Kritische Anmerkungen
zu den 28 Thesen zur Klassengesellschaft der »Freundinnen & Freunde der klassenlosen Gesellschaft«

von Robert Schlosser

04/08

trend
onlinezeitung

In der letzten Ausgabe veröffentlichen wir die »28 Thesen zur Klassengesellschaft« der »Freundinnen & Freunde der klassenlosen Gesellschaft« und riefen zu einer "Kommunistischen Debatte" auf. In dieser Ausgabe veröffentlichen wir ein Kritikpapier mit zwei Nachträgen an den Thesen von Robert Schlosser aus seiner Korrespondenz mit den "FreundInnen". Diese Texte werden bewusst in einer Art Rohzustand veröffentlicht, um damit auch formal die Offenheit der Diskussion zu unterstreichen. / Red. trend

I.

In These 3 der 28 Thesen zur Klassengesellschaft heißt es:

Die Kapitalisten können die Ausbeutung, das Auspumpen von Mehrarbeit, nicht mehr durch Verlängerung des Arbeitstages steigern; ebenso verhindert der Widerstand der Arbeiter Lohnsenkungen. Der Wert der Ware Arbeitskraft wird nun vielmehr gesenkt, indem die Lebensmittel der Arbeiter verbilligt werden.


Kommunistische Debatte

Diese Steigerung des relativen Mehrwerts bedeutet, dass die Ausbeutungsrate, das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Arbeit, erhöht werden kann, obwohl die Arbeiterinnen kürzer arbeiten und sich für ihren Lohn mehr kaufen können. Der Siegeszug des Reformismus gründet in der damit gegebenen Möglichkeit einer partiellen Versöhnung von Kapitalisten und Arbeitern, weil die einen weiter akkumulieren können, ohne dass den anderen zwangsläufig immer mehr genommen werden müsste, sie tatsächlich immer weniger bloße Habenichtse sind.“ (S. 12)

Aus verschiedenen Gründen kann ich dieser Argumentation nicht folgen:

  1. Die Kapitalisten können nicht nur, sondern sie müssen heute die Ausbeutung steigern durch Verlängerung des Arbeitstages, weil unter den durch Klassenkämpfe modifizierten Verwertungsbedindungen (sozialreformistisch gesetzte Schranken für die Verwertung) die Produktion des relativen Mehrwertes an seine Grenzen gestoßen ist! Verlängerung der Arbeitszeit steht daher überall ganz oben auf der Agenda des Kapitals!
  2. Der Widerstand der Arbeiterinnen verhindert nicht die Lohnsenkungen und kann das auch gar nicht unter den Bedingungen anhaltender Überakkumulation von Kapital und überzyklisch steigender Massenarbeitslosigkeit. Vielmehr nutzt das Kapital diese Massenarbeitslosigkeit, um die Löhne mit Erfolg überall zu senken. Dies geschieht sowohl durch das Angebot von Hungerlöhnen seitens des Einzelkapitals als auch durch unmittelbaren Zwang, der von Seiten des ideellen Gesamtkapitalisten ausgeübt wird (Zumutbarkeit von Lohnarbeit, Schikanieren der Arbeitslosen).
  3. Wertebene ist nicht gleich Preisebene! Wenn sich die Lebensmittel für die LohnarbeiterInnen verbilligen, so hat sich damit keineswegs automatisch die Ausbeutungsrate erhöht, also das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Arbeit verändert. Die Ausbeutungsrate für das Kapital, das Verhältnis von bezahlter zu unbezahlter Arbeit, erhöht sich erst dann, wenn die Löhne entsprechend sinken, sich also den verbilligten Lebensmitteln anpassen (von anderen Gesichtspunkten wie Veränderung der Bedürfnisse, Veränderung des „Notwendigen“ hier einmal abgesehen). Die Verbilligung der Lebensmittel für die LohnarbeiterInnen führt nicht automatisch zu einem Sinken der Löhne! Dies geschieht erst dann, wenn ein entsprechend konsolidiertes  Arbeitslosenheer geschaffen ist. (vergl. meine Kritik an Michael Heinrich!)

II.

In These 6 heißt es:

„Die Trennung der russischen Revolution in eine >bürgerliche< (Februar) und eine >proletarische< (Oktober) Phase ist ideologisch. Soziale Revolutionen bewegen sich innerhalb der Möglichkeiten, die die vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse bieten. Und diese verändern sich nicht innerhalb weniger Monate.“ (S. 16) 

Dem stimme ich vorbehaltlos zu! Was aber soll es bedeuten, wenn ich auf Seite 18 über die russische Revolution lese: 

„Niemand kann sagen, was geschehen wäre, wenn die sozialen Konflikte einen anderen Verlauf genommen hätten.“ 

oder in These 9 auf Seite 21:„Der materialistische Geschichtsbegriff geht davon aus, dass es anders hätte kommen, die Klassenkämpfe einen anderen Ausgang hätten nehmen können.“ 

Nach meinem Verständnis wird hier der materialistische Begriff aufgegeben, bzw. wird das zurück genommen, was auf Seite 16 in allgemeiner Form so richtig formuliert war.

Wenn ihr euch mit den „vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen“ im Russland von 1917 und dem Entwicklungsstand der damals „hochentwickelten kapitalistischen Länder“ etwas konkreter befasst hättet, wären Euch vielleicht Skrupel gekommen. 

Ich will hier nur ein Beispiel kurz ansprechen (Zitat aus einem anderen Papier von mir), um deutlich zu machen, warum meiner Meinung nach damals ein moderner, dem Kapitalismus überlegener Kommunismus nicht auf der Tagesordnung stand. Stichwort: gesellschaftlicher Verkehr, Kommunikation! 

„Als der Realsozialismus in unterentwickelten Ländern wie Russland oder China eingeführt wurde, gab es keine moderne Informations- und Kommunikationstechnologie, kein Internet. Die Massenkommunikation war wesentlich Einbahnkommunikation, die dafür bereit stehenden Mittel eben Zeitungen, Flugblätter, später noch der Film. Alles Instrumente von Fachpersonal, einer Minderheit, um die Mehrheit zu beeinflussen. Die Mehrheit hatte kaum Möglichkeiten direkt zu reagieren und ihre Bedürfnisse zu artikulieren, es sei denn auf gelegentlichen Versammlungen oder durch Aktionen. Es kommt aber darauf an, dass jedes Individuum, jeder Einzelne, unmittelbar intervenieren kann! Man kann nicht immer Versammlungen einberufen oder in Permanenz tagen, schon gar nicht, wenn es darum geht, dass räumlich über große Distanzen getrennte Personen miteinander kommunizieren müssen / Kommunismus als Projekt der entwickelten kapitalistischen Länder / Kommunismus als Alternative zum Weltmarkt. Das Internet – wie moderne Netzwerke überhaupt -  machen es möglich! Die Mittel gesellschaftlicher Kommunikation wachsen uns also zu. Es kommt darauf an, sie entsprechend zu nutzen! Freie Assoziation freier ProduzentInnen! Unmittelbare Vergesellschaftung, vermittelt durch eine bestimmte Technik!

Wenn man das ganze technisch ausdrücken will, dann handelte es sich bei realsozialistischer Planung eben um eine Steuerung und nicht um eine Regelung gesellschaftlicher Prozesse. Rückmeldungen waren geradezu unerwünscht. (Wenn sie kamen, wurden sie von Leuten wie Stalin in unglaublich flacher Manier abgefertigt - „Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“) Es gab kaum Möglichkeiten dafür und wenn sie mit den beschränkten Möglichkeiten doch erfolgten, wurden sie unterdrückt. Das Ausbleiben solcher Rückmeldungen oder ihre Unterdrückung produziert aber treibhausmäßig Fehlplanung, die an tatsächlichen Bedürfnissen vorbei geht. Die realsozialistische Entwicklung dokumentiert eindrucksvoll eine endlose Reihe solcher Fehlplanungen. Daraus schlussfolgern viele, dass Planung überhaupt nicht funktionieren kann und man den Markt braucht. ...“ 

III.

Damit wäre ich beim „Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ und ich bin nicht damit einverstanden, wie das in den Thesen abgehandelt wird.

In These 17 heißt es:

Vom Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auszugehen, ist nicht ohne Grund in Verruf geraten. In seiner vulgärsten Fassung wurde dieser Widerspruch so verstanden,  dass der Sieg des Sozialismus durch technologischen Fortschritt gesetzmäßig verbürgt sei. Eine abgemilderte Variante verzichtet auf dieses Siegesgewissheit, versteht aber ebenfalls den hier und heute bestehenden Produktionsapparat als Vorboten des Sozialismus, zu dessen Durchsetzung es neu eines Wechsels im Eigentumstitel bedürfe.“ (S.32)

Ich will gar nicht bestreiten, dass es solche Verballhornungen gab und gibt, aber ihr belasst es im Prinzip dabei, bzw. entwickelt eine Argumentation im Kontext des „tendenziellen Falls des Gebrauchswertes“, die die Frage, um die es hier geht, eher weiter verdunkelt, als das Licht in sie gebracht würde. Es geht wohlgemerkt um den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, nicht um die konkrete Gestalt der Produktivkräfte und schon gar um die Gebrauchtswerte, die durch sie erzeugt werden

Bei Marx heißt es.

„Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandenen Kapitals.“ (Kapital Bd. 3, S. 260)

(Des vorhandenen Kapitals, nämlich eines gegebenen Wertes, der auch erhalten sein will. )

Hätte Marx an Stelle der Formulierung „unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte“ geschrieben „unbedingte Entwicklung der Produktivkraft – nämlich Produktivität -  der gesellschaftlichen Arbeit“, dann wäre die Sache unmissverständlicher. (Es gibt Stellen bei ihm, an denen das ganz unmissverständlich formuliert ist! So aber wird seit Generationen darüber gestritten, ob die konkret entwickelte Technik nun über den Kapitalismus hinausweise oder ganz gar/immer mehr vom Kapital bestimmt sei)

Auf den folgenden Seiten stellt Marx diesen Konflikt genauer dar. Er äußert sich in der Überproduktion von Kapital, was Überproduktion von Waren einschließt bei gleichzeitiger Produktion einer Überangebotes an Lohnarbeitskräften, die außer Kurs gesetzt werden. Es wird zu viel Reichtum produziert, nicht überhaupt zu viel Reichtum, sondern zu viel Reichtum in seiner kapitalistischen Form.

Es ist nicht die sachliche Gestalt der Produktivkräfte, die Industrie, die Produktionstechnik in ihren konkreten Ausgestaltungen, die mit dem beschränkten Zweck der Kapitalverwertung in Widerspruch gerät, sondern es ist die damit erzeugte gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit, die zu viele Waren erzeugt, welche nicht als Kapital fungieren können, weil sie unverkäuflich aus seiner Zirkulation herausfallen.

Die außerordentlich hohe Produktivität der Arbeit beruht sowohl auf konkreter, materieller Technik, als auch auf der Teilung der Arbeit in Gesellschaft und Fabrik (samt den subjektiven Befähigungen der Menschen, die dieser Arbeitsteilung entsprechen). Die Produktivität der Arbeit beruht also sowohl auf gegenständlich-objektiven, wie auf ideell-subjektiven Voraussetzungen, auf Anwendung von in Maschinerie vergegenständlichter Arbeit, wie auf der Anwendung je spezifisch qualifizierter lebendiger Arbeit.

Die im Kapitalismus angewandten Mittel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität sind ausnahmslos in Frage zu stellen, ohne dass man die erreichte Arbeitsproduktivität generell selbst in Frage stellen müsste oder sollte. Am deutlichsten wird das bei der Arbeitsteilung, denen die Lohnabhängigen unterworfen werden, also den subjektiven Voraussetzungen (im Rahmen antagonistischer Produktionsverhältnisse) der außerordentlichen hohen Arbeitsproduktivität. Das gilt aber auch für die diverse, absurde und gefährliche Produktionstechnik. 

Die Menschheit, bzw. das mögliche sozialrevolutionäre Subjekt, kann weder die gegenständliche Technik noch das Qualifikationsniveau von heute auf morgen ändern. Das dauert seine Zeit. Z.B.:

Die heutige Produktionstechnik und die daraus resultierende Produktivität von Arbeit beruht nicht zuletzt auf der Anwendung nicht menschlicher Energie. Wie man heute unschwer feststellen kann, bleibt diese gigantische Anwendung nicht menschlicher Energie keineswergs frei von unerwünschten „Nebenwirkungen“, die den eigentlichen Fortschritt in der Produktivität, also der hervorbringenden Kraft menschlicher Arbeit allmählich bedrohen.

Wenn es nicht primär darum ginge einen vorhandenen Kapitalwert zu erhalten und zu vermehren, dann wäre die Menschheit in der Lösung des Energieproblems vermutlich um vieles weiter. Aber gerade im Energiesektor ist viel Kapital in großen, teuren Anlagen gebunden, woraus sich ein zäher und energischer Widerstand der Kapitalbesitzer gegen die Entwicklung anderer Formen der Energiegewinnung ergibt. (Sie wollen Entwertung vermeiden!) 

Der Konflikt zwischen Ausdehnung der Produktion und der Verwertung produziert mehr oder weniger verheerende Krisen und eine schroffe soziale Polarisierung der Gesellschaft. Damit erzeugt dieser Widerspruch zugleich eine gesetzmäßige, objektive Dynamik der Klassenkämpfe (mit der die bewussten, revolutionären Kräfte rechnen müssen, wenn sie Voluntarismus vermeiden wollen) und schließlich die Notwendigkeit sozialer Revolution.

Wenn wir nicht von diesen objektiven Voraussetzungen des Klassenkampfes und einer notwendigen sozialen Revolution „ausgehen“ sollen, die sich auf Grund des Widerspruchs von Produktivkräften (im Sinne der dadurch bewirkten Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit) und Produktionsverhältnissen herausbilden, wovon sollen wir denn stattdessen ausgehen? In den Thesen habe ich dazu keine nachvollziehbare materialistische Erklärung gefunden.

Auch ich bin der Meinung, dass die Geschichte hätte anders verlaufen können. Eine gesellschaftliche Notwendigkeit wird immer auch produziert und nicht einfach nur vorgefunden. (Der Stalinismus war nicht notwendig! Er wurde aber immer notwendiger, je länger die Bolschewiki die Macht behaupteten und der Klassenkampf die russische Gesellschaft wie die internationalen Verhältnisse veränderte und zu bestimmten Resultaten führte, auf die ich hier nicht eingehen will.) Allerdings schließe ich aus, dass nach dem 1. Weltgemetzel der Kommunismus möglich gewesen wäre! Eine Gesellschaft geht nie unter, solange sie nicht alle Produktivkräfte entwickelt hat, zu deren Entwicklung sie fähig ist. (Marx, sinngemäß) Ich bin der Überzeugung, dass das Kapitalverhältnis sein Entwicklungspotential noch nicht ausgeschöpft hat und fühle mich darin von der gesellschaftlichen Praxis bestätigt. (Wäre dies nicht der Fall, dann müssten wir meiner Ansicht nach tatsächlich seit Jahrzehnten in einer permanenten Krisensituation leben, wie sie etwa in der Krisentheorie der Komintern oder auch bei Kurz und Kompanie angenommen wird. Solche Theorien werden aber beständig lügen gestraft.) Aus meiner Sicht erklären nicht die „falschen Theorien“ das bisherige Ausbleiben der Kommunismus, sondern die praktischen gesellschaftlichen Umstände und die daraus resultierenden Ausprägungen des Klassengegensatzes. (Dass dies erklärungsbedürftig ist, weiß ich auch.)

Das beständige, zur Mode gewordene Zerfleddern des „Traditionsmarxismus“ hat jedenfalls nicht dazu geführt, das bisherige Scheitern des proletarischen Kommunismus zu erklären. Die modernisierte Linke hat bis jetzt vor allem ihren Beitrag dazu geleistet, dass jede Erinnerung an die Organisation der Klasse auf der Basis sozialistischer Zielsetzungen verloren geht. Es wundert mich jedenfalls nicht, dass die Klassenkämpfe in jenen Ländern am entwickeltsten sind, in denen die Traditionen des Marxismus und der Arbeiterbewegung noch lebendig gehalten werden, bzw. kritisch an ihnen angeknüpft wird. Die antimarxistische moderne Linke mag sich radikal geben, sie wird es nie weiter bringen als bis zur Kommentierung sozialer Bewegung der Klasse. Zu ihrer Organisierung auf der Basis gemeinsamer Ziele taugt all die phantastische Theorie nicht. 

Ihr wendet Euch gegen den „Produzentenstolz“ (S. 34), weil so viel Mist mit so miesen Mitteln produziert wird, und verweist kurze Zeit später positiv auf „das Wissen und die Erfahrung der Proletarierinnen und Proletarier in der Produktion“ wovon „die weltweite Aneignung und Revolutionierung der Produktion des materiellen Lebens“ (S.51) „in letzter Instanz“ abhinge. Für mich ist das ein Widerspruch, allerdings ein sehr realer, den ihr allerdings nicht als solchen bearbeitet und theoretisch auflöst. 

Das von Euch angesprochene  Wissen und die Erfahrung gehören zur subjektiven Seite der Produktivkraftentwicklung. Eine Bedingung für die „weltweite Aneignung und Revolutionierung des materiellen Lebens“ bilden sie aber nur als eine Qualifikation des „Gesamtarbeiters“

Die einzelnen LohnarbeiterInnen sind einer bedrückenden und oft verdummenden Arbeitsteilung unterworfen. Von Bedeutung sind ihr Wissen und ihre Erfahrung nur, sofern der „Gesamtarbeiter“ mehr ist als eine gedankliche Konstruktion, nämlich real organisiertes Kollektiv. Nur in der Verbindung von Produktentwicklung und Produkterzeugung, von Wissenschaft, konstruktiver Anwendung und hervorbringender Arbeit ergibt sich eine Qualifikation, die es ermöglicht die Produktion ohne Privateigentum, kollektiv, fortzuführen und allmählich um zu gestalten.

Eine wirkliche soziale Revolution kann nur das Ergebnis der Praxis des „Gesamtarbeiters“ sein, der in jedem einzelnen Betrieb, wie im gesellschaftlichen Rahmen, als Klasse, organisierte Gestalt annehmen muss.

Aus meiner Sicht ist die Entwicklung von „Produzentenstolz“ (besser vielleicht „Produzenten-Selbstbewusstsein) ein konstituierendes Element eines sozialrevolutionären „Gesamtarbeiters“. Die Gewissheit, die materielle Lebensproduktion in freier Assoziation, ohne Kapital, also ohne fremdes Kommando über die eigene Arbeitskraft, bewerkstelligen zu können, kann nur aus der Produktionserfahrung des kollektiven Gesamtarbeiters kommen. (Kollektiv organisiertes Wissen und kollektiv organisierte Erfahrung.)

Der notwendige Produzentenstolz, von dem ich spreche, schließt Kritik an dem was und wie es heute produziert wird nicht aus. Im Gegenteil! Es handelt sich dabei nicht um den Stolz von Individuen, auf die eigenen Fähigkeiten. Ein solcher Produzentenstolz ist vom Kapital selbst in Gestalt etwa der tayloristischen Arbeitsorganisation lange für nicht unerhebliche Teile der LohnarbeiterInnen gebrochen. Geblieben ist ihnen allenfalls der Stolz darauf, die Leiden der Arbeitsqual, etwa am Band, aushalten zu können. („Produzentenstolz“ von Lohnsklaven, die sich keine andere Existenz als die eines Lohnsklaven vorstellen können.) Gemeint ist auch nicht der von Gewerkschaftsseite gepflegte „Produzentenstolz“ von „Opelanern“, „Nokianern“, etc., also von Lohnsklaven, die sich mit „ihrem“ Einzelkapital identifizieren. Der Produzentenstolz, von dem ich hier spreche kann sich überhaupt nur entwickeln in der Kritik an dem was und wie der heutigen Produktion, als ein Bewusstsein der Klasse. Er entwickelt sich aus dieser Kritik und schließt ein Selbstbewusstsein ein, dass zur Veränderung befähigt auch wenn es gleichwohl auf der heutigen Scheiße beruht. In der Befähigung heute diesen ganzen Mist unter unmenschlichen Bedingungen zu produzieren liegt zugleich die Befähigung alles in freier Übereinkunft über den Haufen zu werfen und anders zu machen. Die Gesamtheit der LohnarbeiterInnen ist die produzierende soziale Klasse, die den wesentlichen Beitrag zur materiellen Reproduktion der Gesellschaft leistet.  Auf die damit verbundenen kollektiven Fähigkeiten können und müssen diese Menschen stolz sein, was aber nur geht, wenn sie sich eben als Klasse verstehen und nicht als stolze einzelne „Arbeiter“, Verkäufer von Ware Arbeitskraft. 

Neben diesem Produzentenstolz (positiv) ist es vor allem die Kritik und Ablehnung des Privateigentums (negativ), die es ermöglicht, eine Front gegen das Kapital aufzubauen und die LohnarbeiterInnen als Klasse zu organisieren. Ohne diese beiden Elemente kann ich mir das Zustandekommen eines revolutionären Subjekts nicht vorstellen.

IV.

In These 20 heißt es:

„Die neue ‚gelbe Gefahr’ ist nicht mehr die spießbürgerliche Phrase antikommunistischer Geostrategen, sondern eine massive Bedrohung des Lebensstandards durch Verlagerung der Produktion.“ (S. 37) (siehe dazu auch Text 2 - kamue)

Problematisch an solchen Formulierungen finde ich, dass sie ganz an den Erscheinungen kleben, und weil sie das tun, eine offene Flanke gegenüber rechter „Kapitalismuskritik“ bieten. (Ich will Euch hier überhaupt nichts unterstellen und muss diesen Gedanken doch los werden, weil ich darin eine große Gefahr sehe.)

Verlagerung von Produktion bedeutet zweifellos für einen Teil der Klasse, einzelne Belegschaften, dass ihre Lohnarbeitsexistenz bedroht ist. (In Deutschland sind es nach einer neueren Untersuchung wohl 18% der Unternehmen, die verlagert haben oder verlagern wollen.) Wenn man jedoch an die Situation der Klasse als Ganzes denkt, dann bedeuten jene Prozesse der Kapitalverwertung, die Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer nach sich ziehen, keineswegs durchgängig „eine massive Bedrohung des Lebensstandards“. Im Gegenteil!

Wenn Kapital ins Ausland geht, dann nicht zuletzt wegen der höheren Profitabilität, die dort winkt. Geschieht dies als regelrechte „Bewegung“, während und auch weil überzyklisch die Zahl der Firmenpleiten sehr hoch ist und steigt, dann deutet das auf zu niedrige Profitrate des gesellschaftlichen Gesamtkapitals in hoch entwickelten Ländern hin.

Die massive Bedrohung des Lebensstandards der Lohnabhängigen ergibt sich aus der Akkumulation des Kapitals mit sich verändernder organischer Zusammensetzung und der daraus resultierend fallenden Tendenz der Profitrate. Die Verlagerung von Produktion ins Ausland ist eine Gegentendenz gegen den Fall der Profitrate, die den Druck des inzwischen enorm hohen konstanten Kapitalteils auf die Verwertung durch Billigstlöhne etc. lindern soll. Sie lässt das Kapital auch in den hochentwickelten Ländern wachsen, stärkt also die Nachfrage nach Lohnarbeit und „sichert“ damit auf die (ökonomische) Weise, in der das im Kapitalismus für Lohnabhängige möglich ist, auch den Lebensstandard hier. Konkret:

Die neue ‚gelbe Gefahr’ ist die boomende chinesische Wirtschaft. Die neoliberale Öffnung Chinas, der damit eingeleitete kapitalistische „Rekonstruktionsprozess“ der chinesischen Wirtschaft, die schier endlos boomende Konjunktur, lockt das internationale Kapital, eröffnet ihm „Auswege“ aus seinen Verwertungsschwierigkeiten der Überakkumulation. Die boomende chinesische Wirtschaft überschwemmt die Welt nicht nur mit billigen Massenwaren, die in „verlagerter Produktion“ erzeugt werden, sondern sie fragt auch weltweit Waren nach, z.B. Energie, Rohstoffe und Maschinen/Anlagen. Ohne diesen Heißhunger der kapitalistischen Wirtschaft Chinas nach diesen Waren stünde es um die internationale Verwertung von Kapital (Weltmarkt) erheblich schlechter und damit auch für die Klasse der Lohnabhängigen in den hoch entwickelten Ländern. Ihr Lebensstandard wäre aktuell weit mehr bedroht, gäbe es die „Verlagerung von Produktion“ nach China z.B. nicht. Die Verlagerung von Produktion ist nämlich nur Teilaspekt der Kapitalbewegung und muss als solche verstanden werden. Wird sie das nicht, hat man eben eine offene flanke gegenüber rechtspopulistischer, nationalistischer „Kapitalismuskritik“, die nie das Kapital, sondern immer nur einzelne seiner Erscheinung kritisiert. Würde der Lebensstandard der Lohnabhängigen hierzulande tatsächlich durch Verlagerung von Produktion bedroht, dann könnte ja ein Stop dieser Verlagerung (nationalistische Politik) die Bedrohung beenden. Man müsste sie dann geradezu fordern. Tatsächlich würde ein solcher Stop nur bewirken, dass noch mehr Geld in die Spekulation flösse und vermutlich die Zahl der Pleiten noch größer wäre. Ohne Produktionsverlagerungen (Gegentendenz gegen den Fall der Profitrate) wäre also die Bedrohung des Lebensstandards durch weniger starke Nachfrage des Kapitals nach Lohnarbeit insgesamt noch größer.

V.

In These 21 heißt es:

„Was Arbeiter und Arbeitslose eint, ist die permanente Angst.“ (S. 38)

Angst ist ein subjektives Gefühl und wenn es so wäre, wie ihr sagt, dann hätten wir ein kollektives Subjekt, vereint in Angst. Doch nicht einmal das ist der Fall. Die Gefühlslagen von Arbeitern (wen meint ihr eigentlich genau, wenn ihr von Arbeitern sprecht? Ist das doch der alte „Arbeiter der Faust“? Wir haben in unseren Diskussionen oft darüber gesprochen/spekuliert),  wie die Arbeitslosen sind individualisiert und sehr widersprüchlich. Da gibt es mindestens soviel Hoffnung auf individuelles, privates Glück, wie die Sorge und Angst vor Versagen, vor „Pech“ etc. Was Lohnarbeitende und Lohnarbeitslose einzig eint ist der objektive Status ihrer Lohnabhängigkeit (was ihnen allerdings nicht bewusst ist) und nichts anderes wird sie subjektiv einigen können, als die Erkenntnis, dass all ihre individuellen Lebenslagen Produkt dieser Lohnabhängigkeit sind, und die Verbesserung dieser individuellen Lebenslagen deren gemeinsame Gestaltung verlangt, jenseits des bürgerlichen Individualismus. 

VI.

In These 22 lehnt ihr die „Bittstellereien an den bürgerlichen Staat“ (S.38) ab und verweist auf S. 30 auf die Richtung, die die Argentinischen Piqueteros eingeschlagen haben. Nein, Bittsteller sind die Piqueteros nicht, aber Forderungen an den Staat stellen sie schon und müssen sie stellen, solange er als sie beherrschende und die Rahmenbedingung für Kapitalverwertung setzende Einrichtung existiert. Und sei es nur die Forderung, ihre Verletzung des Rechts auf Privateigentum anzuerkennen, d. h. nicht von der Polizei verjagt und durch die Justiz bestraft zu werden.

Darüber hinaus ist deutlich, dass diese Piqueteros keine einheitliche Richtung verfolgen. Ich habe in meinem Artikel über Zanon, Nokia und die Perspektiven darauf verwiesen, dass die Zanon-Leute – im Gegensatz zu anderen - explizit die Verstaatlichung des Unternehmens fordern unter Beibehaltung der „Arbeiterkontrolle ohne Patron“.

Die russische Revolution von 1905 begann mit einer Demonstration von Menschen, die den Zaren um etwas bitten wollten. Die Polizei ging mit brutaler Gewalt dagegen vor. Menschen, die sich über ihre Ziele verständigt haben (diese Notwendigkeit betont ihr ja auch), sind nicht immer gleich Sozialrevolutionäre. Die Ziele können sehr beschränkt sein und ebenso die Mittel, die man wählt, um sie zu realisieren. Was aus den zwangsläufig entstehenden Auseinandersetzunge wird, kann man vorher nicht sagen. Es hängt von den allgemeinen Zuständen, wie besonders vom Verhalten der Herrschenden ab.

Am 2. Juni 1967 demonstrierten in Deutschland Studenten mit mehr oder weniger eingeschränkten Zielen gegen den Schahbesuch. Was sich daraus entwickelte ist nicht zu erklären ohne die wütende Reaktion der prügelnden Sicherheitsbeamten des Schah und ohne die Erschießung von Benno Ohnesorg durch eine berliner Polizeibeamten.

Eure durchgängige Ablehnung von Forderungen an den Staat halte ich für verkehrt. Auf dieser Grundlage werdet ihr nicht in der Lage sein eine Praxis als KommunistInnen zu entwickeln, die mehr sein wird als die Kommentierung von Kämpfen oder die theoretische Analyse. War nichts anderes zu bieten hat als „den Kommunismus“, der wird von den sozialen Bewegung immer getrennt bleiben, niemals deren Teil werden können, wenn auch ein ganz besonderer.

Daraus ergibt sich für mich nicht die Verpflichtung, jeden Scheiß zu unterstützen, wohl aber die Verpflichtung, Forderungen zu entwickeln (durch theoretische Analyse, wie durch praktische Untersuchung und Gespräch), unter denen sich die Lohnabhängigen als Klasse zusammen finden und organisieren können. 

Mit Eurer Argumentation wider Forderungen an den Staat lassen sich auch alle Forderungen an die Kapitalisten ablehnen. Eure Thesen enthalten leider keinerlei Vorschläge, die den Weg zur sozialen Befreiung vorstellbar machen, die die Arbeit jener betreffen, die heute schon KommunistInnen sind und auf dieser Grundlage die Verbindung mit den sozialen Bewegungen suchen, zu deren Entwicklung beitragen wollen. Letztlich – scheint es - wartet ihr auf die Spontaneität der Massen, als Produkt des großen Schlamassels des Kapitals. Aber die entwickelt sich auch nicht einfach so. In Russland 1905 waren es Kommunisten, die einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Rätebewegung lieferten. Bei Lip waren es Sozialisten, die wesentlich dazu beitrugen die Besetzung etc. zu organisieren. Gleiches gilt für Zanon. Usw. usf. Alles Leute, die sich nicht scheuten, Forderungen an den Staat zu stellen, die sich in dieser oder jener Partei organisiert hatten, die ein Programm mit Forderungen hatte. Und wenn solche Forderungen keinen anderen Zweck erfüllen würden, als für die Verständigung jener zu sorgen, die ihre Ziele auch in nicht revolutionären Zeiten verfolgen, dann würde das ausreichen, um sie für unverzichtbar zu erklären. Die Ziele der KommunistInnen dürfen sich nicht in der abstrakten Phrase von Kommunismus, vom anderen Leben und Arbeiten, von der Veränderbarkeit der Welt etc. erschöpfen. Soziale Emanzipation als Bewegung hat immer konkrete Ziele, die es konkret zu formulieren gilt, auf der Basis von genau so konkreter Untersuchung und Kritik. Anders jedenfalls kann der Kommunismus niemals zu einer Bewegung werden, die den jetzigen Zustand aufhebt. Kommunismus muss wieder vorstellbar werden, um das herrschende Zerrbild von Kommunismus zerstören zu können, um Menschen schon heute ansprechen, sammeln und organisieren zu können.

Wenn Ihr auf Seite 45 schreibt:

„Jeder Kampf hier und heute für die Verbesserung des eigenen Lebens, der sich des Stellvertretertums erwehrt, in dem Selbstätigkeit stattfindet, ist das Experimentierfeld der künftigen Gesellschaft, deren Verkehrsformen nicht erst in der Revolution auf einmal da sind.“

dann würde ich das unterschreiben. Wie aber sollen Lohnabhängige hier und heute für die Verbesserung ihres eigenen Lebens kämpfen, ohne Forderungen an Kapital und Staat zu richten? Die Lebensumstände werden durch Kapital und Staat geprägt und solange das so ist, werden Menschen Forderungen an Kapital und Staat stellen müssen, um ihre Lebensumstände unter gegebenen Bedingungen zu verbessern. Für die Entwicklung der Auseinandersetzung, für die Eröffnung von Perspektiven jenseits eines bloßen Reformismus ist es daher wichtig, wie diese Forderungen formuliert sind und wie sie begründet werden. Wer sich darum nicht kümmern will, wird mit den Kämpfen hier und heute niemals viel zu tun haben und bleibt ausschließlich auf die objektive Entwicklung und eine dadurch erzeugte Revolution verwiesen. 

VII.

In These 28 (S. 49) verwerft Ihr den Gedanken, wonach „die Kritik der Gesellschaft zu einer ungeheuer schwierigen Angelegenheit“ erklärt wird.

Aus meiner Sicht arbeitet Ihr hier mit einer sehr groben Vereinfachung. Zumindest war und ist die radikale Kritik in der wirklichen Bedeutung des Wortes – an die Wurzel zu gehen (Wert und Wertgesetz) - eine ungeheuer schwierige Sache. Diese Kritik in den Grundzügen auszuarbeiten hat mindestens das maßlose Arbeiten und reichlich desaströse Leben eines Mannes gekostet. Es handelt sich um eine gigantische wissenschaftliche Leistung! Es ist z.B. eine Sache den Profit zu kritisieren und eine andere, ihn in allen seinen Formen auf den Mehrwert zurück zu führen. Es ist eine Sache, die „Ausbeutung“ zu kritisieren und eine andere, sie auf den Warencharakter menschlicher Arbeitskraft zurück zu führen. Usw. usf.

Davon unbenommen gilt natürlich, dass man die bürgerliche Gesellschaft auf alle möglichen Weise kritisieren kann, was keine „ungeheuer schwierige Angelegenheit“ ist. Sozialreformisten, religiöse Fundis und andere „Weltverbesserer“ demonstrieren das täglich.

Heute erweist sich allein die Bewahrung der Kritik der Politischen Ökonomie ganz offensichtlich als eine „ungeheuer schwierige Angelegenheit“. Ich zumindest, soweit ich dazu einen kleinen Beitrag leisten kann, muss dafür immer wieder an meine Grenzen gehen. 

Ihr schreibt weiter:

„Die Macht der Ideologie (siehe dazu auch Text 2 - kamue)  gründet weder in der vermeintlichen Undurchschaubarkeit der Verhältnisse noch in der Ignoranz der Individuen, sondern darin, dass sie das Leben unter der Herrschaft des Kapitals, die von den einzelnen selbst zu leistende Unterdrückung der Bedürfnisse, zum unausweichlichen Schicksal rationalisiert und dadurch erträglicher macht. Weil andere Verhältnisse verstellt sind, fügt sich das Alltagsbewusstsein den bestehenden ein. (?????was heißt das und wann sind die anderen Verhältnisse nicht mehr „verstellt“????)

Aufklärungsbemühungen, die den Leuten mit guten Argumenten auf die Sprünge helfen wollen, bleiben daher ohnmächtig.“ (S. 49) 

Lange habe ich über diese Sätze nachgedacht, versucht hinter ihren Sinn zu gelangen und befürchte fast, dass ich passen muss. Trotzdem hier meine Gedanken dazu.

Zunächst:

Warum schreibt ihr solche Thesen, gar eine ganze Zeitschrift voll, wenn ihr „Aufklärungsbemühungen“ für sinnlos haltet?

Aufklärungsbemühungen mit wirklich guten Argumenten, bleiben überhaupt nicht ohnmächtig. Die Bedingungen unter denen sie mächtig werden, werden bloß nicht von den Aufklärern bestimmt.

Wir haben z.B. eure Thesen in unserem kleinen Lesekreis mehrere Abende lang diskutiert und einiges gut gefunden und manches nicht. Und wenn es nur wir gewesen wären, die Eure Sachen aufgegriffen haben, so wärt ihr nicht ohnmächtig geblieben. Aber euch geht es wohl um Größeres, unabhängig vom allgemeinen gesellschaftlichen Zustand und vielleicht auch unabhängig von der „Reife“ eurer „Aufklärungsbemühung“. Dazu gleich mehr.

Bruno, Galilei etc. haben in düsteren Zeit gewirkt und es hat lange gedauert, bis ihr Werk der Aufklärung mächtig wurde. Sie haben es nicht erlebt. Auch Marx hat die ersten großen Erfolge seiner Aufklärung nicht erlebt. Und selbst in der jetzigen düsteren Zeit von Neoliberalismus und religiösen Fundamentalismus wirkt sein Werk der Aufklärung. Sonst gäbe es nicht die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft und mich nicht und vieles mehr auch nicht! 

Es erscheint mir offensichtlich, unter welchem Blickwinkel ihr die Aufklärungsversuche für vergeblich haltet:

Offenbar denkt Ihr ausschließlich an „die Massen“, offenbar messt Ihr die Wirksamkeit von Aufklärung an der Wirksamkeit heutiger oft flacher, falscher oder irgendwie abgedrehter „Agitation und Propaganda“. Dahinter verbirgt sich vielleicht die Erwartung, dass ein gutes Argument unter allen Umständen Wirkung bei „den Massen“ zeigen muss, sonst taugt es nicht. Gute „Aufklärung“ klärt sich aber zunächst selbst auf durch Erarbeitung von Theorie, die sich argumentativ behaupten kann und durch gesellschaftliche Praxis Bestätigung findet. Sie nimmt keine Rücksicht auf aktuelle Möglichkeiten von Verbreitung unter „den Massen“!

Ich sehe das Problem eher darin, dass die inhaltlichen Mängel der Aufklärungsbemühungen alllzu häufig durch Pädadogik ersetzt werden sollen.  Je beliebiger und teilweise auch unsinniger die Inhalte der Kritik, desto stärker konzentriert man sich auf die Frage: Wie sag ich es meinem Kinde? … Oder sucht nach einem besonders originellen, praktischen Einfall. 

Doch nun zur „Macht der Ideologie“. Diese hat zwar nichts mit „Undurchschaubarkeit der Verhältnisse“ zu tun, wohl aber mit ihrer Mystifikation in den Realkategorien der politischen Ökonomie. Lohn, Preis, Profit, Zins, alle diese Geldausdrücke, besonders natürlich der Zins, verbergen ihre Herkunft aus gesellschaftlicher Arbeit. Besonders die Formen des (Individual-) Einkommens fördern auf jede Weise die „Ignoranz der Individuen“ gegenüber den grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen und ihrem inneren Zusammenhang. Gesellschaftliches Bewusstsein wird zerstört, bzw. enorm erschwert, solange individuelle Geldeinkommen die Garanten für Lebensstandards und –möglichkeiten sind. (Dass die Anhänger des BGE ausgerechnet unter Verweis auf das „soziale Versagen“ des Kapitals [kann nicht mehr genügend Lohnarbeitsplätze schaffen] nach einem „von Arbeit entkoppelten“, gesicherten individuellen Geldeinkommen schreien, um alternatives Leben im Kapitalismus zu ermöglichen, das zeigt den ganzen Bankrott der modernisierten Linken, wie radikal sie sich dabei auch immer gebärden mögen.)

Der Privatproduktion entsprechen Privateinkommen als Basis des Lebens. In einer solchen Gesellschaft drückt sich der gesellschaftliche Zusammenhang auf vermittelte Art aus im Wert, dessen Formen eben diesen Zusammenhang als einen der gesellschaftlichen Arbeit (inhaltlich) verbergen.

Weil es sich bei den Kategorien der Politischen Ökonomie nicht um bloße Ideologie, Gedankenformen, sondern um objektive Gedankenformen handelt, um Kategorien, die reale Vergesellschaftung, Formen der Wertvergesellschaftung,  ausdrücken, darum haben sie eine besonders große Macht über die Individuen. Selbst wenn man sie auf Basis wissenschaftlicher Kritik durchschaut und kritisiert, muss man doch täglich in diesen Kategorien denken und in der Praxis mit ihnen umgehen. Das ist mehr als die bloße „Macht von Ideologie“, wie sie etwa der christliche Glaube verkörpert. Die kannst Du nämlich durch Kritik einfach ablegen. 

Um gesellschaftliches Denken, ohne das es keinen Kommunismus gibt, zu befördern bedarf es der Aufklärung durch Kritik dieser Kategorien, der gesellschaftlichen Praxis des Kapitals (das Erlebnis seines Versagen), wie auch der sozialen Kämpfe.  Würde die Kritik der Kategorien nicht ausgearbeitet und verbreitet, würde das die Entwicklung gesellschaftlichen Denkens natürlich nicht vollständig ausschließen. Aber die Entwicklung dieses gesellschaftlichen Denkens, das sich dann immer nur in Zeiten des Versagens der Kapitalakkumulation und bei Gelegenheit mehr oder weniger heftiger Klassenkämpfe spontan ausbreiten könnte, wäre enorm erschwert.

Nachträge
Text 2

Nachtrag zur „Macht der Ideologie“ [zurück zu Text 1]

Die Menschen im entwickelten Kapitalismus, auch die Lohnabhängigen, hoffen darauf, auf individuellem Wege in dieser Gesellschaft durch zu kommen bzw. ihr Lebensglück zu machen. (Das kann man mit vielen Beispielen, nicht zuletzt dem massenhaften Lotto- und Glücksspiel, belegen.) Diese Hoffnung auf eine individuelle, private Lebensperspekive (Realisierung von individuellen „Lebensentwürfen“) - aller widrigen Umstände zum Trotz – erwächst aus den Verhältnissen selbst , aus Lebenserfahrung (Allgemeinheit von Ware und Geld, von Privateigentum und Lohnarbeit), ist somit und in diesem Sinne Alltagsbewusstsein, das keine Ideologen den Leuten aufschwatzen müssen, weder waschechte Neoliberale, noch Sozialdemokraten oder Christen.

Das individuelle Geldeinkommen ist die Basis der Existenz, mit dem man sich fast alles kaufen muss, was man zum Leben braucht. Alle sind gezwungen, sich auf diese oder jene Weise in den Besitz von Geld zu bringen und jede Art von Lebensplanung/Lebensvorstellung in der bürgerlichen Gesellschaft baut darauf auf.

Ausgearbeitete Theorien, wie etwa der Neoliberalismus, knüpfen unmittelbar an diesem Alltagsbewusstsein der Menschen an und verdolmetschen es ideologisch. Ideologisches Verdolmetschen heißt in diesem Falle, dass die Lebensvorstellungen als Produkt der Natur des Menschen dargestellt werden und dann gezeigt wird, dass die bürgerliche Welt den besten Rahmen dafür abgibt, um diese Lebensvorstellungen zu leben. Es steht also alles auf dem Kopf: das Alltagsbewusstsein wird nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitet, sondern ist diesen sozusagen „natürlich“ vorausgesetzt. Blanker Idealismus eben!

Macht und Einfluss verdanken die liberalen bürgerlichen Ideen aber letztlich der Tatsache, dass der bürgerliche Individualismus aus den Verhältnissen selbst erwächst, und die Theorie insofern mit dem Alltagsbewusstsein kompatibel ist. Auch der Erfolg von Medien wie dieser ekelhaften Bild-Zeitung (die gerade wieder eine Hetzkampagne gegen Lohnarbeitslose und Hartz IV-Empfänger lostritt, weil sie „individuell versagen“, bzw. angeblich oder auch tatsächlich sich individuell selbst der Arbeit versagen) und der ganzen yellow-press beruht darauf, dass sie an dem Alltagsbewusstsein anknüpfen. Darum liegt an jedem 2. Arbeitsplatz in den Fabriken die Bild-Zeitung und nicht etwa eine „Rote Fahne“, die sich darin abmüht, an „proletarischer Denkweise“ anzuknüpfen und sie in Reinheit ebenfalls ideologisch zu verdolmetschen. Die „proletarische Denkweise“ ist selbst nur ein rein ideologisches Konstrukt eher religiöser Menschen, die sich selbst als „Führer der Arbeiterklasse“ verstehen. (Auftritte eines Monsieur Engel ähneln denn tatsächlich auch eher einem Popen oder Sektenführer als einem „Arbeiterführer“).

Für KommunistInnen gibt es da nichts im Alltagsbewusstsein, an dem sie positiv anknüpfen könnten, außer an den Rissen, die dieses Alltagsbewusstsein durch schlechte Erfahrung gekommen kann. Das Alltagsdenken der lohnabhängigen Klasse ist bürgerlich und kann nicht anders sein!

Man kann dagegen perspektivisch nur ankommen und massenhaft Klassenbewusstsein entwickeln, indem das Alltagsbewusstsein durch die Veränderung der Verhältnisse im Verlauf der krisenhaft sich entwickelnden Kapitalakkumulation erschüttert wird. (Scheitern der individuellen Lebensentwürfe, Allgemeinheit dieser neuen Erfahrung)

Überwinden lässt sich dieses Alltagsbewusstsein nur durch systematische Kritik der Verhältnisse (was die Kritik am Alltagsbewusstsein der Lohnabhängigen einschließt)  und die konkrete Formulierung einer Perspektive unmittelbarer Vergesellschaftung jenseits von Privateigentum, Ware und Geld, also jenseits der durch den Wert vermittelten, unbewussten und indirekten Vergesellschaftung.

Klassenbewusstsein ist etwas vollständig anderes als die angesprochene „proletarische Denkweise“.  An Klassenbewusstsein kann man nicht anknüpfen, es existiert nicht durch die bloße Existenz einer sozialen Klasse von Lohnabhängigen! Es besteht lediglich die Möglichkeit, es unter bestimmten objektiven Voraussetzung zu entwickeln!

Anknüpfen können KommunistInnen allenfalls an den gewachsenen Bedürfnissen der Menschen, dem Streben nach Genuss, etc. aber dies ist nichts spezifisch „proletarisches“, sondern kennzeichnet wiederum alle Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. „Proletarisch“ daran ist allenfalls, dass die gewachsenen Bedürfnisse der Mehrheit Menschen in der Lohnabhängigkeit eine Schranke findet, die ihnen den Lebensgenuss arg begrenzt.

Nachtrag zur Bedrohung des Lebensstandards durch Verlagerung der Produktion. Hier der Bericht von der Untersuchung, die ich ansprach:

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18 Prozent der deutschen Unternehmen haben Aktivitäten ins Ausland verlagert  

Globalisierung, so die stete Drohung an Politik und Menschen, bedeute, dass es eine weltweite Konkurrenz der Standorte gebe und die Unternehmen dorthin gehen, wo sie am billigsten produzieren können. Das Statistische Bundesamt Deutschland[1] hat nun 20.000 Unternehmen in Deutschland befragt, ob sie Verlagerungen vorgenommen haben, aus welchem Grund diese geschehen sind, und wohin man die Arbeitsplätze verlagert hat. Die Unternehmen haben daran freiwillig teilgenommen. 

18 Prozent der Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten haben zwischen 2001 und 2006 einen Teil ihres Betriebs ins Ausland verlagert, weitere 4 Prozent planen dies bis 2009. Besonders attraktiv sind dabei, wie man dies gerade am Beispiel auch von Nokia[2] sehen konnte, die 12 neuen EU-Mitgliedsstaaten. 60 Prozent der Verlagerungen von Unternehmensaktivitäten erfolgten in diese Länder, die damit ebenso vom Beitritt zur EU profitierten wie die Unternehmen selbst. 30 Prozent verlagerten in die 15 alten EU-Mitgliedsstaaten, 36 Prozent nach China. 38 Prozent der Unternehmen gaben mehrere Staaten an.  

Zwar steigt nach den Angaben von manchen Unternehmen der logistische Aufwand, insgesamt habe die Verlagerung aber Vorteile. 73 Prozent geben eine bessere Positionierung im Wettbewerb an, 67 Prozent geringere Lohnkosten, 55 Prozent einen leichteren Zugang zu neuen Märkten. Es handelt sich also um einen Mix von Vorteilen, der sich nicht allein auf niedrigere Lohnkosten beschränkt. Für die Arbeitsplätze in Deutschland sind die Folgen aber erst einmal erwartungsgemäß negativ. So fielen durch die Verlagerungen der befragten Unternehmen ins Ausland in Deutschland 188.000 Arbeitsplätze weg, andererseits gaben die Unternehmen an, dass sie in dieser Zeit in Deutschland 105.000 Arbeitsplätze neu geschaffen haben. 

Unter stärkstem Verlagerungsdruck steht die Industrie. Hier sind 26 Prozent der Unternehmen ins Ausland gegangen, im Rest der Wirtschaft nur 9 Prozent. Im Hochtechnologiebereich haben sogar 33 Prozent der Unternehmen Aktivitäten ins Ausland verlegt, 19 Prozent waren es bei Unternehmen, die "wissensintensive Dienstleistungen (zum Beispiel Unternehmensberatung, Softwareentwicklung) anbieten". Das würde heißen, dass das Setzen auf Wissen und Hochtechnologie nicht unbedingt vor Verlagerung schützt.

(fr[3]/Telepolis) (fr/Telepolis) heise online      07.02.2008 14:04
URL dieses Artikels:  http://www.heise.de/newsticker/meldung/103137  

Editorische Anmerkungen

Die Texte erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.