher war ich in den Franzosenblock Nr. 14 gegangen, wo ein deutscher Kamerad Blockältester war. Ich saß an einem der Tische und unterhielt mich mit einem deutschsprechenden Franzosen, als die Tür aufgerissen wurde und der Kommandant Pister höchstpersönlich in Begleitung seines Adjutanten hereintrat und in schreiendem Ton den Blockältesten verlangte. Dieser war gerade nicht da. Als er mich erblickte, brüllte er midi an, den Leuten sofortiges Antreten zu befehlen. Obgleich ich mit dem Block garnichts zu tun hatte, mußte ich gehorchen. Dem Kommandanten den Rücken zuwendend, rief ich den französisdien Kameraden zu:

„Rassemblement, camerades, depechez-vous im peu!" (Antreten, Kameraden, aber ein bißchen sdinell!), wobei ich mit den Augen zwinkerte. Die meisten verstanden mich sofort und traten auf die Blockstraße hinaus, wo sie schnell verschwanden, um sich irgendwo zu verstecken. Aber das Heraustreten ging diesem SS-Banditen nicht schnell genug. Er faßte einige der Nächststehenden bei den Ärmeln und stieß sie zur Tür hinaus mit den Worten: „Seid doch froh, daß Ihr aus dem Lager heraus und in geschützte Verhältnisse kommt. Wir wollen doch nur das Beste!"

Er streifte mich (dabei mit einem Blick. Die Antwort, die ich diesem Mörder mit den Augen gab, muß er wohl verstanden haben. Vielleicht kam es ihm auch zu dumm vor, die Leute selbst einzeln herauszujagen. Jedenfalls verließ er den Raum und trat auf die Blockstraße, die aber völlig leer war. Ich war ihm gefolgt. Wutschnaubend wandle er sich an mich mit der Frage, wo denn die Leute wären, worauf ich ihm erwiderte, daß ich es auch nicht wüßte und im übrigen ja für diesen Block nicht zuständig sei. Ich hielte mich nur zufällig hier auf.

In diesem Augenblick kehrte auch mein Kamerad, der Blockälteste, zurück, den er sofort das gleiche fragte. Dieser antwortete in geschickter Weise, daß er nicht verantwortlich gemacht werden könne, wenn die Leute nervös geworden seien. Sie hätten seinen, des Kommandanten Worten, die er vor acht Tagen an die versammelten Häftlinge richtete, geglaubt. Hier sei ihnen versprochen worden, das ganze Lager, so wie es sei, im Falle des weiteren Vordringens der Amerikaner chne Schaden an der Person eines jeden Häftlings zu übergeben. Wenn die Leute, da sie nun dennoch evakuiert werden sollten, mißtrauisch geworden seien und den gegebenen Befehlen nicht mehr gehorchten, so sei das nicht seine Schuld.

Mit seinen eigenen Worten geschlagen, entfernte sich dieser Strolch mit seinem Stabe, ging durch das Lagertor dem Kommandanturgebäude zu, um andere Gewaltmaßnahmen anzuordnen, die auch nicht lange auf sich warten ließen.

Dieser Mörder hatte genau acht Tage vorher dem gesamten Lager das erwähnte Versprechen gegeben, jedoch von vornherein niemals die Absicht gehabt, es zu halten. Er wollte hierdurch lediglich die vierzig und mehr Kameraden, die am nächsten Tage aufgerufen werden sollten, um ermordet zu werden, in Sicherheit wiegen.

Wenige Minuten später stürzten zweihundert stark bewaffnete SS, jeder dazu noch mit einem dicken Knüppel in der Hand, ins Lager und trieben, was sie nur an Häftlingen habhaft werden konnten, auf den Appellplatz. Dort wurden dann „Evakuierungs-Transporte" zusammengestellt, die einige Zeit darauf aus dem Tor marschierten, um das gleiche Schicksal zu erleiden wie die vorher Evakuierten. Die anderen mußten noch formiert im Lager stehen bleiben und auf Abruf warten. Sie blieben aber nicht stehen, da die Furcht, ermordet zu werden, sie immer wieder in irgendwelche Verstecke trieb. Die in diesen entscheidenden Tagen von den Lagerfunktionären unter ständiger Bedrohung des eigenen Lebens gezeigte sabotierende Haltung den SS-Befehlen gegenüber, um Zeit und immer wieder Zeit zu gewinnen, hat vielen Tausenden von Leidensgefährten das Leben gerettet.

So kam der 11. April.

In der vergangenen Nacht hatte kaum einer von uns ein Auge zugetan, denn das Artilleriefeuer war so stark, daß die Baracken davon erzitterten. Als der Morgen graute, fühlte jeder, daß der entscheidende Tag gekommen war.

Zu essen gab es schon den zweiten Tag nichts mehr. Die SS hatte allen Proviant aus dem Lager herausgeholt. Es war ein Tag banger Erwartung des Kommenden. Die wenigen Eingeweihten lagen verteilt oder geschlossen in Bereitschaft und harrten der Entwicklung der Dinge. Heute mußte die Entscheidung fallen. Was würde uns der Tag bringen?

Die langersehnte Freiheit und das Leben oder — — — den Tod?? Wir waren jedenfalls bereit, unser Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Es wurde neun, zehn, es wurde elf Uhr. Der Geschoßdonner rollte näher. Noch war die SS im Lager, noch zeigte sich nichts Auffälliges, woraus wir hätten schließen können, daß unsere Vernichtung beginnen sollte. Eine dumpfe, drückende Stimmung lag über dem Ganzen wie Gewitterschwüle. Die Lautsprecher in den Blocks, die sonst die SS-Befehle vermittelten, hatten den ganzen Vormittag geschwiegen. Es war einhalbzwölf Uhr.

Ich saß in meinem Block. Gerade vorher hatte midi ein Kamerad nach kurzem Besuch verlassen, wobei wir uns nodi einmal die Hände drückten, der eine in des anderen Augen las und jeder wußte, was er bald zu tun haben würde.

Noch einmal überprüfte ich in Gedanken die Situation. Jede Minute konnten die Würfel fallen. — — — Ja, sie würden fallen, so oder so, ein jeder fühlte es. Würde man uns noch vergasen?

Würde man uns mit Brandbomben belegen und uns niederknallen? Was wird geschehen?

Aber komme, was da mag, die Rechnung würde teuer werden. — In meinen Gedanken wurde ich durch das Aufheulen eines anhaltenden, dumpfen Sirenentones unterbrochen.

Daraufhin ein Knacken im Lautsprecher, dann die öftere Wiederholung eines Befehls:

„Alle SS-Angehörigen aus dem Lager!"

Das Heulen der Sirene, die das Herannahen amerikanischer Panzer ankündigte, und dieser SS-Befehl zündeten. — Die Stunde der Abrechnung war gekommen! —

Jeder wußte, was er für die Erhaltung des Lebens aller Lagerinsassen zu tun hatte. Alles war bis ins kleinste organisiert.

Die Luft war erfüllt vom Brummen der schweren Panzermotoren, vom Bersten der Granaten, vom Knattern der MG's, vom Lärm des Kampfes, der sidi in diesem Augenblick um Buchenwald herum abspielte. Im Lager selbst ein Raunen, ein Flüstern von Befehlen. Gut getarnte Verstecke wurden aufgerissen und Waffen, Maschinengewehre, Karabiner, Pistolen, Handgranaten, Panzerfäuste gingen von Hand zu Hand. Alles blitzschnell.

Ein Schleichen auf den Lagerstraßen. Von Block zu Block in Deckung .springend vor den pfeifenden Kugeln der SS, die noch die Wachtürme besetzt und das Lager umschlossen hielt, arbeiteten sieh einzelne Trupps an unsere Peiniger heran. Einige Kameraden, mit isolierten Drahtscheren bewaffnet, hatten die Aufgabe, den mit mehreren tausend Volt geladenen Stacheldrahtzaun zu durchschneiden.

Maschinengewehre hackten, Handgranaten zerplatzten, Geschoßgarben prasselten immer wieder, und in nächster Nähe das Brummen der Sherman-Panzer, die an Buchenwald vorbeifuhren.

Der Turmgürtel, der das untere Lager umschloß, war bereits freigelegt. Die SS, die nicht mehr flüchten konnte und sich uns ergab, wurde gefangen genommen. Einzelne andere, deren Geschoßgarben uns den Tod bringen sollten, wurden im Kampf niedergemacht.

Der erste Trupp von achtundfünfzig gefangener SS stand da mit erhobenen Händen und wurde entwaffnet. Kalkweiß, mit schlotternden Knien erwarteten sie das gleiche Schicksal, das sie Millionen von uns in grausamster Weise bereitet hatten. Jetjt würde, so glaubten sie, die Vergeltung über sie hereinbrechen und sie alle in Grund und Boden stampfen. Aber keiner von uns legte Hand an sie. . . .

Sie wurden abgeführt, um einem gerechten Urteil ausgeliefert zu werden. Das SS-Lager selbst und die Umgebung von Buchenwald wurden systematisch durchgekämmt und viele Gefangene eingebradit. Die Türme, die mit MG's bestückt waren, auf denen noch vor wenigen Minuten die SS als „Ewige Wache" stand, wurden von unseren Leuten beseht. Auf dem Hauptturm wehte die weiße Fahne. Am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald zog eine Abteilung ehemaliger Häftlinge als Wache auf. Der uns jahrelang umschließende Stacheldraht war an mehreren Stellen durchschnitten.

Wir waren frei! — — —

Einige Stunden danach rollte der erste amerikanische Panzer ins Lager Buchenwald. Der Offizier war überrascht, uns völlig befreit zu finden und erstaunte noch mehr, als er vernahm, daß wir uns beim Herannahen der alliierten Truppen selbst befreit hatten. Er verkündete dann im Namen der alliierten Mächte unsere Freiheit und dankte für die hier angetroffene Disziplin.

Freiheit!!!

Gibt es eigentlich in der ganzen Welt etwas Schöneres, etwas Herrlicheres, etwas Erhabeneres als die Freiheit?

Da standen sie, die noch stark auf den Beinen waren und im Lager herumlaufen konnten, umhalsten sich, drückten sich immer wieder die Hände und versicherten sich wiederholt, daß sie frei wären. — — — Frei, erlöst — endlich erlöst — von all dem Furchtbaren, Grausamen, das sie erleben mußten. Viele weinten vor Freude wie Kinder.

Ich selbst konnte nicht so froh werden. Auf mir lastete der seelische Druck noch zu stark. Ich empfand die erste Stunde der Freiheit als etwas Unaussprechliches, Großes, das nicht allein über uns, sondern über alle gequälte Menschen Europas gekommen war. Ich fühlte, daß die neue Zeit angebrochen war, daß etwas Großes, Reines, Ungeahntes von uns Besitz ergriffen hatte. Dieses mächtige Gefühl war so stark, daß ich zurückgezogen eine kurze Zeit allein verbringen mußte .....

Der amerikanische Offizier traf im Einvernehmen mit unserer Lagerleitung sofort Maßnahmen betreffs unverzüglicher Herbeischaffung von Verpflegung und teilte uns mit, daß wir uns vorerst selbst überlassen blieben, bis die in den nächsten Tagen folgenden Besatzungstruppen für alles weitere sorgen würden.

Das gesamte Lager stand unter dem Freudenrausch der wieder gewonnenen Freiheit. Die endliche Erfüllung des oft schwer geprüften Glaubens und der manchmal vagen Hoffnung stärkte nicht nur die noch einigermaßen Gesunden, sondern auch die durch den jahrelangen Hunger krank und schwach Gewordenen und gab uns allen neue Kraft.

Was in der Umgebung von Buchenwald nur an Nahrungsmitteln aufzutreiben war, wurde nach oben geschafft. Die Brotration wurde am nächsten Tage zunächst verdreifacht, das Essen kräftig und reichlich zubereitet. Trotz der Ermahnungen, bei dem Verzehr der Mahlzeiten auf den ausgehungerten Körperzustand Rücksicht zu nehmen, starben viele Leidensgefährten nach dem ersten Sattessen, das sie jahrelang entbehren mußten.

Als endlich die ersten amerikanischen Soldaten unser Lager betraten, spiegelte sich unsere große Freude auf ihren Gesichtern wider. Sie waren verlegen wie Kinder, ob all der Dankbarkeit und Freude, die aus uns sprach. —

— Um so größer war ihr Entsetzen, als sie weiter ins Lager geführt wurden. Das furchtbare Elend, der Anblick der bis zu Skeletten abgemagerten Menschen, der ungeheuren Leichenberge, ließ ihren Blick vor den grauenhaften Spuren der nationalsozialistischen Barbarei erstarren. Als man ihnen dann die Torturen schilderte, die Foltereinrichtungen zeigte, soweit diese noch vorhanden waren, steigerte sich ihr Entsetzen über die Bestialitäten bis zur Sprachlosigkeit.

Täglich starben noch unzählige Kameraden an den Folgen der erlittenen Grausamkeiten und Qualen. Aber sie waren die ersten, die wieder als Menschen beerdigt wurden. Sie wurden beigesetzt und ihre Gräber mit Namen versehen, damit ihre Angehörigen sie gegebenenfalls später in die Heimat überführen könnten.

Die Krankenpflege lag von nun an ganz in den Händen des amerikanischen Militärs. Die Sanitätssoldaten pflegten und betreuten die Schwerkranken mit rührender Liebe. Es wurde alles versucht, die große Not, das unsagbare Elend so schinell wie möglich zu lindern und zu beseitigen.

Editorische Anmerkungen

Dietmar, Udo
"Häftling ... X ... in der Hölle auf Erden!"
Herausgegeben vom Land Thüringen Landesamt für Arbeit und Sozialfürsorge. Opfer des Faschismus.
Thüringer Volksverlag, 1945

S.138-141 OCR-Scan Red. trend