Hauptsache, eine Lehrstelle? 
Das Duale System der Berufsausbildung und der Kampf um seine Reform
 
von Horst Haenisch

04/08

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Im Herbst 2006 wurden wieder einmal, wie jedes Jahr, Horrorzahlen über Jugendliche ohne Ausbildungsplatz bekannt. Etwa 950.000 junge Menschen verließen in diesem Jahr die allgemeinbildenden Schulen; über 700.000 von ihnen werden sich um eine betriebliche Ausbildung bemühen; legt man die Erfahrungswerte der letzten Jahre zugrunde, so werden mehr als 150.000 auf der Strecke bleiben1) und - wenn sie Glück haben – vorübergehend in staatlichen Überbrückungsmaßnahmen, dem sogenannten Übergangssystem, landen oder gleich bei Hartz 4 oder, noch schlimmer, Bedarfsgemeinschaften mit ihren Eltern bilden. 

Die Vertreter des Ausbildungspaktes, Bundesregierung und Wirtschaft, haben allerdings eine Definition von Ausbildungssuchenden vereinbart, die dazu dient, das wahre Drama zu verbergen, indem

  •  nur jene Ausbildungsnachfrager gezählt werden, die sich auch bei der Bundesagentur für Arbeit melden;
  • Jugendliche, die Praktika, das freiwillige ökologische oder soziale Jahr ableisten, unberücksichtig bleiben,
  • sowie Jugendliche, die, der Not gehorchend, entweder weiter zur Schule gehen oder ungelernt jobben.
  • Unberücksichtig bleiben ferner die Altbewerber,
  • sowie die als „ausbildungsunfähig“ bezeichneten Jugendlichen, die in Maßnahmen der BA und der Bundesländer, ins sogenannte Übergangssystem, gesteckt werden.

Diese Fehlrechnung ist im Auswertungssystem Compass der Bundesagentur für Arbeit festgelegt. Im Jahre 2003 wird so z.B. die tatsächliche Zahl von 140.682 Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, aber nicht finden, auf 31.182 geschönt. Zwar gibt es ein anderes Zählprogramm der BA, Verbis, das wenigstens die Jugendlichen, die eine Schule besuchen oder ungelernt jobben, aber weiter einen Ausbildungsplatz suchen, berücksichtigen kann. Nach einem Bericht der Financial Times Deutschland vom 31.10.2006 soll die BA allerdings beschlossen haben, diese Zahlen nicht zu veröffentlichen.

Angesichts dieser Misere wurden in der Vergangenheit immer wieder die unterschiedlichsten Heilmittelchen propagiert. Die Bundesagentur für Arbeit hat schon Ende Juli 2006 mit den ersten Appellen an die Unternehmer begonnen, doch bitte im eigenen Interesse Lehrstellen anzubieten. Die SPD-Linke und einige Gewerkschaften drohten früher wuchtig mit einer Ausbildungsabgabe. Die gesetzlichen Voraussetzungen für deren Erhebung war übrigens seit 1975 nahezu durchgängig erfüllt!  Und die Bundesregierung propagiert mal wieder medienwirksam ihren Ausbildungspakt.

Die SPD-Linke und der DGB, insbesondere die Gewerkschaftsjugendvertreter haben in den vergangenen Jahren gegen den Lehrstellenmangel protestiert, freilich ohne über den Protest hinauszugehen. Diesen Potest auf die Straßen, in die Hauptschulen, in die Überbrückungsmaßnahmen zu tragen, hat sich diese Linke schon immer verkniffen. Im Herbst 2006 jedoch fand eine merkwürdige Veränderung statt: von der SPD-Linken und von den Gewerkschaften war so. gut wie nichts zu hören!  Wir werden später sehen, warum. 

Zunächst geht es darum zu verstehen, wie und warum die Berufsausbildung funktioniert, welche Probleme bestehen und wie diese Probleme gelöst werden könnten.  

Eine deutsche Spezialität: das Duale System 

Das gibt es in kaum einer anderen Industrienation: die Bosse ganz unmittelbar, und nicht aus Wahlen hervorgegangene Regierungen entscheiden über die berufliche Bildung der werktätigen Jugend. Deren Ausbildung findet überwiegend in den Betrieben des Handels, des Handwerks, der Industrie, in den Verwaltungen statt und für ein paar Wochenstunden in Berufschulen.  

Die Bundesregierung ist formal für die Berufsbilder und den gesetzlichen Rahmen – das Berufsbildungsgesetz – zuständig, und die Bundesländer betreiben die Berufsschulen. Aber innerhalb dieses Rahmens bestimmen die Unternehmerverbände die Inhalte der Berufsausbildung, sowohl bei den Ausbildungsinhalten, den sogenannten Berufsbildern, und in den Betrieben, wo die Ausbilder Angestellte, Meister oder Inhaber sind, wie auch in den Berufsschulen, wo die Lehrer zwar vom Staat bezahlt werden, die Lehrinhalte und die Prüfungen jedoch von den Unternehmern vermittels der verschiedenen Selbstverwaltungsorgane, den Kammern, abgenommen werden, ohne formale Beteiligung der Berufsschule! Den Lernort Betrieb kennt man zwar auch in anderen europäischen Ländern, eine größere Bedeutung hat er insbesondere in der Schweiz und in Dänemark. Nirgendwo aber ist der Staat derart weitgehend ausgeschaltet wie in Deutschland. 

Die Privatisierung der Berufsbildung, die die Bourgeoisie in vielen Ländern heute anstrebt, die deutschen Kapitalisten haben sie immer schon gehabt. 

In seinen Grundzügen entstammt das Duale System der Bismarckschen Sozialpolitik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als neben die Sozialgesetzgebung und das Organisationsverbot für Sozialisten die Förderung des hauptsächlich handwerklichen Mittelstandes trat: dessen Betriebe erhielten eine Art Berufsausbildungsmonopol. Verhältnisse  

Erst lange nach Gründung der BRD traten an die Seite des Dualen Systems aus Betrieb und Berufsschule die Berufsfachschulen, die Qualifikationen zu vermitteln hatten, für die es im handwerklich-industriellen System keine Vorbilder gab: Kinder-, Kranken- oder Altenpflegerberufe, Fremdsprachenassistent(in)en, verschiedene therapeutische Berufe. Sie machen heute bis zu 14 Prozent aller Berufsausbildungsverhältnisse aus, und es ist kein Geheimnis, dass mit ihrer Hilfe der Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen insbesondere in den neuen Bundesländern ausgeglichen werden soll. 

Das Wesen des Dualen Ausbildung ist die lernende Mitarbeit in den Betrieben, wobei der Akzent auf der Mitarbeit liegt.  Die Faustformel lautet: je geringer der Kapitaleinsatz in Form von Maschinerie in einem Betrieb oder Betriebsteil oder je lohnintensiver eine Produktion, desto höher ist die Einsatzmöglichkeit von Lehrlingen, weil sie hier besonders einfach als produktive Arbeitskräfte verwendet werden können. Und da es einen Zusammenhang zwischen Mechanisierungsgrad und Betriebsgröße gibt, gilt auch: je kleiner der Betrieb, desto mehr Lehrlinge werden in den Ausbildungsbetrieben beschäftigt.  

Warum ist das so? Stellen wir uns drei verschiedene Ausbildungsplätze vor. Zunächst eine Fahrradwerkstatt: Der sogenannte Azubi hält vom ersten Tag an die Werkstatt sauber, kocht Kaffe, holt Frühstück und putzt Fahrräder. Bald schon arbeitet er nach kurzer Einweisung selbständig produktiv, er zentriert Räder, montiert Teile, justiert Schaltungen etc. Der Azubi ist eine billige Arbeitskraft. Was passiert, wenn er Fehler macht? Er ruiniert ein Werkzeug, vielleicht reißt er eine Speiche ab. Der Schaden, den er verursachen kann: peanuts! Deshalb sagt der Fahrradhändler: her mit den Lehrlingen. Und so sagen die Bäcker, Einzelhändler, die Banken, die Versicherungsagenturen, die Gaststättenbetreiber. Besonders letztere versuchen derzeit, mit Lehrlingen in einem prekären Markt zu überleben, wie vor ihnen schon viele Handwerksbetriebe und Kleinunternehmer. 

In einer Motorradwerkstatt sieht das schon anders aus -  abgesehen vom Sauberhalten der Werkstatt. Der Aufwand an Beaufsichtigung, Informationsvermittlung und Anleitung ist erheblich größer, und eine falsch eingestellte Nockenwelle und ein kapitaler Motorschaden sind schon etwas anderes als ein abgebrochener Schraubenzieher.  Aber auch hier gibt es noch genügend Platz für produktives Arbeiten. 

Nehmen wir als drittes Beispiel die Steuerwarte einer Walzstraße. Ein kleiner Fehler hier vernichtet Millionen! Deshalb wird an diesem Arbeitsplatz kein Einsteiger ins Arbeitsleben ausgebildet! 

Zur Veranschaulichung einige Belege: Obwohl die Zahl der Betriebe und der Beschäftigten in den Branchen, in denen die folgend genannten Berufe ausgebildet werden, zwischen 1977 und 2000 (alte Bundesländer) z.T. dramatisch abgenommen hat, ist die Zahl der „Auszubildenden“ gleich geblieben oder hat sich gar drastisch erhöht! 

Setzt man die Zahl der Neuverträge über betriebliche Ausbildungsverhältnisse im Jahre 1977 = 100 (Tabelle1), so betrug die entsprechende Zahl im Jahre 20002) für 

Bank- und Sparkassenkaufleute                                       102,3

Floristen                                                                          99,5

Industriekaufleute                                                             90,5

Gas- und Wasserinstallateure                                           91,3

Tischler                                                                           99,7

Bürokaufleute (Handel)                                                   107,2

Bürokaufleute (Handwerk)                                                117,8

Maler und Lackierer                                                        110,9

Einzelhandelskaufleute                                                   136,8

Dachdecker                                                                   160,8

Versicherungskaufleute                                                   161,3

Köche                                                                           157,9

Hotel- und Gaststättenberufe                                           286,4

(Tabelle 1)

Aber es gibt auch wichtige Gegenbeispiele (Tabelle 2, 1977=100):

Jahr:                                                                                  2000                  1984

                                             

Radio- und Fernsehtechniker                                                  4,2                 111,6

Verkäufer (Handel)                                                               23,0                 104,0

Verkäufer (Nahrungsmittelhandwerk)                                      77,8                 134,1

Fleischer                                                                             37,0                 108,3

Bäcker                                                                                64,3                 142,1

Friseur                                                                                63,4                 107,7

Kfz-Mechaniker                                                                   64,2                   97,8

Werkzeugmacher, Stanz- und Umformtechnik                        37,2                   98,9

Industriemechaniker                                                             41,7                 112,3

Dreher                                                                                47,2                   96,0

Landmaschinenmechaniker                                                  43,1                   85,1

(Tabelle 2

Hinter diesen Zahlen stecken mehrere, teilweise zusammenwirkende, teilweise einander entgegengerichtete Tendenzen, zunächst der durch die Wirtschaftskrise verstärkte Schrumpfungsprozess im Handwerk, sodann die dramatische Abnahme der Betriebe durch Konzentration und veränderte Formen der Arbeitsteilung innerhalb einer Branche. So hat beispielsweise die Zahl der Betriebe, die Radio- oder Fernsehgeräte reparieren, dramatisch abgenommen. An ihre Stelle ist der zentralisierte Service getreten. Im Verkauf ist die Selbstbedienung im Vormarsch. Fleischer und Bäcker wurden durch Großfabriken verdrängt. Der Rückgang an Arbeitsplätzen im Kfz-Handwerk hängt ebenfalls mit einem Konzentrationsprozess zusammen.  

An der Entwicklung der jährlich neu geschlossenen Ausbildungsverträge lässt sich ein Weiteres ablesen: Betriebe, die durch Konzentrationsprozesse aus den Märkten gedrängt werden, versuchen zunächst häufig, dem Konkurrenzdruck durch vermehrte Lehrlingsbeschäftigung, die sog. Lehrlingszüchterei, zu begegnen, sofern Mechanisierungsgrad und Arbeitsorganisation dies gestatten. Was sich heute an den Gaststättenberufen beobachten lässt, der Versuch, dem Untergang durch Überbeschäftigung von Lehrlingen zu entgehen, galt vor Jahrzehnten für andere Berufe, z.B. Bäcker, Fleischer, Verkäufer, Radio- und Fernsehtechniker usw. Lehrlinge werden als billige Arbeitskräfte eingestellt und nach der Lehre nicht übernommen. „Zieht man ... das Kriterium der erwartbaren Beschäftigung im Ausbildungsberuf heran, so nehmen im handwerklichen und  kaufmännischen Bereich eher Ausbildungsplätze mit einer prekären Beschäftigungsperspektive zu.“3) 

Auch im Kfz-Handwerk wird weiter Lehrlingszüchterei betrieben. „Nach Erkenntnissen der IG Metall werden mehr als die Hälfte der Lehrlinge nicht wegen des tatsächlichen Nachwuchsbedarfes, sondern als billige Arbeitskräfte zur vorübergehenden Beschäftigung eingestellt. Manche Betriebe haben mehr Lehrlinge als Fachkräfte. Entsprechend schlecht ist die Betreuung, weil kein strukturelles Ausbildungsinteresse vorhanden ist. In der größten Handwerksbranche, dem KFZ-Handwerk, beträgt die Ausbildungsquote gegenwärtig 25 %. Jeder vierte Beschäftigte ist Auszubildender  ... volkswirtschaftlich gesehen eine bedenkliche Entwicklung, denn die 75.000 Kfz-Mechaniker, die derzeit ausgebildet werden, finden weder im Handwerk noch in der Autoindustrie später ausreichend Beschäftigung. Viele werden umgeschult werden müssen, das steht heute schon fest. Ein klarer Fall von Fehlallokation.“4) 

So erklärt sich auch das Paradoxon, dass in den Berufen mit den meisten unbesetzten Ausbildungsplätzen der Anteil der nach der Lehre entlassenen Auszubildenden am größten ist. 

Das wahre Ausmaß der Lehrlingszüchterei ist noch weit dramatischer. Weder dieses noch die die Lehrlingszüchterei verursachenden betriebswirtschaftlichen Faktoren werden von der Forschung und der Politik je benannt. Im Grundsatz gilt: je größer der Betrieb, desto größer die Bereitschaft, überhaupt auszubilden (Ausbildungsbetriebsquote),  desto kleiner aber andererseits die Zahl der Auszubildenden im Verhältnis zur Gesamtzahl der Beschäftigten (Ausbildungsquote), wie aus der folgenden Aufstellung (1990: alte Bundesländer) ersichtlich ist.  

Ausbildungsbetriebsquoten in %   1990 2000 2004
Betriebsgrößenklasse 1- 9 Beschäftigte 21,8 16,8 16,9
10 – 49 Beschäftigte 52,2 46,9 47,5
50 – 499 Beschäftigte 74,2 68,3 69,9
500 und mehr Beschäftigte 94,5 90,1 90,7
insgesamt 28,7 23,7 23,8
Ausbildungsquoten in %      
Betriebsgrößenklasse 1- 9 Beschäftigte 11,1 8,0 8,1
10 – 49 Beschäftigte 8,5 7,0 7,0
50 – 499 Beschäftigte 6,0 5,8 5,8
500 und mehr Beschäftigte 5,2 5,3 5,5
insgesamt 7,0 6,4 6,4

Tabelle 35)

 Was verbirgt sich hinter diesen Zahlen? 1990 bewirkten in den alten Bundesländern 21,8 % der Betriebe mit bis zu 9 Beschäftigten, dass 11,1 % der Beschäftigten insgesamt  in dieser Betriebsgrößenklasse Auszubildende waren. Dies bedeutet, dass fast 51 % der Beschäftigten in den ausbildenden Betrieben der Betriebsgröße von bis zu 9 Beschäftigten aus Lehrlingen bestanden: auf einen Arbeiter oder Angestellten kam ein Lehrling! Hier werden voll zu bezahlende Arbeitskräfte durch Lehrlinge ersetzt. Und das ist nur die Durchschnittszahl in diesen kleineren Ausbildungsbetrieben! Man kann sich leicht die Auswüchse der Lehrlingszüchterei in besonders krassen Fällen vorstellen. In den Ausbildungsbetrieben mit 500 und mehr Beschäftigten stellen demgegenüber die Lehrlinge nur 5,5 % des Personals. Diese Zahlen sind relativ unverändert geblieben. Auch  2000 und 2004 waren knapp 48 % der Beschäftigten in den kleinen Ausbildungsbetrieben Lehrlinge gegenüber jeweils rd. 6 % in den großen Ausbildungsbetrieben. 

Die Lehrlingsquote je Ausbildungsbetrieb in verschiedenen Berufen, Branchen oder Betriebsgrössenklassen ist eine Kennziffer für die Lehrlingsausbeutung. Deshalb wird sie nirgendwo dargestellt und diskutiert.

Bei der Lehrlingsausbildung im Dualen System geht es um den Extraprofit, der sich durch Berufsausbildung zusätzlich zum normalen Gewinn, der aus einer Arbeitskraft gezogen wird, erzielen lässt. Er lässt sich berechnen als: die betriebliche Arbeitszeit des Lehrlings im Verhältnis zur normalen Arbeitszeit multipliziert mit der Produktivität des Lehrlings im Verhältnis zur durchschnittlichen Produktivität multipliziert mit dem Bruttolohn einer Fachkraft abzüglich der personellen (Bruttolehrlingsentgelt, Ausbilderkosten) sowie der sachlichen Ausbildungskosten6). Nimmt man bei einem Berufsschultag pro Woche die relative betriebliche Arbeitszeit mit 0,8 an, die relative Produktivität mit 0,7, den Bruttolohn mit 3.500 € monatlich, den anteiligen sachlichen und personellen monatlichen Ausbildungsaufwand mit 1.200 €, so ergibt sich:

0,8 x 0,7 x 3.500 €/M  - 1.200 €/M = 760 € Extraprofit/M 

Es lohnt, die einzelnen Variablen der obigen Formel in Erinnerung zu  behalten, insbesondere den Facharbeiterlohn. Denn: je höher die Qualifikation und der Lohn, desto höher unter den Bedingungen des lernenden Mitarbeitens der Extraprofit. Denken wir an einen Mechatroniker mit 5.000 € Bruttolohnkosten. In seinem Fall betrüge der Extraprofit 1.600 €. Davon wird noch zu reden sein. 

Das Anschwellen eines Niedriglohnsektors in Deutschland hat vermutlich verheerende Folgen zumindest auf Teile des Berufsausbildungsmarktes. Im obigen Beispiel würde ein Zeitarbeiter mit 2.700 € Bruttolohnkosten dem Unternehmen zu einem höheren Extraprofit verhelfen als ein Lehrling, und vorbei wäre es mit der Ausbildungsbereitschaft des Betriebes. Leider ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Berufsbildungsforschung oder das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung  bzw. die Bundesagentur für Arbeit mit den vielen ihnen angeschlossenen Forschungsinstituten und den gewaltigen statistischen Apparaten dieser Frage annehmen. 

Bildet der Extraprofit das Motiv für die Einstellung von Lehrlingen, so fragt man sich, weshalb sich nicht viel mehr auf handwerklicher Grundlage produzierende Kleinbetriebe an der Jagd nach Extraprofiten beteiligen. 

Hinter der geringen Zahl an ausbildenden Kleinbetrieben steckt der Sachverhalt, dass die handhandwerkliche Produktionsweise nicht die einzige Bedingung für den Einsatz von Lehrlingen im Arbeitsprozess ist.  Eine wichtige Rolle spielt daneben die Organisation des Betriebes und seine Ausstattung. Betrachtet man beispielsweise den Friseurberuf, so ist er von der Produktionsweise her für die Lehrlingszüchterei bestens geeignet. Zur sachlichen Ausstattung gehört jedoch, dass es fest definierte Arbeitsplätze, die Frisierstühle samt Waschbecken und elektrischem Gerät gibt. Dies setzt dem Einsatz von Auszubildenden als Arbeitskräften weit engere Grenzen als dies etwa im Einzelhandel oder im Gaststättengewerbe der Fall ist. 

Deshalb waren die Versuche der Regierungen in den letzten Jahren, durch Senkung der Ausbildungsanforderungen an die Betriebe, deren Ausbildungsbereitschaft zu vergrößern, nicht erfolgreich. Die Reduzierung der Ausbildungsanforderungen hat nur zu Verschlechterung der Ausbildung geführt. Solche Maßnahmen waren: die Außerkraftsetzung der Ausbildereignungsverordnung 2003 und nochmals 2006, wonach nun praktisch jeder Betrieb ausbilden darf. Parallel wurden zwischen 1996 und 2006 44 neue und 230 neu definierten theoriegeminderte Ausbildungsberufen geringer Qualität eingeführt, womit die Berufe, die in ausbildungsungeeigneten Betrieben vermittelt werden können, erst geschaffen wurden. Das von den Unternehmern vorgeschlagene und gescheiterte Projekt der „Dienstleistungsfachkraft im Sonnenstudio“ zeigt das ganze Dilemma. Hier ist es wie bei den Friseuren: einer als Ausbildung getarnten Lehrlingszüchterei sind gewisse Grenzen gesetzt.  

Ein weiterer Faktor tritt hinzu: auch die Kleinbetriebe sind häufig Glieder in der zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung und beschränken sich auf die Zulieferung von Spezialteilen, mit der Folge, dass sie keine Arbeit für den gesamten Ausbildungsberuf haben. Sie müssten entweder den sachlichen und personellen Ausbildungsaufwand erhöhen oder aber, durch Entsendung der Lehrlinge in überbetriebliche Lehrwerkstätten, die betriebliche Arbeitszeit reduzieren. Da ist der Extraprofit schnell weg. Abhilfe schaffen da allenfalls neue Berufe, wie der des Speiseeisherstellers oder der Montagefachkraft, möglichst mit dreijähriger Lehrzeit. 

Die angebliche Krise der Berufsausbildung in Deutschland 

Das Duale System der Berufsausbildung führt dazu, dass, gemessen am Nachwuchsbedarf, unverhältnismäßig häufig in Berufen ausgebildet wird, die dem Kapitalismus von vorgestern entsprechen, während moderne Qualifikationen anscheinend extrem vernachlässigt werden. Ausbildungssystem und Beschäftigungssystem scheinen nicht zusammenzupassen. Aus dem Blickwinkel der Jugendlichen führt dies zu falschen Berufseinmündungen. Sie lernen, so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick, was nicht mehr gebraucht wird und können nicht lernen, was der gegenwärtige und zukünftige Arbeitsmarkt verlangen. Anders ausgedrückt: die Zahl der in den verschiednen Berufen ausgebildeten Jugendlichen steht im Missverhältnis zur jeweilig auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Zahl an Arbeitskräften. 

Diese „Passungenauigkeit“ oder „Fehlallokation“ ruft seit Jahrzehnten mit schöner Regelmäßigkeit sozialdemokratisch orientierte Wissenschaftler und Gewerkschafter als Reformer auf den Plan. Ihr Ausgangspunkt ist die sogenannte Verwissenschaftlichung der Produktion. Diese mache infolge wachsender Kompliziertheit des Arbeitsprozesses eine Erhöhung der Qualifikationsstruktur nötig, was wiederum eine Verbesserung der Berufsausbildung notwendig nach sich ziehen müsse.  

Gerne wird dann noch hinzugefügt, dass eine qualifizierte Berufsausbildung auch im langfristigen und richtig verstandenen Interesse der Unternehmer liege, deren engstirnige einzelbetriebliche Perspektive sie hindere, ihre eigenen Interessen richtig zu erkennen und wahrzunehmen. So heißt es in einem jüngst gemeinsam von den ver.di- und IGM-Vorständen publizierten Papier: „Unternehmen, die nicht autonom auf die Gesamtnachfrage und ihre längerfristigen Gewinnerwartungen einwirken können, sehen sich genötigt, die ihnen kurzfristig zugänglichen Stellgrößen zu beeinflussen – die Lohnkosten, die Ausgaben der beruflichen Bildung, die Sozialabgaben und die Steuern. Eine solche Vorgehensweise mag für das einzelne Unternehmen plausibel sein. Wird sie von allen gewählt, tragen sie zu einer Abwärtsspirale bei, in dem der gesamtwirtschaftliche Kreislauf, die kaufkräftige Nachfrage, die Qualifikation des Arbeitsvermögens und die eigenen Gewinnerwartungen schrumpfen.“7) 

Und in der nämlichen Publikation gleich noch einmal: „Die Ursache für die unzureichende Bereitschaft der Unternehmen, sich in der Berufsausbildung und in der Weiterbildung zu engagieren, liegt in der einzelbetrieblichen Finanzierung. ... In der Berufsausbildung befinden sich die Unternehmen in einer Dilemma-Situation, d.h. die Unternehmen, die ausbilden, müssen die Kosten der Ausbildung tragen, die Erträge der Ausbildung können jedoch anderen Unternehmen zugute kommen, wenn die Auszubildenden nach Abschluss der Ausbildung in ein anderes Unternehmen abgeworben werden.“8) 

Wir begegnen hier zwei Argumenten, die falsch sind. 

Zunächst ist natürlich richtig, dass durch die Verwissenschaftlichung der Produktion das in der Gesellschaft und im Produktionsprozess angesammelte und angewandte Wissen sich erheblich vergrößert hat und mit wachsender Beschleunigung weiter vergrößert. Damit ist die gesamtgesellschaftlich vorhandene Qualifikation höher geworden, aber nicht die der einzelnen Arbeitskraft. Stellt man nämlich die Auswirkung der kapitalistischen Arbeitsteilung – die Arbeitswissenschaft spricht auch von ‚Taylorisierung’ - in Rechnung, so wird klar, dass nicht jede Arbeitskraft auch individuell bezüglich der Ausbildung ihrer Fähigkeiten am wissenschaftlichen Fortschritt teilnimmt. Das Gegenteil ist in der Regel der Fall. Müssen etwa die Frauen und Kinder, die in südostasiatischen und chinesischen Werkshallen Computer  und i-pods in 12-Stunden-Schichten zusammenstecken, etwas von Computern verstehen?  

In diesem Zusammenhang wird häufig auf gewerkschaftsnahe Arbeitswissenschaftler verwiesen, die seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts immer wieder das Ende der Arbeitsteilung oder eine Enttaylorisierung prognostizieren, für die sie allerdings jeden empirischen Beweis schuldig geblieben sind. 

Das Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft (RKW) stellte bereits 1970 fest: „Die weitere technisch-organisatorische Entwicklung im gewerblichen Bereich, nämlich die zunehmende Standardisierung und Autonomie von Produktionsabläufen ... bringen insbesondere Steuerungs-, Kontroll- und Überwachungsaufgaben mit sich, die zwar u.U. hohe und neuartige psychische, nervöse u.a. Anforderungen stellen, nicht aber die Beherrschung eines (gewerblichen, handwerklichen) Berufs im herkömmlichen Sinne verlangen. Belastbarkeit in den jeweils spezifischen Anforderungen vorausgesetzt, sind diese Aufgaben ... in mehr oder minder langen Zeitspannen erlernbar. Die notwendigen Eingriffe sind ‚hochstandardisiert’ und können dementsprechend gewohnheitsmäßig (‚habitualisiert’) und mit Routine ausgeführt werden. Da diese autonomisierten Produktionsprozesse im Allgemeinen die Distanz zwischen dem Arbeitenden und seinem Arbeitsobjekt vergrößern, d.h. die Aufgaben eher maschinen- und anlagenorientiert als objekt- (bzw. produkt-) orientiert sind, verlieren gerade viele der klassischen Berufsinhalte von Produktionsfacharbeitern an Bedeutung. Die Kenntnis des Endproduktes und des Werkstoffes bzw. seiner Bewältigung werden mehr und mehr gegenstandslos.“9) Nicht anders hat bereits Marx die Entfremdung des Arbeiters im Produktionsprozess beschrieben. 

Ähnlich verhält es sich mit dem Argument, wonach die einzelbetriebliche Konkurrenz dazu führe, dass das gesamtkapitalistische langfristige Interesse nicht erkannt und verfochten werden könne. Hier wird der Grad an Zentralisierung der Kapitalinteressen in den verschiedenen Spitzenverbänden, ihr Einfluss auf die Regierungen, übersehen. Das muss insbesondere bei Berufsbildungsforschern erstaunen, denen in der Vergangenheit das deutsche Kapital bei der Bekämpfung von Reformversuchen immer sehr zielstrebig und geschlossen entgegengetreten ist. 

Diese Reformillusion überlebt offenbar wegen ihres besonderen Charmes, der darin liegt, dass sie die Möglichkeit einer Reform ohne Klassenkonflikte zu eröffnen scheint.  

Die SPD als politische Partei hat sich übrigens, nachdem sie mit diesem klassenversöhnlerischen Projekt einer Berufsbildungsreform voll gegen die Wand gelaufen ist, nie mehr auf Derartiges eingelassen. Dieses Projekt bestand in den 1973 als Gesetzesentwurf vom damaligen Bildungsminister Klaus von Dohnanyi vorgelegten „Markierungspunkten“. Sie sahen eine weitgehende staatliche Kontrolle der Berufsausbildung und u.a. eine allgemeine Berufsgrundbildung im Rahmen des Allgemeinbildenden Schulsystems vor.  Das Duale System  sollte durch staatliche Ausbildungsstätten überall dort ersetzt werden, wo ein Mangel an Ausbildungsplätzen auftritt. Aber, entgegen allen sozialdemokratischen Erwartungen, wollten die Kapitalisten nicht. Mehr noch: alle ihre Verbände kündigten einen totalen Ausbildungsboykott an! Überrascht und entnervt warf von Dohnanyi die Brocken hin. Sein Nachfolger im Amt des Bildungsministers, Helmut Rohde,  beerdigte nicht nur die „Markierungspunkte“, sondern betrieb das genaue Gegenteil, die Entqualifizierung traditioneller Berufe, diesmal tatsächlich im engen Schulterschluss mit dem Kapital und dessen verschiedenen Verbänden: die Stufenausbildung wurde entwickelt, die es erlaubte, relativ qualifizierte Industrieberufe in der Textilindustrie, der Metallindustrie, der Elektroindustrie, der chemischen Industrie aufzuspalten in Berufe mit ein-, zwei- und dreijähriger Ausbildung.  

Es ist bezeichnend, dass die Berufsbildungsforscher, die nach wie vor das Chaos einzelbetrieblicher Entscheidungen für die Mängel der Berufsausbildung verantwortlich machen, den naheliegenden Schluss, dass der Staat regulierend eingreifen müsse, seit dem Debakel der Markierungspunkte nicht mehr ziehen. 

Bleibt eine wichtige Frage: die oben erwähnte Dissonanz oder Diskrepanz zwischen Ausbildungsberufen und Arbeitsplätzen in Industrie, Verwaltung und Dienstleistungsbetrieben besteht ja und vergrößert sich stetig. Warum sind Unternehmer damit so offensichtlich zufrieden, dass sie den einzigen Versuch, diese Fehlallokation von Ressourcen zu überwinden, heftig und effektiv bekämpft haben? 

Das Soziologische Forschungsinstitut der Universität Göttingen (SOFI) hat das VW Projekt ‚Auto 5000’ forschend begleitet. Hier sollten 5.000 neue Arbeitskräfte außer- und unterhalb des gültigen VW-Tarifvertrages neu eingestellt werden. Es meldeten sich 43.000 Bewerber für die letztlich 3.780 Arbeitsplätze. U.a. wurden im Bewerbungsverfahren alle Bewerber ohne Berufsausbildung ausgesondert. Welche Berufsausbildung die Bewerber hatten, spielte jedoch keine Rolle. Hauptsache, irgendeine Lehre. Mit einem gewissen Erstaunen stellt die Berichterstatterin des SOFI fest: 

„Offenbar sind die in der Dualen Ausbildung erworbenen Grundqualifikationen trotz aller Kritik an der Passgenauigkeit der deutschen Ausbildungslandschaft durchaus geeignet, um Anforderungen einer komplexen prozessorientierten Arbeitsweise gerecht zu werden. Außerdem bietet die Duale Ausbildung eine gute Basis, auf die mit prozessorientierter betrieblicher Weiterbildung gut aufgesattelt werden kann.“10) 

So wie im VW Projekt ‚Auto 5000’ läuft es schon lange. An den modernen industriellen Arbeitsplätzen arbeiten kurzzeitig angelernte Bäcker, Fleischer, Schneider, Dreher, Maler usw. Sie sitzen in den Steuerwarten der Walzstrassen, stehen an den Taktstrassen der Automobilindustrie, in den Fertigungshallen des Maschinenbaus usw. Und worin bestehen die in der vorindustriellen Ausbildung erworbenen „Grundqualifikationen“, die offenbar die Anforderungen moderner industrieller Arbeitsplätze erfüllen? 

Schon immer antworten Personalchefs von Großbetrieben auf die Frage, warum sie lieber Bäcker denn Ungelernte anlernen und beschäftigen: Die Bäcker haben arbeiten gelernt! Damit ist gemeint, dass sie alle die Tugenden, die in Industrien und Verwaltungen vorausgesetzt werden und als industrielle Disziplin zusammengefasst werden können, bereits erworben haben: Fleiß, Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Effektivität, Vorsicht, Ausdauer, Konzentration, Genauigkeit, Verantwortung, Ehrlichkeit, Kooperationsvermögen, Unterordnung usw. Die Vermittlung dieser industriellen Disziplin kostet die Großbetriebe nichts, und die Kleinbetriebe profitieren, indem sie Arbeitskräfte zum Lehrlingslohn beschäftigen. Darin besteht die politische Ökonomie des Dualen Systems.  

Zwar stellen in Industriegesellschaften auch Familie und Schule darauf ab, diese Tugenden zu vermitteln, aber der Ernstfall Lehre bleibt eine wichtige und billige Erziehungseinrichtung. Erst hier wird wirklich erfahren und gelernt, was es heißt, fremdbestimmt in einem arbeitsteiligen Prozess freiwillig ohne permanente Überwachung zu funktionieren.11)   

Das ist keine Kleinigkeit. Die Sozialgeschichte zeigt, dass alle kapitalistischen Gesellschaften an ihrem Beginn durch einen krisenhaften Umbruch hindurch gingen und heute noch gehen, bis die industrielle Disziplin verinnerlicht  - habitualisiert, sagt das RKW - worden ist. Erst damit entsteht überhaupt ein Proletariat. 

Wegen dieser Erziehungsleistung passen moderne industrielle Produktion und scheinbar anachronistische Berufsausbildung so wunderbar zusammen, dass alle Kapitalfraktionen die angeblich antiquierte Berufsausbildung im Dualen System bisher mit Klauen und Zähnen verteidigten.  

Sind diese Grundqualifikationen erst einmal vorhanden, kann mit jeweils anlagenspezifischen Anlernprozessen „draufgesattelt“ werden. Auch hier hat übrigens das VW-Projekt „Auto 5000“ neue Maßstäbe gesetzt: „Im Qualifizierungsvertrag ist für jeden Mitarbeiter eine Qualifizierungszeit von drei Stunden pro Woche zusätzlich zur Arbeitszeit vereinbart – zur Hälfte von den Beschäftigten selbst finanziert.“12)  

Dieses Zusammenwirken von alter Berufsausbildung und moderner Produktion nicht verstanden zu haben, war der Fehler der SPD mit ihren Markierungspunkten. Diese hätten nicht im Schulterschluss mit dem Kapital, sondern nur im Kampf der Arbeiterbewegung gegen das Kapital durchgesetzt werden können. 

Von Dohnanyi und die SPD hatten die Warnung nicht ernst genommen, die BdI, BdA und DIHT, also alle Spitzenverbände der Wirtschaft, schon 1968 ausgesprochen hatten: „Die Wirtschaft befürwortet nachdrücklich das Prinzip der Stufenausbildung und sieht ihre Einführung in den dafür geeigneten Ausbildungsbereichen in den nächsten Jahren als eine wichtige Aufgabe an. – Die Diskussion über die Stufenausbildung darf sich jedoch nur auf Tatsachen stützen. Daten, die nicht aus der Ausbildungs- und Betriebspraxis gewonnen und berufswissenschaftlich abgesichert sind, scheiden als Entscheidungsgrundlage aus. Auch politische Wunschvorstellungen dürfen nicht maßgeblich sein.“13) 

Umso trauriger, wenn sich nach diesen Erfahrungen Wissenschaftler und Gewerkschaften weiter an die Chimäre einer Reform der Berufsausbildung zum Wohle der Arbeiterjugend und im Schulterschluss mit dem Kapital verlieren! Diese Illusion geht so weit, dass in den Reihen der Gewerkschaften rückblickend weder die Kapitalisten noch sozialdemokratische Illusionen, sondern die damals in der Lehrlingsbewegung mobilisierte Arbeiterjugend für das Scheitern der Markierungspunkte verantwortlich gemacht wird!. Diese „Reformwütigen“14)  hätten den Widerstand beim Kapital, der CDU und in Teilen der Bevölkerung provoziert. 

Die wirkliche Krise und ihre kapitalistische Lösung

Das Duale System könnte vom Standpunkt der Unternehmer noch weitere 130 Jahre so funktionieren, wenn es nicht auch aus deren Sicht ein Problem gäbe: der Sektor, der die industriellen Arbeitstugenden auf profitliche Weise anzuerziehen in der Lage ist, schrumpft. Die einzelnen Faktoren wurden im ersten Kapitel dargestellt. 

Das ist heute, bei geringer Nachfrage nach Arbeitskräften, noch ein kleineres Problem, mehr eine sozialpolitische Frage. Der Mangel an Ausbildungsplätzen wird von den Unternehmern als Druckmittel benutzt, die Ausbildungsstandards weiter zu reduzieren und Subventionen in ungeahnter Höhe abzugreifen. „Die Unternehmensverbände scheuen Einbußen an politischer Glaubwürdigkeit nicht, die die Nichteinhaltung von versprochenen Zusatzangeboten an Ausbildungsplätzen bringen könnte, und holen zum Gegenschlag aus. Verlangt werden Zugeständnisse in der Finanzierung (steuerliche Erleichterungen) und in der Normierung der Ausbildung (etwa Verzicht auf zweiten Berufschultag). ... Notgedrungen subventioniert der Staat in Rekordumfang – nicht nur in den neuen Bundesländern – die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen, ohne dass Größenordnung sowie quantitative und qualitative staatliche Unterstützung genau erfasst würden.“15) Es gibt eine Tendenz zur falschen Verstaatlichung der Berufsbildung als erste Reaktion auf die Krise des Dualen Systems: alle inhaltlichen Entscheidungen bleiben in Kapitalistenhand bei gleichzeitiger Finanzierung aus Steuermitteln. Hierzu gibt es, wie erwähnt, nur Einzelbefunde: „Die massive Anreizförderung für ausbildende Betriebe – sie erreichte z.B. in Brandenburg einen Umfang bis zu 80% aller betrieblichen Ausbildungsplätze – entschärfte in gewisser Weise die katastrophale Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern.“16) 

Diese falsche Verstaatlichung ist nicht neu: Schon einmal, in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde dem, durch vorübergehend nachrückende geburtenstarke Jahrgänge verschärften Lehrstellenmangel begegnet mit materiellen Anreizen für ausbildende Betriebe und dem Abbau sogenannter ausbildungshemmender Vorschriften: Reduzierung der Anforderungen an die Ausbilder (Ausbildereignungsverordnung) und Abschwächung des Jugendarbeitsschutzes mit längeren Arbeitszeiten und der Zulassung von Nachtarbeit. 

Zur falschen Verstaatlichung gehören auch die aus dem Boden sprießenden überbetrieblichen Lehrwerkstätten, in die Handwerk und Industrie solche Ausbildungsabschnitte verlegen, die nicht in den Produktionsablauf passen. „Träger“ dieser überbetrieblichen Lehrwerkstätten sind zu über 60% die Handwerkskammern, zu 15% die Industrie- und Handelskammern. Der Rest wird von HK und IHK gemeinsam bzw. von den Landwirtschaftskammern „getragen“, d.h. verwaltet und inhaltlich bestimmt. Bezahlt wird von Bildungsministerium und Wirtschaftsministerium aus Steuergeldern. 

Mit Blick auf die neuen Bundesländer meldet das Bildungsministerium 1991 voll Stolz: „Die inzwischen etwa 100 nach modernsten Gesichtspunkten errichteten überbetrieblichen Ausbildungsstätten sind mit ihren qualifizierten Lehrangeboten für die Erstausbildung und Fortbildung ein unverzichtbarer Partner der ausbildenden kleinen und mittleren Betriebe. Zu dem notwendigen Umstrukturierungsprozess der mittelständischen Wirtschaft in den neuen Ländern haben sie mit ihren Bildungsleistungen einen wichtigen Beitrag geleistet.“17) 

Das ist reaktionärer als die Bismarcksche Mittelstandspolitik. Denn hier wird mittels der Berufsbildungspolitik ein untergehender Mittelstand gepäppelt, und jene falschen Berufseinmündungen und Fehlallokationen werden produziert, die sonst gerne bejammert werden. 

Unabhängig hiervon bereitet sich die Bourgeoise darauf vor, das Duale System, so wie wir es kennen, tiefgreifend zu verändern.  

Einen Anstoß hierzu gab nicht zuletzt die Wiedervereinigung. In der DDR hatte der handwerkliche und kleinbetriebliche Sektor bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr die Bedeutung, die er in der BRD behalten sollte. Infolgedessen konnte das Konzept des lernenden Mithelfens nicht in der alten Weise fortgeführt werden. An seine Stelle trat eine theoretische und praktische Ausbildung in Schulen, die meist den großen Kombinaten angegliedert waren, in geringerem Umfang von den Kommunen betrieben wurden. In dem Maße, wie diese Industrien nach der Wende platt gemacht wurden, verschwanden auch die entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten. Zehn Jahre nach der Wende werden nur knapp 60% des gesamten und unzureichenden Ausbildungsplatzangebotes von der Wirtschaft bereitgehalten, die sich das kräftig subventionieren lässt. Direkt werden „mehr als 40% der Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern ... durch staatliche Programme finanziert, seien es Bundes- oder Länderprogramme oder solche, die von außerbetrieblichen Trägern angeboten werden,“18) häufig durchgeführt von inzwischen privatisierten und verkleinerten ehemaligen kommunalen Berufsfachschulen. 

Mit dem zunehmendem Mangel an Ausbildungsplätzen ist in den letzten Jahren ein Bereich neben dem Dualen System entstanden und ständig gewachsen, das sog. Übergangssystem, in dem Jugendliche ohne betriebliche oder schulische Berufsausbildung zeitweise untergebracht werden.  

Dieses Übergangssystem (Teilnehmer 2004 in Tausend)  besteht aus dem 2004 ausgelaufenen Jugendsofortprogramm, den berufsvorbereitenden Maßnahmen der BA (116), den Schülern ohne Ausbildungsvertrag an Berufsschulen (33), dem schulischen Berufsvorbereitungsjahr, sofern es nicht als erstes Jahr einer dualen Ausbildung anerkannt wird (63),  Schüler an Berufsfachschulen, denen kein Abschluss vermittelt wird (182),  dem Berufsgrundbildungsjahr (43) und sonstigen schulischen Bildungsgängen (50).19)  Die Zahl der hier geparkten Jugendlichen ist etwa so groß, wie die Zahl der Jugendlichen im Dualen System, eine halbe Million jährlich. Und sie wächst. 

Bezeichnenderweise gibt es keine Statistik über die Ausgaben für das Übergangssystem. Einzig die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit für das Übergangssystem sind bekannt und eindeutig zuzuordnen. Sie beliefen sich auf jährlich zwischen 4,5 Mrd. € (2005) bis 5,5 Mrd. € (2003) aus Steuergeldern. Aber auch in Schulen und Berufsschulen sowie in Berufsfachschulen werden Maßnahmen für Jugendliche ohne duale oder schulische Berufsausbildung durchgeführt. Hinzuzurechnen sind ferner die Kosten für das Berufsgrundbildungsjahr, sofern dieses nicht in einer späteren Berufsausbildung angerechnet wird. Diese Kosten für das Übergangssystem gehen in den Kosten für die jeweiligen Bildungsträger unter. Die jährlichen Kosten für das Übergangssystem dürften sich daher auf deutlich über 6 Mrd. € belaufen.  

Dies ist der krasseste Fall falscher Verstaatlichung. 

Die Bundesregierung hat Ende 2007 ein Programm aufgelegt, wonach in den Jahren 2008 bis 2010 350 Millionen Euro an Betriebe ausgekehrt werden, die solche Schulabgänger einstellen, welche bisher ohne betriebliche oder schulische Berufsausbildung im Übergangssystem geparkt werden. Je Lehrling aus dem Übergangssystem sollen, abhängig von der Höhe des Ausbildungsentgeltes, einmalig zwischen vier- bis sechstausend Euro an den Ausbildungsbetrieb gezahlt werden.  

Die SPD hält sich zugute, dies gegen den Widerstand der Unionsparteien in der Koalition durchgesetzt zu haben.  

Gemessen an den 6 Mrd. € jährlicher Ausgaben für das Übergangssystem sind die 117 Millionen € jährlicher Ausbildungsbonus nicht nur der Höhe nach lächerlich: Da werden erst 6 Mrd. jährlich ausgegeben, um Schulabgänger im Übergangssystem abzuladen, und dann sollen noch einmal 117 Mio. nachgelegt werden, um sie da wieder rauszuholen. Was für eine Schildbürgerpolitik! Wäre es nicht besser, diese Milliarden für den Aufbau von überbetrieblichen staatlichen Lehrwerkstätten einzusetzen, die eine qualifizierte Berufsausbildung vermitteln? 

Jedes Jahr enden etwa eine halbe Million Schulabgänger im Übergangssystem. Gemessen daran, sind die 23.000 Ausbildungsplätze, die theoretisch jährlich durch den Ausbildungsbonus geschaffen werden könnten, weniger als ein Tropfen auf dem heißen Stein. 

Aber nicht einmal dazu wird es kommen. Denn im Übergangssystem befinden sich genügend Jugendliche mit guten Hauptschul- oder Realschulabschlüssen, die leicht eine Lehrstelle fänden, wenn es denn genügend Lehrstellen gäbe. Der Ausbildungsbonus wird dazu führen, dass sich die Ausbildungsbetriebe aus dem Reservoir des Übergangssystems bedienen und die Bonuszahlung von vier- bis sechstausend Euro mitnehmen, ohne dass ein einziger neuer Ausbildungsplatz entsteht.  

Zu Recht kritisiert die IG-Metall darüber hinaus: Als Kriterium für den Zuschuss dient die durchschnittliche Ausbildungsleistung in den vorausgegangen drei Jahren. Wenn der Betrieb die Zahl der Lehrstellen über dieses Niveau anhebt, bekommt er den Zuschuss von 4000 bis 6000 Euro pro Ausbildungsplatz. Nun haben die meisten Branchen ihre Angebote 2007 deutlich ausgeweitet. Sie profitieren beim Ausbildungsbonus also von den besonders schwachen Niveaus in 2005 und 2006, die ihren Dreijahresdurchschnitt drücken. Die meisten Betriebe können mit ihrem Lehrstellenangebot unter dem des Jahres 2007 bleiben und dennoch die Bonuszahlungen mitnehmen. 

Das System der Dualen Berufsausbildung ist in der Krise. Es gibt zu wenige Ausbildungsplätze, und es gibt noch weniger qualifizierte Ausbildungsplätze. Anstatt die Unternehmer zu subventionieren, anstatt Milliarden für das Übergangssystem zu verschleudern, läge es nahe, überbetriebliche staatliche Lehrwerkstätten mit qualifizierter Berufsausbildung zu errichten, die jedem Jugendlichen, der im Dualen System keine qualifizierte Ausbildung findet, offen stehen. 

Es ist unübersehbar, dass mit der Einverleibung der DDR eine schwelende berufsbildungspolitische Krise sich dramatisch verschärft hat, und die Unternehmerverbände fragen sich, wie die nicht mehr hinreichend vorhandene klein- und handwerksbetriebliche Ausbildung ersetzt werden kann. Die Antwort heißt Markt und Modularisierung, und gemeint ist weitere Dequalifizierung. 

Der marktradikale Bildungsforscher Günter Kutscha fordert schon jetzt die Unternehmer auf, die Chancen zu nutzen, die sich aus dem Lehrstellenmangel ergeben und informelle Zugeständnisse zu erpressen, die „z.B. darin bestehen, dass vorhandene formelle Regelungen, etwa die der Ausbildungsordnungen, modifiziert werden bzw. nicht mehr auf deren Einhaltung bestanden wird und die Ordnungsmittel de facto ihren Ausschließlichkeitsanspruch, wie in das Berufsbildungsgesetz vorschreibt, verlieren. Im Ergebnis läuft diese Entwicklung darauf hinaus, dass die bisherigen Ausbildungsstandards weniger institutionell als durch den Markt bestimmt werden und die besonderen Bedingungen des Einzelfalls in der berufsbildungspolitischen Arena ein deutlich stärkeres Gewicht erhalten.“20) 

Was jetzt, zunächst vorläufig, durch Unterlaufen der gesetzlichen Regelungen bewerkstelligt werden könne, soll ganz zum Regelungsprinzip der Berufsbildung gemacht werden. An die Stelle der bisherigen Berufe sollen Module treten, die in einem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQF) vereinheitlicht werden und durch ein Punktebewertungssystem (ECVET) vergleichbar werden. Die Module sind winzige Kompetenzfragmente, die im Betrieb oder anderswo, nämlich bei privaten ‚Bildungsanbietern’ erworben werden sollen und die miteinander kombinierbar sein sollen und in kleinen Paketen, sogenannten ‚Niveaus’, zusammengefasst werden. Niveau 1 dieser Qualifikationsskala wird z.B. mit Basisfertigkeiten und dem Wissenstand der Pflichtschule ohne Abschluss erreicht! Hier sind die Ausbildung zur Klofrau und zum Straßenkehrer gemeint. Erlernt man zusätzlich die Module „Rolle an verschiedene soziale Umgebungen anpassen“ und „auf einfache Kommunikation reagieren“, so hat man die Voraussetzung zur Serviererin oder Garderobiere erworben, usw. 

Kehren wir noch einmal zur Arbeitsteilung zwischen Handwerk bzw. Kleinbetrieben auf der einen und Großindustrie auf der anderen Seite zurück um genauer zu verstehen, was hier passiert: Gerne stellt VW den Bäcker an die Taktstrasse der Produktion, weil er arbeiten gelernt hat. An seinem Wissen über Brötchen, Sauerteig, Torten, Hygiene, Lebensmittelchemie usw. ist VW jedoch nicht interessiert. Muss die Industrie nun, weil der Nachschub an Arbeitskräften aus dem frühindustriellen und handwerklichen Sektor fehlt, selber ausbilden, so wird sie die Ausbildung auf den von ihr angewendeten Kompetenzbereich beschränken, alles andere wäre Kapitalverschwendung. Das ist der Sinn der Modularisierung der Berufsausbildung. Da, wo dies technisch und organisatorisch möglich ist, wird die Industrie selbst diese Module vermitteln, wo nicht, sollen private Anbieter dies unternehmen. Man sieht förmlich die Bildungsfabriken aus England, wo ein ähnliches Modulsystem bereits gestartet wurde, auf den kontinentaleuropäischen Markt drängen. 

Bei der Modularisierung handelt es sich nicht um Pläne oder Überlegungen für eine ferne Zukunft. Sie ist von den Bildungsministern der EU (Kopenhagen 2002) fest vereinbart. Die Große Koalition hat sie in den Koalitionsvertrag aufgenommen. 

Bildung darf keine Ware sein 

Der Bildungsforscher Günter Kutscha, ein vehementer Befürworter der Modularisierung, äußert sich über den Sinn des Leistungspunktesystems (ECVET): „Ein Leistungspunktesystem kann ... mit dem Bild einer gemeinsamen Währung umschrieben werden. Das gängigste Prinzip ist derzeit die Werteinheit ‚Zeit’, die als ‚workload’ bezeichnet wird. Der Workload umfasst das auf Durchschnittswerte basierte Arbeitspensum, das für den Erwerb bestimmter Kompetenzen auf den unterschiedlichen Referenzniveaus erforderlich ist.“21) Hier kommt die Marxsche Arbeitswerttheorie zu unverhofften und vom Verfasser wohl kaum geahnten Ehren.   

Mittels der Modularisierung der beruflichen Ausbildung sollen dort, wo keine kleinbetriebliche Zulieferung  möglich ist, die Bildungsinhalte noch enger als bisher, quasi fugenlos und ohne jeden für den Kapitalisten nutzlosen Überschuss, auf die Arbeitsanforderungen der Industrie beschränkt werden. Die Menschen sollen gänzlich auf die Ware Arbeitskraft reduziert werden.  

Diese Tendenz hat seit Beginn des Kapitalismus existiert, und gegen sie hat sich die Arbeiterbewegung von Anfang an gewehrt: Der Sozialdemokrat Carlo Schmid fasste 1964 zusammen: „Es ist also kein Zufall gewesen, dass gleich zu Beginn der Arbeiterbewegung die Forderung nach besseren Bildungsmöglichkeiten für alle bestand. Bildung sollte die Menschen in die Lage versetzen, mit den Bedingungen und Folgen der Industriegesellschaft fertig zu werden, sich von all dem zu emanzipieren, was sie zu bloßen Werkzeugen in der Hand von Gebietern machte, die sie um des täglichen Brotes willen, in Abhängigkeit zu halten vermochten. Bildung sollte dem Menschen das Rüstzeug vermitteln, dessen er bedurfte, um die Welt zu verändern. Dies war der Zweck der Arbeiterbildungsvereine, die vor den Parteien und Gewerkschaften existierten.“22)   

Der Kampf ging um Kenntnisse und Fähigkeiten jenseits der bloßen Anforderungen des Arbeitsprozesses, um das soziale Individuum jenseits der Ware Arbeitskraft. 

Ist dies noch das Leitmotiv des Handelns der Gewerkschaften angesichts der aktuellen Initiativen zur Verschlechterung der Berufsausbildung? 

Die IG-Metall hat die Berufsbildungsforscherin Ingrid Drexler beauftragt, die Folgen der drohenden  Modularisierung der Berufsbildung zu begutachten und „Schlussfolgerungen für Strategie und Handeln der Gewerkschaften“ herzuleiten. Diese Folgen werden von Drexler auf verschiedenen Ebenen untersucht: „sowohl Folgen für das Duale System, seine Funktionsbedingungen und letztlich seine Existenz sowie – allgemeiner – für berufliche Bildung, als auch Sekundärfolgen für die Gesellschaft: Folgen in Bezug auf die Qualifikationsausstattung und –struktur des Arbeitskräftenachwuchses und die Qualifikationsversorgung der Wirtschaft, auf den Arbeitsmarkt, auf die öffentlichen Kassen und nicht zuletzt auf das Entlohnungssystem und die rechtlichen und faktischen Einflusschancen von Arbeitnehmern und ihrer Interessenvertretung.“23)   

Die Folgen für das soziale Wesen Arbeitskraft tauchen gar nicht erst auf!  

Die Untersuchung teilt die kapitalistische Prämisse, dass es bei der Berufsausbildung darum gehe, die Ware Arbeitskraft für die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragten Anforderungen zuzurichten und dies möglichst billig. Ihre weitere Sorge gilt – „nicht zuletzt“ - den Mitwirkungsrechten der Gewerkschaften. Und das war’s! 

Drexels Empfehlung, das „EQR/ECVET-Konzept abzulehnen und der damit verbundenen Entwicklung entgegenzutreten“24) stützt sich darauf, dass mit der Ablösung des Dualen Systems „wesentliche Funktionalitäten“ dieses Systems verloren gingen: die Versorgung der Wirtschaft mit breit geschnittenen, standardisierten Berufsqualifikationen, die Qualitätskontrolle der Berufsausbildung, die „Regulierung und Ausrichtung von Ausbildungsgeschehen und –ergebnissen auf den tatsächlichen Bedarf und den Arbeitsmarkt (!) durch die Sozialpartner“.25)  

Und das, denkt Drexel, können doch wohl auch die Kapitalisten letztendlich nicht wollen. Denn „eine solche Entwicklung gefährdet natürlich (!) die relative Stärke der vielen auf Qualitätsprodukte und qualifizierte Dienstleistungen orientierten deutschen Betriebe in der internationalen Arbeitsteilung. Damit wäre eine wesentliche Grundlage für einen großen Teil des deutschen Exports betroffen. Der Standort Deutschland würde ein Gutteil seiner viel gerühmten komparativen Vorteile in Bezug auf Qualifikation und Motivation seiner Arbeitskräfte und die dadurch ermöglichte nichttayloristische Arbeitsorganisation und hohe Arbeitsproduktivität einbüßen.“26) 

Die Gewerkschaften als Retter des Dualen Systems zum Nutzen des deutschen Kapitals! 

Diese Denkschule gewerkschaftsnaher Berufsbildungsforscher hat die politische Ökonomie des Dualen Systems nicht verstanden, und dies führt zu einem weiteren fatalen Fehler. Anstatt zu sehen, dass ein Bedarf an Modularisierung nur insoweit besteht, als die alte Arbeitsteilung zwischen Handwerk und Kleinbetrieben auf der einen und Großindustrie auf der anderen Seite nicht mehr funktioniert, gehen sie von einem umfassenden, dem europäischen Vereinheitlichungsprozess geschuldeten Paradigmenwechsel aus. Da kann man sich dann bei der Verteidigung der Dualen Ausbildung tolle Scheinsiege ans Revers heften, Niederlagen als Triumphe beschönigen, wenn man das Duale System für Bäcker, Friseure, Gaststättenfachkräfte usw. rettet.   

Auch hier weist Drexel den Gewerkschaften den Weg: Es sollen „Allianzen mit den Arbeitgebern“ gebildet werden. „Die Voraussetzungen für Widerstand sind nicht schlecht ... das zeigen Erklärungen der Arbeitgeber gegen Modularisierung ... so insbesondere die Gewährleistung von Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung (!) als Ordnungsrahmen für Planung und Durchführung der Berufsbildung und die Beteiligung der Sozialpartner.“27) 

Die Gewerkschaften als Verteidiger der Handwerksordnung, auf deren Grundlage die Lehrlingszüchterei betrieben wird!  

Es ist offenbar diese ins Auge gefasste Allianz mit dem Handwerk und seinen Verbänden,  die die Gewerkschaften und die SPD-Linke dazu bewegt, ihre traditionelle Kritik an der Berufsbildungsmisere nicht mehr vorzutragen. Man will den Bündnispartner gegen die Modularisierung nicht verprellen. 

Angesichts dieser Haltung der Gewerkschaften weist Kutscha süffisant darauf hin, dass diese mit der Parole „Verteidigt das Berufsprinzip“ zwar vordergründig im scharfen Gegensatz zu den Modularisierungs-Zielen der Unternehmerverbände stehen, aber eine „Nationale Partnerschaft“ dennoch nicht ausgeschlossen zu werden braucht. Die Gewerkschaften verteidigten damit auch das Duale System und das Konsensprinzip, will heißen: das Recht der Gewerkschaften in der Berufsbildungspolitik als Juniorpartner mitzureden. Beides werde auch von den Unternehmerverbänden nicht in Frage gestellt. Und an einer Aufweichung des Berufsprinzips hätten die Gewerkschaften auch in der Vergangenheit bereits mitgewirkt.28) 

Forderungen sozialistischer Politik 

Die gewerkschaftliche Forderung, das Berufsprinzip zu verteidigen, ist zweideutig. Läuft sie darauf hinaus, das bestehende Duale System oder Bestandteile dieses Systems zu verteidigen, so ist sie reaktionär. Läuft sie darauf hinaus, das Prinzip einer umfassenden Arbeitsqualifikation zum Maß gewerkschaftlichen Handelns zu machen, so ist sie zu unterstützen. Dieses Prinzip aber war nie verwirklicht. Es kann gar nicht um seine Verteidigung gehen, sondern darum, es erstmals durchzusetzen. 

Vor 140 Jahren postulierte ein Vertreter der Arbeiterbewegung: „Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an dem großen Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche, gesunde und berechtigte Tendenz, obgleich die Art und Weise, auf welche diese Tendenz unter der Kapitalherrschaft verwirklicht wird, eine abscheuliche ist.“ Es geht um ein „Gegengift gegen die Tendenzen eines gesellschaftlichen Systems,  das den Arbeiter herabwürdigt zur einem bloßen Instrument für die Akkumulation von Kapital. ... Das Recht der Kinder und Jugendlichen muß geschützt werden. ... Der aufgeklärtere Teil der Arbeiterklasse begreift ... sehr gut, daß die Zukunft seiner Klasse und damit die Zukunft der Menschheit völlig von der Erziehung der heranwachsenden Arbeitergeneration abhängt. Er weiß, daß vor allem andern die Kinder und jugendlichen Arbeiter vor den verderblichen Folgen des gegenwärtigen Systems bewahrt werden müssen. Das kann nur erreicht werden durch die Verwandlung gesellschaftlicher Einsicht in gesellschaftliche Gewalt, und unter den gegebenen Umständen kann das nur durch allgemeine Gesetze geschehen, durchgesetzt durch die Staatsgewalt.“  

Und auch was den Inhalt der Berufsbildung angeht, kann man von diesem Autor lernen: „Unter Erziehung verstehen wir drei Dinge: Erstens: Geistige Erziehung. Zweitens: körperliche Erziehung, wie sie in den gymnastischen Schulen und durch militärische Übungen gegeben wird. Drittens: Polytechnische Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige. ... Es ist selbstverständlich, daß die Beschäftigung aller Personen vom 9. bis (einschließlich) 17. Jahre des Nachts und in allen gesundheitsschädlichen Gewerben durch Gesetze streng verboten werden muß.“29)  

Was bedeutet das heute? 

1.       Verwissenschaftlichung der Produktion und Arbeitsteilung sind die einander entgegengesetzten Bedingungsfaktoren der Arbeitsanforderungen in Produktion, Verwaltung und Dienstleitung. Die privatkapitalistische Kontrolle der Berufsausbildung und das Staatshandeln in der Berufsausbildung im kapitalistischen Interesse gewährleisten, dass die Qualifizierungsprozesse durch die kapitalistische Arbeitsteilung gesteuert werden. Deshalb muss Schluss sein mit der sogenannten Selbstverwaltung der Wirtschaft in der Berufsausbildung. Eine verstaatlichte Berufsbildung hat sich an den modernen Produktionsverfahren als Bildungseinheiten und nicht an deren tayloristischer Zersplitterung zu orientieren.  

2.       Die Produktionsverfahren werden immer materialunabhängiger. Die alten Berufe verlieren mehr und mehr ihre Bedeutung. Be- und Verarbeitungsprozesse in der Metallverarbeitung, der Holzverarbeitung, der Kunststoffbearbeitung, der Textilherstellung und -verarbeitung gleichen sich tendenziell an. Die Computersteuerung ist da nur ein eindrucksvolles Beispiel unter vielen für übergreifende Verfahrenstechnologien: 1998 verwendeten selbst 27% der in Gartenbau und Landwirtschaft Beschäftigten zumindest gelegentlich computergesteuertes Gerät. Der entsprechende Anteil lag zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt aller Beschäftigten bei zwei Dritteln.30) Das war vor acht Jahren! 

3.       Solche Schlüsseltechnologien gehören in eine vorberufliche Grundausbildung, auch Fremdsprachenkenntnisse sind eine der Schlüsseltechniken. 

4.       Daran schließt sich eine Ausbildung in wenigen neuen Grundberufen an, als da sein könnten: Fachkraft für Werkstoffbearbeitung und Fertigung; Fachkraft für Wasser und Energie; Fachkraft für Nahrungsmittelherstellung; Fachkraft für Gesundheit und Soziales; Fachkraft für Naturproduktion; Fachkraft für Bau und Bergbau; Fachkraft für Chemie; Fachkraft für Kommunikation und Medien; Fachkraft für Verkehr und Transport; Fachkraft für Verwaltung. Die Kenntnisse für Instandhaltung, Wartung, Reparatur sind integraler Bestandteil der jeweiligen Grundberufe. 

5.       Die Grundberufe eröffnen den Zugang zum Studium. Weitere Spezialisierung kann sich an die Ausbildung im Grundberuf anschließen. Jeder hat  ein Recht auf Weiterbildung. Staatliche Weiterbildungsprogramme sind, dem technischen Wandel entsprechend, zu schaffen.  

6.       Ausbildungsort sind Betriebe ganz oder teilweise nur dann, wenn sie eine entsprechende staatliche Zulassung erhalten. Die Ausbilder sind auch in diesen Betrieben staatliche Lehrkräfte. Ansonsten – und im Regelfall - findet die Ausbildung in überbetrieblichen staatlichen Lehrwerkstätten statt. In diesen staatlichen Lehrwerkstätten wird produziert und dabei gelernt, wobei Produzieren und Lernen einschließen: Planung, Entscheidung über Alternativen, Durchführung und Bewertung. 

Alle Sofortmaßnahmen müssen in diese Richtung zu gehen: 

1.       Die betrieblichen Ausbilder müssen ihre Eignung in staatlichen Prüfungen nachweisen, neue Ausbilder haben eine staatliche Ausbildung zu absolvieren. Die betrieblichen Ausbilder sind nur staatlichen Stellen verantwortlich. 

2.       Es muss mit der Lehrlingszüchterei Schluss gemacht werden: Die betriebliche Lehrlingsquote darf mit 15 % der Beschäftigten den Ersatzbedarf an Arbeitskräften nur wenig überschreiten. Damit kann der Betrieb – im Großen und Ganzen – seinen Nachwuchsbedarf decken. Ausnahmen können für Betriebe mit hohem Ausbildungsstandard gemacht werden. 

3.       Im Jahre 2000 haben nur 2% der Arbeitsamtsbezirke in den alten Bundesländern die Richtlinie erfüllt, derzufolge das Angebot an Lehrstellen 12,5% über der Nachfrage liegen muss; in den neuen Bundesländern war diese Quote nie erfüllt. Dennoch wurde die unter diesen Bedingungen fällige Berufsbildungsabgabe der Betriebe niemals erhoben. Diese Abgabe ist sofort zu erheben, von Betrieben oberhalb bestimmter Bilanzsummen rückwirkend für 3, 5 oder 10 Jahre; die Mittel sind für überbetriebliche Lehrwerkstätten zu verwenden. 

4.       In allen Arbeitsamtsbezirken, in denen das Angebot an Ausbildungsplätzen nicht 112,5% der Nachfrage erreicht, sind staatliche überbetriebliche Lehrwerkstätten zu errichten, die in den vorgenannten neuen Grundberufen ausbilden. Die Zahl der Ausbildungsplätze in diesen staatlichen Lehrwerkstätten muss mindestens das Dreifache des Mangels an Lehrstellen – gemessen an der 112,5%-Klausel – ausmachen. 

5.       Wo betriebliche Ausbildung unter diesen Voraussetzungen fortbesteht, sind zwei Berufsschultage mit 12 Wochenstunden vorgeschrieben. 

6.       Nacht- und Schichtarbeit, Überstunden und Arbeit an Samstagen, Sonn- und Feiertagen sind in der Ausbildung verboten. Die tägliche betriebliche Arbeitszeit darf 8 Stunden nicht überschreiten. 

7.       Lehrlinge werden mit dem Existenzminimum entlohnt. 

8. Es besteht Schulpflicht bis zum Erwerb eines Berufsabschlusses.  

9. Zwei Stunden Sportunterricht pro Woche sind obligatorisch. 

Berufsbildungsforschung als Ideologie 

Kann die Wissenschaft im Kampf um eine Reform der Berufsausbildung helfen?

 Die Krise des Dualen Berufsbildungssystems wird durch drei Elemente gekennzeichnet:  

1.       die schwindende Fähigkeit der Kleinbetriebe für die Großindustrie die Arbeitstugenden einzuüben,

2.       das damit zusammenhängende dramatische Anschwellen des sogenannten Übergangssystems als offensichtlichstem Ausdruck dieser Krise, und

3.        – diesen Entwicklungen zugrunde liegend – die Steuerung des Dualen Systems durch den Profit bzw. den Extraprofit. 

Diese Rolle des Extraprofits für das Duale System ist das große Tabu der Berufsbildungsforschung. 

Was ist von einer Disziplin zu halten, die sich die Bildungsökonomie zum Forschungsgegenstand macht und seit ihrem Bestehen nicht auf die Idee gekommen ist, die betriebswirtschaftliche Seite der Dualen Berufsausbildung zu untersuchen? Das ist umso erstaunlicher, als die Rationalität betrieblicher Gewinnmaximierung geradezu das Zentrum des vorherrschenden marktwirtschaftlichen Credos bildet.  

Warum denken jene Bildungsforscher, die – wie falsch auch immer – den Gegensatz zwischen einzelbetrieblichem und gesamtwirtschaftlichem Kalkül für die Misere der Berufsbildung verantwortlich machen, diesen Gedanken nicht wenigstens zu Ende und fordern nicht den regelnden Eingriff des Staates? 

Nie wurden die von den Unternehmerverbänden vorgetragenen Zahlen über ihre Kosten für die Berufsausbildung in Frage gestellt, wonach die Betriebe pro Lehrling und Jahr (2006) nach Selbsteinschätzung angeblich 8.600 € ausgeben und die Kosten für die Berufsausbildung einschließlich der Berufsschulen sich auf 10.200 € jährlich belaufen, während die entsprechenden Zahlen der staatlichen Ausgaben für Schüler an Gymnasien und Studenten 5.400 € bzw. 5.500 € betragen.31) Statt dessen rutscht diese Wissenschaft vor den Ausbildungsbetrieben auf den Knien, preist deren „commitment“32), deren soziales Verantwortungsbewusstsein, wenn sie überhaupt Lehrstellen zur Verfügung stellen. 

Dieses Tabu aber besteht nicht zwangsläufig und es bestand nicht immer. Die Erfahrungen der betroffenen Lehrlinge, Arbeiter und Angestellten, auch der Ausbilder kannten schon immer den Zusammenhang zwischen Berufsausbildung und Ausbeutung. Und auch das öffentliche Bewusstsein und die Wissenschaft haben vor diesem Zusammenhang  nicht immer die Augen verschlossen.  

Alsbald nach dem 2. Weltkrieg kommt der Gutachter im Amt des amerikanischen Hohen Kommissars zu dem Schluss: die deutschen Lehrlinge sind „im wesentlichen Arbeiter und keine Schüler“ und die deutsche Lehre muss als „System der billigen Arbeitskräfte“ angesehen werden.33)  

Als die im Gefolge der Studentenbewegung entstehende Lehrlingsbewegung in ihren Flugblättern und Pamphleten, in den Betriebsgruppen, den überbetrieblichen, basisdemokratischen Zentren, und schließlich auch in der Gewerkschaftsjugend die Ausbildung als Ausbeutung anprangerte, da nahm auch die Wissenschaft vorübergehend diese Anklage auf. Martin Baethge, heute wohl der Doyen der deutschen Berufsbildungsforschung, stellte damals fest, dass „in nicht unerheblichen Teilen des Handwerks und vermutlich auch industrieller Kleinbetriebe Lehrlinge nach wie vor als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden ... Die Praxis des Einsatzes von Lehrlingen als billige Arbeitskräfte wird für das Handwerk auch durch die Überproduktion von Gesellen wie durch die Lehrlingsquote belegt. 1963  betrug der Anteil der Lehrlinge an der Gesamtzahl der Arbeiter im Handwerk 17,4%, in der Großindustrie 1964 3,9%. Die hohen Berufswechselquoten von vornehmlich im Handwerksbereich ausgebildeten Fachkräften, die zumeist in Un- und Angelernten-Positionen in der Industrie wechselten, sind ebenfalls oft genug zitiert worden: so waren 1964 nur mehr 37% der Bäcker, 42% der Schneider, 41% der KFZ-Handwerker und 50% der Schlosser im erlernten Beruf tätig.“34) Wegen der Unterordnung der Berufsbildung unter den Profit muss Baethge zufolge die Berufsbildungsforschung „klar sagen, und die Politiker zwingen zu sagen, in wessen Interesse sie Bildungsreform betreiben wollen: im Interesse eines weitgehend von den Unternehmern bestimmten ökonomischen Bedarfs oder nach Maßgabe der Bedürfnisse der abhängig Tätigen.“35) 

Nach der Niederlage der Lehrlingsbewegung, die in der Rücknahme der „Markierungspunkte“ ihren deutlichsten Ausdruck fand, verabschiedete sich auch die Wissenschaft schleunigst von derartigen Betrachtungsweisen und Vorschlägen. Nie wurden die fruchtbaren Fragen der Berufsbildungswisssenschaftler jener Jahre in systematische Forschung umgesetzt. In seiner jüngsten Publikation schreibt Baethge, ganz gewandelt: dass „es nicht Sache eines wissenschaftlichen Gutachtens sein kann, einen politischen Maßnahmekatalog zu präsentieren.“36) Und im folgenden empfiehlt er dann doch mit feinem Instinkt für das, was ohnehin im Schwange ist, die „eingebettete Modularisierung ... ohne dass das Berufsprinzip aufgegeben werden müsste“.37) 

Dieser Opportunismus der Forschung vermittelt sich über Forschungsmittel und Forschungsein-richtungen. Auch davon hat sich die Berufsbildungsforschung zu anderen Zeiten noch Rechenschaft abgelegt und bekannt, dass sie „in vielfältigen sozialen und politischen Zusammenhängen“ steht. „Die Berufsbildungsforschung produziert deshalb kaum absolut gültige Wahrheiten, sondern sie orientiert sich an bestimmten Normen, Zielen und Werturteilen. Zwischen Forschung und Politik bestehen deshalb enge Verflechtungen.“38)  Und diese bestehen umso mehr, als das 1969 geschaffene Institut für Berufsbildungsforschung paritätisch von Unternehmern, Gewerkschaften und dem Staat kontrolliert wird und „eine Freiheit der Forschung auch nicht in Ansätzen besteht.“39)

 

Das ist eine handfeste Aussage darüber, wie sich Interessen in wissenschaftliche Forschung und in Ideologie übersetzen. Auch Baethge wusste in Zeiten des intellektuellen Aufbruchs der Studentenbewegung noch von einem Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Ideologie. Allerdings drückt er sich darum, den Forschungsbetrieb als Vermittlungsinstanz zu benennen. Er flüchtet statt dessen in eine Tautologie und macht das als selbstverständlich Akzeptierte – die Ideologie – für die Entstehung der Ideologie verantwortlich: „Die Vernachlässigung wichtiger sozialer Bereiche durch die soziologische Forschung ist interessant genug, um über ihre möglichen Ursachen zu reflektieren; könnte doch allein schon der Sachverhalt, dass bestimmte soziale Bereiche sich der wissenschaftlichen Durchleuchtung entziehen können, etwas über die Interessenbindung der Sozialwissenschaften aussagen: dass ihr nicht problematisch wird, was ihr infolge ihres eigenen Integriertseins in einer bestimmten Gesellschaft  als selbstverständlich erscheint.“40) 

Aber plötzlich scheint alles anders zu sein. Den Anfang machte eine Untersuchung aus der Schweiz nach der Jahrtausendwende. Sie vergleicht Betriebe, die ausbilden, mit solchen, die dies nicht tun und stellt erstmals fest, dass dort ausgebildet wird wo sich ein „Nutzen“, d.h. Profit aus der Ausbildung ziehen lässt: „Der Nutzen der Lehrlingsausbildung liegt am produktiven Beitrag der Lehrlinge an die Unternehmensleistung des ausbildenden Betriebes. Der fehlende Nutzen bei den nicht-ausbildenden Unternehmen spricht also dafür, dass diese über zu wenig produktive Einsatzmöglichkeiten (= Arbeit) für potentielle Lehrlinge verfügen.“ Und die Beriebe verhalten sich, am Profitmotiv gemessen, durchaus rational: „es lassen sich in der Gruppe der nicht-ausbildenden Betriebe nur knapp 2% der Betriebe finden, die keine Lehrlinge ausbilden, obwohl die geschätzten Nettokosten keinen finanziellen Verlust (über die Lehrzeit berechnet) hätten erwarten lassen.“41) 

Diese Fragestellung wurde alsbald in Deutschland aufgegriffen und von dem Bremer Wissen-schaftler Felix Rauner zugespitzt. Nicht darum, ob ein Betrieb sich durch die Berufsausbildung keine Kosten auflädt, ging es nun, sondern – richtigerweise – darum, ob die Lehrlingsausbildung einen „Mehrwert“42), d.h. hier, einen Extraprofit über die normale Ausbeutung der Ware Arbeitskraft hinaus, in die Kasse spült. Und siehe da: sie tut es! 

Ist damit die Berufbildungsforschung vom Ideologieverdacht rehabilitiert? 

Diese Wissenschaftler sind nicht doof. Natürlich drängte sich auch ihnen die banale Frage nach der betriebswirtschaftlichen Kosten/Nutzen Bilanz der betrieblichen Ausbildung schon immer auf. Aber sie haben sie über viele Jahrzehnte hinweg nicht gestellt. Es war nicht opportun. Die Winde der ökonomischen und politischen Konjunktur wehten aus anderen Richtungen. Die als Ausbildung getarnte Ausbeutung war das große Tabu dieser Wissenschaft. Forschungsmittel zur Aufdeckung des Zusammenhangs von Extraprofit und Ausbildung waren nicht einzuwerben, und Betriebe, die sich hätten in einem Forschungsprojekt  in die Karten schauen lassen, nicht zu finden. „Auch wenn sich die Berufsausbildung unternehmerisch rechnet, ist es in dem herrschenden Klima der ‚Versorgung von Jugendlichen’ nicht opportun, sich zur Rentabilität der Berufsausbildung zu bekennen.“43) Da ist Rauner anders, er bekennt sich. 

Denn unter dem Druck des Lehrstellenmangels beginnen sich die Maßstäbe zu ändern. Wenn Berufsausbildung von den Unternehmen nur insoweit durchgeführt wird, wie sie einen Extraprofit ermöglicht, dann muss man die Rahmenbedingungen ändern. Weg  mit allem, was die Profitabilität stört, und schon gibt es genügend Ausbildungsplätze. Deshalb fordert Rauner „ein Reformprojekt Duale Berufsbildung, das drei Ziele im Zusammenhang verfolgt, nämlich (1.) die Erhöhung der Attraktivität der dualen Berufsbildung für Unternehmen aller Sektoren und für Schüler mit unterschiedlichen Begabungen und beruflichen Neigungen, (2.) die Erhöhung der Rentabilität der beruflichen Bildung hin zu einem sich selbst finanzierenden System und (3.) eine Rücknahme schulischer Formen der Berufsbildung und –vorbereitung zugunsten einer höheren Ausschöpfung der Ausbildungspotenziale der Wirtschaft.“44)  

Nun kennt man das alles aus der Vergangenheit: Berufsschultag? Schlecht für den Extraprofit! Prüfungsvorbereitungen? Auch nicht gut! Lehrlingsentgelt? Ein Kostenfaktor, schlimmer noch, als die Ausbilderkosten! Verbot von Nachtarbeit, Schichtarbeit, Akkord? Ganz mies! Subventionen zwecks Ausschöpfung der Ausbildungspotenziale? Darüber könnte man allerdings reden, vorausgesetzt, die Kontrolle der Wirtschaft über die Berufsausbildung wird nicht angetastet! 

Nein, sagt Rauner, so ist das nicht gemeint. Er weiß, sein Reformprojekt „stößt zu Recht (!) auf das Bedenken jener, die befürchten, dass eine Erhöhung der Ausbildungserträge und die Reduzierung der Ausbildungskosten das Risiko einer Senkung der Ausbildungsqualität birgt, weil Auszubildende als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden – so ein geläufiges Standardargument. Dieses Argument kann weitgehend entkräftet werden, da gezeigt werden kann, dass eine hohe Ausbildungsqualität nur erreicht werden kann, wenn die qualifizierenden Potenziale wertschöpfender Arbeitsaufgaben für das Lernen im Arbeitsprozess ausgeschöpft werden. Dadurch nimmt auch die Rentabilität der Ausbildung zu.“45) Wunderbar, und man versteht, „dass es dabei nur Gewinner geben kann.“46) 

Wie aber das? 

Greifen wir zurück auf die Formel für den Extraprofit durch Ausbildung: Je höher die Qualifikation eines Ausbildungsberufes, desto höher der Lohn des Facharbeiters, der durch Lehrlingsarbeit ersetzt wird, und um so höher ist folglich der Extraprofit. Kein Wunder, dass Rauners Lieblingsbeispiel der Beruf des Mechatronikers ist. Gäbe es nur Berufe auf diesem Niveau, die lernend-mithelfend vermittelt werden können, dann hätte Rauner recht.  Dann hätten wir aber auch keinen Mangel an Ausbildungsplätzen. Freilich bliebe auch diese Ausbildung eine Form der Lohndrückerei. Aber Schwamm drüber! 

Rauner übersieht einen wichtigen Befund seines Schweizer Vorbildes, nämlich, dass die Betriebe sich in der Berufsausbildung unterm Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung höchst rational verhalten, die ausbildenden ebenso, wie die nicht ausbildenden.  

Hätte die Feststellung, dass der Extraprofit die Berufausbildung reguliert, noch vor wenigen Jahren eine Welle der Empörung erzeugt und  die Forderung verstärkt, den Kapitalisten die Berufsausbildung aus den Händen zu winden, so weht der Wind heute aus einer anderen Richtung. Die Arbeiterbewegung ist an allen Fronten in der Defensive. Da fasst die Wissenschaft den Mut zum Paradigmenwechsel.  

Wissenschaft ist korrupt. Und die wohl korrupteste ist die Berufsbildungsforschung. Wie kaum eine andere hängt sie ihr Mäntelchen in den Wind politischer und ökonomischer Konjunkturen und weiß es vielleicht nicht einmal. Das lässt sich an der Geschichte der Berufsbildungsforschung illustrieren. 

Der Klassenkampf bringt die politischen und sozialwissenschaftlichen Theorien hervor und nicht umgekehrt.

Klassenkampf und Reform: die Lehrlingsbewegung 

Am 2. Juni 1967 kam es anlässlich des Besuchs des Schahs von Persien zu Demonstrationen in Berlin und in der Folge zu brutalen Übergriffen der Polizei gemeinsam mit Schlägern des Persischen Geheimdienstes. Der Student Benno Ohnesorg wurde von einem Polizisten ermordet. Unmittelbar darauf konnte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Joseph Wild, auf dem Handwerkstag mit Stolz auf die Handwerksjugend verweisen: „die demonstriert nicht und missbraucht nicht ihre falsch verstandenen Freiheiten auf der Straße, aber sie ist heute, dank ihrer staatsbürgerlichen Erziehung das Rückgrat der Jugend in den staatstragenden Parteien.“47) Was für ein Irrtum!

Die Lehrlingsbewegung48) begann damit, dass zu den Aktionen und Veranstaltungen der Studentenbewegung junge Arbeiter und Lehrlinge stießen und sich parallel in der Studentenbewegung die Erkenntnis mehr und mehr durchsetzte, dass die Arbeiterklasse das Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung ist. Auch die Polizei bekommt das mit, denn unter den festgenommenen Demonstranten finden sich immer häufiger junge Arbeiter, Lehrlinge und Schüler. 

Zugleich hatte sich das soziale Klima verändert. 1967 steigt die Zahl der Streiktage auf 389.000, das fünfzehnfache des Vorjahres, und die bürgerliche Presse warnt vor der „englischen Krankheit“. Arbeitsemigranten und junge Arbeiter spielten eine auffällige Rolle. 

Im Oktober 1968 stören Lehrlinge in Hamburg eine Freisprechungsfeier. Die Politik reagiert hektisch. Maria Weber (CDU/DGB) fordert eine Reform der Berufsausbildung durch welche die Eignung der Ausbilder überprüft werden müsse, die Berufsausbildung solle als öffentliche Aufgabe anerkannt werden und Mitbestimmung die Berufsausbildung demokratisieren. Ein Mitinitiator der Hamburger Lehrlingsaktion wird vom Deutschen Bildungsrat zu einem Hearing nach Bonn eingeladen. Der Deutsche Bildungsrat fordert dort die öffentliche Verantwortung für die Berufsausbildung. 

Im Laufe des April 1969 finden in vielen Städten Lehrlingsproteste statt, die für den kommenden 1. Mai mobilisieren.  Der 1. Mai wird zum Desaster für Gewerkschaftsführung und SPD. In vielen Städten, am sichtbarsten in Hamburg, Berlin und Köln marschieren Lehrlinge in eigenen Blöcken unter Bannern wie „Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft“ und lassen die offiziellen Redner nicht zu Wort kommen, in Hamburg den IG-Metall-Chef Otto Brenner und Willy Brandt. Der Hamburger DGB-Vorsitzende verurteilt diesen „Terror der Straße“ und die „ungeheure Schändung des Mai-Feiertages“. Er lehnt alle Kontakte mit der außerparlamentarischen Opposition ab und fordert die Aufstellung von gewerkschaftlichen Schlägertrupps gegen „Störer“. 

Es kommt allerdings anders. 

Eine Gewerkschaftsjugendpolitik existiert zu dieser Zeit nicht, allenfalls Freizeitprogramme für Jugendliche, die sich aus Traditionsgründen in die Gewerkschaften verirren. Die Mitgliederzahlen schrumpfen seit Jahren.  Daraus zieht der DGB 1967 mit den Springener Beschlüssen die Konsequenz: die Kreisjugendsekretäre des DGB wurden abgeschafft. Das sollte sich für Gewerkschaftsführung noch als Glücksfall erweisen. 

Dieser Zustand der gewerkschaftlichen Jugendarbeit ist einer Gründe, weshalb die Lehrlingsbewegung außerhalb der Gewerkschaften entsteht. Die Gewerkschaften müssen handeln! Die DGB-Zeitschrift Welt der Arbeit schreibt in der Nr. 37/1969: „Bisher entsteht der Eindruck, dass sich die jugendlichen Arbeitnehmer von den Gewerkschaften verlassen fühlen. Dies darf kein permanenter Zustand sein, denn die Lehrlinge und Jungarbeiter sind die Gewerkschaftsmitglieder von morgen. Alle Gewerkschaftsfunktionäre müssen lernen, die Forderungen der Jugend zu verstehen und mit ihnen zu leben.“ Mit den Forderungen der Arbeiterjugend leben – nicht etwa sie im Kampf durchsetzen! 

Eine eilig einberufene außerordentliche Betriebsrätekonferenz des DGB beschließt am 4. Mai ein jugendpolitisches Sofortprogramm, das sogleich in Angriff genommen wird: in allen Städten, in denen die Lehrlingsbewegung bisher hervorgetreten ist, wird der sogenannte Jour Fix eingerichtet, ein von Gewerkschaften finanzierter Treffpunkt, der auch gewerkschaftlich nicht organisierten Jugendlichen offen steht, unter Verwaltung und Kontrolle des DGB. Bis 1971 sind 120 solcher Jour Fix eingerichtet. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn tatsächlich gibt es kaum eine Kreisstadt, in der nicht in den folgenden Jahren in irgendeiner Form, wie rudimentär auch immer, Lehrlingsinitiativen sich bilden. 

Die gewerkschaftliche Jugendbildungsarbeit wird intensiviert und politisiert. Im Schnellverfahren werden Schulungskader, die sogenannten Jugend-Teamer, herangezogen werden. Schulungseinrichtungen werden erweitert und neu eröffnet, im Mittelpunkt die DGB Bundesschule in Oberursel. In den folgenden Monaten werden hierfür bevorzugt Schulungskader aus der außerparlamentarischen Opposition angeworben, die unter der Parole der Einheit der Arbeiterklasse für die Integration der Lehrlingsbewegung in die DGB-Gewerkschaften eintreten. Sie kommen aus DKP, SDAJ und maoistischen Organisationen und haben, wegen der daniederliegenden Jugendarbeit des DGB, scheinbar großen Spielraum. Über ihr Schicksal  wird noch zu reden sein. 

Am 7. Mai 1969 rufen Lehrlingsgruppen zu einer bundesweiten Lehrlingsdemonstration für den 7. Juni in Köln auf. Sechs Tage später beschließt der DGB ebenfalls für den 7. Juni einen Sternmarsch für eine fortschrittliche Berufsausbildung nach Bonn. Es kommt zu einem ersten Kräftemessen. DKP und SDAJ rufen zunächst nach Bonn auf mit dem Argument, es müsse die „Einheit der Arbeiterklasse“ gewahrt werden. Unter dem Druck der Mobilisierung nach Köln knicken sie alsbald ein und mobilisieren ebenfalls nach Köln, um die „Einheit der Bewegung“ zu stärken. In Köln fordern am 7. Juni 10.000 Teilnehmer „Selbstbestimmung und Klassenkampf statt Mitbestimmung und Gewerkschaftskrampf.“ 

Vier Tage später bringt die SPD eine Gesetzesvorlage im Bundestag ein, wonach die Rechte der Jugendvertretungen gestärkt werden sollen, diese aber gleichzeitig nachdrücklich in die Betriebsräte eingebunden werden. Und die SPD propagiert, das Wahlrecht auf 18 Jahre zu senken.  

Die SPD ist offenbar unter dem Druck der Lehrlingsbewegung zur Schadensbegrenzung gezwungen, denn am 4. Juni wird im Bundestag ein neues Berufsbildungsgesetz der Großen Koalition zur ersten Lesung vorgelegt und acht Tage später beschlossen. Diese Gesetzesvorlage stammt allerdings noch aus einer anderen Zeit. Sie fasst zwar die verstreuten Vorschriften zur Berufsaubildung in einem einheitlichen Gesetz zusammen, verstärkt aber nochmals die Kontrolle des Kapitals und die autoritären Gewaltverhältnisse im Betrieb. Das Gesetz enthält all jene Regelungen, „die es ... weiterhin ermöglichen, Lehrlinge als billige Arbeitskräfte unter dem Marktpreis einer ungelernten Hilfskraft einzukaufen.“49)  Die Tribüne des Plenarsaals des Bundestages muss bei der ersten Lesung von lautstark protestierenden Jugendlichen geräumt werden. 

Es gibt aber auch Gutes zu vermelden: der Begriff ‚Lehrling’ wird als diskriminierend aus dem Berufsbildungsgesetz getilgt und durch ‚Auszubildende’ ersetzt. Die schöne Bezeichnung Azubi setzt sich in der Folge durch. 

Im September 1969 schäumt eine spontane Streikwelle auf.  Ausgehend von der Hoesch AG legen innerhalb von 18 Tagen 140.000 Beschäftigte aus 69 Betrieben die Arbeit nieder. Die Streiks enden ausnahmslos erfolgreich. Lehrlinge beteiligen sich mit eigenen Forderungen. 

Inzwischen geht die Organisation der Arbeiterjugend in überbetrieblichen Zentren weiter. Die aus der APO hervorgegangenen politischen Organisationen beteiligen sich einerseits an diesen Zentren, versuchen aber andererseits, Sonderorganisationen, wie das von Maoisten dominierte Sozialistische Arbeiter- und Lehrlingszentrum SALZ in Hamburg oder den Lehrlingsarbeitskreis Bergedorf LAK zu gründen.50) Jusos, SDAJ und Falken arbeiten ebenfalls in diesen Zentren mit, nicht ohne gleichzeitig ebenfalls zu versuchen die politisierten Jugendlichen in ihren Reihen zu organisieren. So veranstalten die Jusos im November 1970 in Düsseldorf einen Lehrlingskongress, der, ohne dass andere Strömungen dorthin mobilisiert hätten, unter den Druck einer starken linken Minderheit gerät und im Chaos endet. 

1970 verdoppelt sich die Zahl der an Streiks beteiligten gegenüber 1969 auf 186.000, und die Gewerkschaften erzielen die höchsten Tarifabschlüsse in der bisherigen Geschichte des DGB. Die Lehrlingsvergütung steigt dabei überproportional. 

Im Februar 1970 beschließt der Hamburger Jour Fix eine Kampagne gegen die Berufsschulmisere im Stadtstaat. Diese Kampagne wird von der regierenden SPD im Bürgerschaftswahlkampf als störend empfunden, der DGB untersagt diese Kampagne, und der Jour Fix bläst sie ab. Dies ist ein Menetekel für den am Horizont drohenden Niedergang der Lehrlingsbewegung. 

Aber noch ist es nicht so weit!  

Es ist kein Zufall, dass sich der Protest der Arbeiterjugend in überbetrieblichen Zentren organisiert. So wie die Ausbildung in Deutschland funktioniert, kommen die meisten Lehrlinge aus Kleinbetrieben. Zu schwach, zu isoliert ist meist ihre Stellung im Betrieb, zu gering die Solidarität der älteren Kollegen, als dass der Kampf im Betrieb  aufgenommen werden könnte. Von diesen Zentren aus wird der Druck auf Veränderungen in den Betrieben, insbesondere durch Entlarvung der massenhaften Gesetzesverstöße, aber auch der Druck auf die Reform der gesetzlichen Rahmenbedingungen organisiert. Gerade die Bloßstellung von Missständen in den Betrieben ist sehr erfolgreich. Lehrlingsgruppen brauchen vielerorts eine Dokumentation über die Verhältnisse in einzelnen Betrieben nur anzukündigen, und schon wird reagiert – mit Abstellung der Missstände, gleichzeitig aber auch mit Repression. In der Aufschwungphase der Lehrlingsbewegung stärkt die Repression jedoch nur die Solidarität und Angriffslust. 

Die Bloßstellung von Gesetzesverstößen scheint eine relativ harmlose Attacke zu sein. Sie gewinnt ihre Dynamik und Sprengkraft jedoch daraus, dass die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften eigentlich von den Betriebsräten überwacht werden müsste. Die Attacken führen daher vielfach zum noch engeren Schulterschluss von Firmenleitungen und gewerkschaftlichen Betriebsräten. Und wenn man den dominierenden Einfluss der Betriebsräte auf die lokalen Verwaltungsstellen der Einzelgewerkschaften kennt, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass die Aktivisten der Lehrlingsbewegung das Gefühl haben, in einen Zweifrontenkrieg gegen Kapital und Gewerkschaftsbürokratie um ihre Forderungen und um innergewerkschaftliche Demokratie verwickelt zu sein. 

Neben der Konzentration auf überbetriebliche Aktionszentren gibt es aber auch andere Kampfformen unter besonderen Bedingungen. Eine solche ist der Streik der Lehrlinge in der Lehrlingsausbildungswerkstatt (LAW) der Stadt Frankfurt.51)  Deren Personalrat besteht aus Ausbildungsmeistern. Wie überall, herrscht auch hier die Gepflogenheit, Lehrlinge während der Probezeit in andere Ausbildungsberufe zu stecken, je nach dem, wie der Bedarf der städtischen Betriebe ist, in denen sie den größten Teil ihrer Ausbildung als billige Arbeitskräfte zubringen. Im September 1970 erzwingt sich die Jugendvertretung bei der Einstellungsfeier Gehör und informiert die Neuen und deren Eltern über diese Praxis.  

Bereits im Mai hatte es einen vierstündigen Warnstreik gegeben. Es wurde durchgesetzt, dass Berichtshefte während der Arbeitszeit geführt werden, Arbeitsberichte und Zeichnungen im 2. Lehrjahr nur noch alle zwei Wochen, ab dem 3. Lehrjahr nur alle vier Wochen angefertigt werden, sowie eine Zusatzpause von 10 Minuten täglich und das Recht der Lehrlinge die Jugendvertretung bei Auseinandersetzungen mit der Ausbildungsleitung hinzuzurufen.   

Im November des gleichen Jahres stehen erneut Umsetzungen und diesmal auch die Entlassung von drei Lehrlingen während der Probezeit an. Es wird auf einer Jugendversammlung beschlossen,  dass man sich jeden morgen zu Arbeitsbeginn zum Streik gegen Umsetzungen und Entlassungen versammelt. Die LAW wird in großen roten Lettern in Lehrlingsausbeutungswerkstatt umbenannt, Streikposten werden bestimmt, bei denen sich Lehrlinge abmelden müssen, die zur Berufsschule gehen wollen oder in die Außenbetriebe, um sich auf die praktische Prüfung vorzubereiten. Bei diesen Kontrollen kommt es zum Gerangel. Mehrere Meister stürzen hinzu und schreien „Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Polizei!“ Die Genötigten verbitten sich allerdings diese Einmischung. Streikinformationen werden in den Außenbetrieben verteilt. Dazu werden immer die Neuen mitgenommen. Überall Zustimmung! Manchmal wird das Verteilen vom Betriebsleiter verboten. Als dann stärkere Lehrlingstrupps losziehen, um die Flugblattverteilung zu erzwingen, stellt sich heraus, dass die Kollegen dort das schon selbst übernommen haben. Der Dienstherr, der Personaldezernent der Stadt, kündigt allen Lehrlingen in Briefen die Entlassung an. Die Briefe werden im Hof der LAW verbrannt. Das Personalamt der Stadt nimmt Verhandlungen auf, die sich hinziehen und zu nichts führen. Es versucht, Zeit zu gewinnen, in der es gleichzeitig heimlich die Eltern der Lehrlinge, die entlassen werden sollen, beackert, um sie ihrerseits zu einer freiwilligen Kündigung zu überreden, mit ersten Erfolgen. Dem Streik soll so der Boden entzogen werden. Das Personalamt fühlt sich daher stark und kündigt den aktivsten Streikführern Anzeigen wegen Nötigung und Sachbeschädigung an. Inzwischen ist der 3. Streiktag. Die Taktik der „freiwilligen Kündigungen“ wird bekannt. „Es entsteht Hochspannung in der LAW. Angst, Verzweiflung und Wut bilden ein hochexplosives Gemisch. Man merkt es einigen Lehrlingen an, welche Selbstbeherrschung es sie kostet, dem Obermagistratsrat Groh nicht wirklich die Prügel zu verabreichen, von denen er dauernd schwafelt.“ Es wird in die Streikforderungen aufgenommen, den Eltern, die bereits freiwillig gekündigt haben, anzubieten, das Ausbildungsverhältnis fortzusetzen. Zu diesen Eltern werden Delegationen entsandt, und siehe da, sie haben gar nicht das Gefühl, freiwillig gekündigt zu haben, auch sie wollen die Fortsetzung des Ausbildungsverhältnisses. Das Personalamt nimmt verabredete Verhandlungstermine in der weiterhin LAW nicht wahr. Es treffen immer mehr Solidaritätsadressen ein, darunter eine aus einem städtischen Außenbetrieb: 60% der Beschäftigten haben sich auf einer verdeckt umlaufenden Unterschriftenliste solidarisiert! Es fehlen allerdings Solidaritätsadressen offizieller Gewerkschaftsgremien! Im Gegenteil: der Vorsitzende des Kreisjugendausschusses liegt ganz auf der Linie des Personalamtes, Entlassungen und Umsetzungen seien legal, die Gewerkschaft könne später über Reformen verhandeln. Vor diesem Hintergrund wird eine Demonstration zum SPD-Oberbürgermeister Möller beschlossen. Presse, Rundfunk und Fernsehen sind schon da. Im Rathaus werden die Internationale und das inzwischen auf 5 Strophen angewachsene LAW-Lied gesungen. Möller kennt mittlerweile die Lage: die freiwilligen Kündigungen sind gescheitert, die Solidarität in den Betrieben wächst. Er erscheint schließlich, „ganz leutseliges Stadtväterchen: ‚ich kenne eure Forderungen.’ Wir fragen nach, es stellt sich heraus, er kennt sie nicht, und wir belehren ihn.“ Möller sichert schließlich zu, einen Magistratsbeschluss über die Forderungen der LAW’ler herbeizuführen und am Freitag in der LAW zu präsentieren. Bis dahin wird der Streik fortgesetzt. Es werden noch vier Forderungen verabschiedet: Verhandlungen über ein Einspruchsrecht der LAW’ler in Ausbildungs- und Personalfragen, keine Repressalien, kein Schadensersatz wegen der Bemalung der LAW und eines geknackten Cola-Automaten, Bezahlung der Streiktage. Als Möller am Freitag erscheint werden zunächst alle Solidaritätsadressen verlesen und er akzeptiert alle Forderungen bedingungslos. „Die LAW’ler tanzen auf den Tischen vor Freude und Erleichterung. Einige werden auf den Schultern durch die LAW getragen. Die Jugendvertretung hat am 1. September für jedes neu geworbene ÖTV-Mitglied unter den Lehrlingen des 1. Lehrjahres 3 Mark bekommen. Diese Kopfprämie wird jetzt in Bier angelegt. Alle Sprechchöre, die in der letzten Woche entstanden sind, werden noch einmal geprobt. Die Internationale erklingt, und das LAW-Lied erhält seine 6., vorläufig letzte Strophe.“ 

Derweil steht die Politik noch immer unter dem Druck der Lehrlingsbewegung. Die Volljährigkeit mit dem 18. Lebensjahr wird Gesetz. Die SPD verlangt ein Aktionsprogramm der Bundesregierung zur beruflichen Bildung: neue Berufsbilder sollen geschaffen werden, überbetriebliche Lehrwerkstätten sollen den Mangel an Ausbildungsplätzen bzw. an guten Ausbildungsplätzen ausgleichen, eine Ausbildung in Stufen soll eingeführt werden, ohne dass die Ausbildung gegen den Willen der Lehrlinge auf die unteren Stufen beschränkt werden kann. Die Kontrolle der Berufsausbildung soll von Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft auf den Staat übergehen. Die Finanzierung der Berufs-ausbildung soll durch eine von allen Betrieben zu erhebende Umlage erfolgen. Dies sind die Elemente, aus denen später die Markierungspunkte zur Reform der Berufsausbildung hervorgehen sollten. Übrig geblieben ist davon lediglich die Stufenausbildung mit dem Recht der Betriebe, die Ausbildung auf die unteren Stufen zu beschränken. 

Der DGB erklärt das Jahr 1971 zum „Jahr des jungen Arbeitnehmers“, und der Landesbezirk Nordmark des DGB stellt die finanzielle Unterstützung der LZ ein. 

Im Februar 1971 veranstaltet der Jour Fix Frankfurt einen Lehrlingskongress. Es werden nach dem Delegiertenprinzip lediglich Vertreter der vom DGB kontrollierten Zentren zugelassen. Dennoch steht auch dieser Kongress unter gewerkschaftskritischen Vorzeichen. Aber die Kritik an der bremsenden Rolle der Gewerkschaftsführung bleibt ohne praktische Folgen. Auch sonst gehen von diesem Kongress keine Impulse aus. Das Kräftemessen endet unentschieden. 

Eine weitere Konferenz der Lehrlingszentren im April 1972 führt zu einem anderen Ergebnis, nämlich dazu, dass die Lehrlingsbewegung endgültig an die kurze Leine des DGB genommen wird.  

„Im Mittelpunkt der  Konferenz standen Fragen der ‚Strategie’. Es fällt auf, dass kein Versuch unternommen wurde, die besondere Lage der Jugendlichen zu analysieren, um diese Lage der Jugend, die überhaupt erst zur Bildung der LZ geführt hat, zur Grundlage für eine Strategie zu machen. Das Problem der richtigen Strategie wurde so behandelt, als können man entscheiden, ob man mit Löffel oder Gabel essen soll, bevor man weiß, ob Suppe oder Fisch auf den Tisch kommt. In dem vom Kollegen Todtenberg, dem stellvertretenden Leiter der Abteilung Jugend des DGB vorgelegten Diskussionspapier und in den Diskussionen der Konferenz wurde der Begriff Strategie allein auf das Verhältnis der LZ zu den Gewerkschaften bezogen. Nach Ansicht insbesondere der anwesenden hauptamtlichen Gewerkschaftsjugendfunktionäre bestand der Fehler der LZ darin, dass sie übersehen haben, dass die Probleme der Jugendlichen nicht grundsätzlich von denen der älteren Kollegen verschieden sind und infolgedessen  nur von der Arbeiterklasse insgesamt gelöst werden können. Daraus wurde abgeleitet, dass die LZ mit ihren jugendspezifischen Zielen unvermeidlich scheitern mussten und dass sie mit ihrer Politik die Spaltung der Arbeiterklasse förderten. Das Heilmittel soll  nun darin bestehen, dass die Einheit der Arbeiterklasse wiederhergestellt wird, indem die Jugendlichen ihre Aktivitäten in die Bahn der Gewerkschaften und ihrer Organe lenken.

Außer der abstrakten Parole von der Einheit der Arbeiterklasse ist an dieser Darstellung alles falsch. Zu Recht wurde von der Opposition auf der Konferenz darauf hingewiesen, dass die wenigen Lehrlingszentren viel mehr für die Lehrlingsbewegung erreicht haben, als die vielen Tausend Jugendvertretungen und die KJAs und OJAs. Außerdem haben nirgendwo die Aktivitäten von LZ oder Betriebsgruppen, die die Misere in der Berufsausbildung zum Gegenstand hatten, zur Spaltung der Arbeiterklasse geführt. ... Wenn schließlich als Heilmittel gegen die ‚Krise’ der LZ die ausschließliche Arbeit in den gewerkschaftlichen Organen propagiert wird, dann wird völlig vergessen, dass die LZ gegründet wurden, weil diese ‚Strategie’ schon früher nichts eingebracht hat, außer papierenen Resolutionen. Wenn die LZ erfolgreich waren, dann nur weil sie stattdessen die Arbeiterjugend für deren eigene Probleme mobilisiert haben – fast immer gegen den Widerstand der Gewerkschaftsbürokratie und häufig gegen den Widerstand der Betriebsratsfürsten.“52) 

Weniger verdächtige Zeugen als die Zeitschrift KLASSENKAMPF, die Gewerkschaftstheoretiker Reinhard Crusius  und Manfred Wilke, fassen den Konflikt zwischen Gewerkschaftsführung und Lehrlingsbewegung und die Ursachen für das Ende der Lehrlingsbewegung folgendermaßen zusammen:  

„Die Lehrlingsbewegung verursachte Unruhe in den Gewerkschaften, die sich in Konflikten und Querelen ausdrückte: zwischen Funktionären untereinander, wie auch zwischen Lehrlingszentren und Betriebsräten. Und da die Betriebsräte sich bei den Funktionären über die ‚Grünschnäbel’ beschwerten, wurde schließlich vom Gewerkschaftsapparat mit der organisatorischen Austrocknung der Lehrlingszentren geantwortet. Vor lauter Konflikten mit und in den Gewerkschaften kamen die Lehrlingszentren zu keiner positiven Arbeit mehr.

Festzuhalten bleibt: Zwischen der Alternative, die Bewegung zu fördern und in und durch die Gewerkschaftsjugend weiterzuentwickeln, um überhaupt ein gewerkschaftspolitisch kurzfristig mobilisierbares Potential für die anstehende Auseinandersetzung um die Reform der Berufsausbildung und für die Gewerkschaftspolitik im weitesten Sinne (langfristig) zu haben, und der anderen Möglichkeit, diese Bewegung abzuwürgen, um den Gleichlauf der Verwaltung wieder zu sichern, entschied sich der Gewerkschaftsapparat für den zweiten Weg.

Die Lösung war jedoch geschickter als in früheren Zeiten: Jugendfunktionäre, die von sich überzeugt waren, den ‚richtigen Marxismus’ studiert zu haben, fingen die Bewegung auf, indem sie ihr – durchaus verbalradikal – ein ‚richtiges Bewußtsein’ anschulen wollten, abgeleitet aus den Theorien über den ‚Staatsmonopolistischen Kapitalismus’. Aus diesem Theorieverständnis, mit dem man für die gewerkschaftsinterne Diskussion hantierte, erklärte sich auch, dass diese Jugendfunktionäre gewerkschaftliche Jugendarbeit nur noch auf Großbetriebe konzentrieren wollten, also 70 bis 80 Prozent der Lehrlinge gewerkschaftspolitisch einfach abschrieben. Mit der Scheinalternative: Lehrlingszentren oder Betriebsarbeit ließ man ab 1971 der Lehrlingsbewegung aktive Sterbehilfe angedeihen, ohne allerdings eine vergleichbare Betriebsarbeit der Gewerkschaften zu organisieren.

Schließlich hat es auch zu keiner Zeit eine aktive Koordinierungsarbeit der Gewerkschaftsverwaltungen für die Lehrlingszentren gegeben, im Gegenteil: Mühsame Eigenversuche der Lehrlinge dazu wurden abgewürgt ... und durch zentrale Schulungskurse in der DGB-Bundesschule Oberursel ‚ersetzt’. Dieselben Jugendfunktionäre warfen dann den Lehrlingszentren ‚Handwerkelei’ und ‚fehlendes Durchstehvermögen’ vor.“53) 

Zu den Argumenten gegen die LZ in der innergewerkschaftlichen Diskussion gehört, dass man sich in den LZ nur schwer gegen eine Politisierung „von außen“ – gemeint ist: von außerhalb der SPD -  und den Einfluss radikaler Gruppen schützen könne. Aber es geht um mehr. Es gibt DGB-Jugendfunktionäre, die LZ für eine Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Jugendarbeit unter Kontrolle des DGB nutzen wollen. Diese Gewerkschaftsjugendarbeit ist mindestens formal unabhängig von den Einzelgewerkschaften und ihren lokalen Gliederungen. Es gibt andererseits die Vertreter der Einzelgewerkschaften, die die Gewerkschaftsjugendpolitik in der Verantwortung der Einzelgewerkschaften und der Ortsverwaltungen sehen wollen, also den konservativsten Organen unterstellen wollen: es fehle dem DGB am betrieblichen Bezug, das sei „Initiativen“ abträglich.54) Eingeleitet wird dieser Vorstoß von der IG-Chemie, die im Bundesjugendausschuss für ausschließliche betriebliche Jugendarbeit plädiert.   

Noch ist die Stimmung so, dass auch diesem Bestreben ein radikales Mäntelchen umgehängt werden muss. Die Parole von der Einheit der Arbeiterklasse erhält eine neue Qualität. Ein von Teamern des DGB-Niedersachsen im Sommer 1971 veröffentliche Leitlinie, das sogenannte Niedersachsenpapier, argumentiert, der Klassenkampf finde in den Betrieben statt. Infolgedessen hätten sich die Jugendlichen im Betrieb gewerkschaftlich zu organisieren, um eine geschlossene Front im Klassenkampf zu bilden. Bliebe die Jugendarbeit beim DGB, so führe dies zum Rückfall in das Freizeitgedöns der Vergangenheit. Je reaktionärer die Praxis, desto klassenkämpferischer die Parolen! 

Bleibt nachzutragen, dass die linken, aus der APO stammenden studentischen Kader, die von der Gewerkschaftsführung für die Schulung der Gewerkschaftsjugend angeworben wurden, nach dem Ende der Lehrlingsbewegung hinausgesäubert werden, sofern sie tatsächlich weiterhin an der Maxime der Einheit der Arbeiterklasse im Kampf festhielten und sich nicht den Zielen der Gewerkschaftsführung anpassten. 

Ein Beispiel sind die Kollegen Bergmann und Heine aus Niedersachsen, die Verfasser des Niedersachsenpapiers. Sie werden zunächst vom DGB als Landesjugendbildungssekretär bzw. als Jugendbildungsreferent beschäftigt. Im April 1973 werden sie entlassen, weil sie Auffassungen vertreten, die denen des KBW nahe stehen. Der DBG Niedersachsen wies alle Einzelgewerkschaften an, dafür zu sorgen, dass die Entlassenen sich nicht in gewerkschaftlichen Veranstaltungen verteidigen können.55) 

Noch im gleichen Jahr schloss sich der DGB den Extremistenbeschlüssen an, wie sie schon vorher von der IG Druck und Papier, der IG Metall und der IG Textil und Bekleidung gefasst worden waren. Eine Säuberungswelle setzte ein, die in den folgenden Jahren auch alle erfasste, die beeinflusst von den Septemberstreiks oder der Lehrlingsbewegung in den Gewerkschaften für Basisdemokratie und Klassenkampf eintraten. 

1972 wird Willy Brandt mit 46% SPD-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 90% zum Bundeskanzler gewählt. 1973 nimmt die Regierung Brandt die Markierungspunkte zurück. Die SPD hatte die Bataillone bereits entwaffnet und aufgelöst, mit denen die Markierungspunkte hätten erkämpft werden können. Und es beginnt die Umschreibung der Geschichte, wonach die Reformwut der Arbeiterjugend die CDU und die Kapitalisten verprellt habe und so am Scheitern der Reform schuld sei. 

Die Lehrlingsbewegung war von Anfang an nicht allein eine Bewegung von Arbeitern, sondern auch eine Jugendbewegung. Im Widerstand gegen den autoritär veranstalteten Disziplinierungsprozess in der Berufsausbildung drückt sich ein Wunsch nach Selbstbestimmung aus, der über den Betrieb hinaus geht. So ist es nicht verwunderlich, dass neben der Lehrlingsbewegung und mit ihr verschränkt eine Jugendbewegung entsteht, die um sexuelle Selbstbestimmung, Befreiung von der Bevormundung des Elternhauses und kulturelle Autonomie kämpft. Mit dem Niedergang der Lehrlingsbewegung treten diese Elemente in den Vordergrund. Sie finden ihren Ausdruck in Hausbesetzungen, im Kampf um unabhängige Jugendzentren, im Kampf gegen die Repression in Heimen. Aber das ist ein anderer Kriegsschauplatz. 

Was bleibt?  

Zunächst Bewunderung. Die Lehrlingsbewegung hat spontan mit den überbetrieblichen Aktionszentren die geeignete Organisationsform für ihren Kampf gegen die von Kleinbetrieben dominierte kapitalistische Berufsausbildung gefunden, ohne dass sie auf Beispiele aus der Geschichte Arbeiterbewegung hätte zurückgreifen können. 

Bewundernswert auch, wie die Lehrlingsbewegung das Instrument der Umfragen in den eigenen Reihen anwandte: sowohl zur Datensammlung als auch als Hebel zur Selbstaufklärung und Selbstmobilisierung der Befragten. Ganz in diesem Sinne hatte auch schon Marx Arbeiterbefragungen vorgeschlagen. 

Ebenso spontan – weil ihre Protagonisten davon zumeist nichts wussten – hat sie ein altes Prinzip des Klassenkampfes wiederentdeckt und angewandt: die Aktionseinheit oder Einheitsfront im Kampf, unabhängig von den politischen Auffassungen, die jenseits der unmittelbaren Kampfziele liegen. So wird einerseits die Kampfkraft gestärkt. Andererseits treten in der Aktionseinheit die politischen Strömungen und Organisationen miteinander in Konkurrenz um die besten Vorschläge und haben so die Möglichkeit ihren Einfluss und ihre Organisationen zu stärken. So entwickelt sich Klassenbewusstsein. In der Aktionseinheit wird der Widerspruch zwischen der politischen Fraktionierung in der Arbeiterbewegung und der Notwendigkeit der Einheit im Kampf produktiv aufgehoben.  

Das haben alle jene aus der Studentenbewegung hervorgegangenen politischen Organisationen, insbesondere die maoistischen, nicht verstanden, die den Aufbau ihrer Organisationen neben den LZ und nicht durch die Aktionszentren der Lehrlingsbewegung hindurch betreiben wollten. 

Ebbt allerdings der Kampf ab oder kommt er gänzlich zum Erliegen, dann treten politische Fraktionskämpfe, Intrigen, persönliche Eitelkeiten und bürokratische Manöver in den Vordergrund. Die Aktionseinheit zerfällt. So erging es auch den Lehrlingszentren. 

Die Gewerkschaften sind eine ursprüngliche Form der Aktionseinheit. Insofern scheint es auf den ersten Blick nicht falsch, im Namen der Einheit der Arbeiterklasse die Integration der Lehrlingsbewegung in die Gewerkschaften zu betreiben. Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die Gewerkschaftsführung den Kampf der Arbeiterjugend zu keiner Zeit führen wollte, von Anfang an vielmehr nur an seiner Sabotage arbeitete, dann erkennt man, dass diese Perspektive im besten Fall naiv, illusionär und politisch falsch, im schlimmeren Fall reaktionär war, wo sie den Zweck verfolgte, der Lehrlingsbewegung das Rückgrat zu brechen. 

Es muss festgehalten werden, dass die Behauptung der Gewerkschaftsführung, die Lehrlingsbewegung habe zu einer Spaltung zwischen älteren und jüngeren Kollegen geführt, ganz und gar unwahr ist. So, wie in der LAW war es überall: je entschlossener der Kampf der Arbeiterjugend, desto größer die Solidarität der älteren Kollegen.  

Die Aktivisten der Lehrlingsbewegung waren immer Gewerkschaftsmitglieder, und sie haben den Eintritt in die Gewerkschaften propagiert. Und tatsächlich: nachdem die Mitgliederzahlen der Gewerkschaftsjugend jahrelang rückläufig waren, stiegen sie in den Jahren der Lehrlingsbewegung wieder. Aber gleichzeitig hat die Lehrlingsbewegung immer um die Unabhängigkeit von einer die Klassenauseinandersetzung behindernden Gewerkschaftsführung kämpfen müssen. 

Es wäre Aufgabe der Gewerkschaften gewesen, die Lehrlingszentren zu ihren Kampforganen zu machen und die Basisdemokratie in diesen Zentren zu akzeptieren und zu fördern. Das wäre nur möglich gewesen, wenn es innerhalb der Gewerkschaften neben der SPD eine am Klassenkampf orientierte sozialistische Partei gegeben hätte. 

Diese fehlt noch immer. 

Wer in der Lehrlingsbewegung aktiv war, konnte noch etwas erfahren: wie die Arbeiterjugendlichen im Kampf persönlich und politisch reifen, ihr Selbstbewusstsein als Klasse entwickeln, oder – wie Marx sagt – von der Klasse an sich zur Klasse für sich werden. Nur so wird die Herrschaft der Bourgeoisie über die Köpfe gebrochen. Sozialismus entsteht entweder als Sozialismus im Kampf von unten oder gar nicht. Eine sozialistische Partei, die diese Erfahrung aufbewahrt und anwendet fehlt, noch immer. 

Anmerkungen

1) www.Berufswahlnavigator.de : Und wieder lügen die Experten; Marco Frank: Ausbildungsbilanz 2005, www.dgb-jugend.de ; DGB: Alle Jahre wieder: Streit um die Ausbildungsstatistik, DGB Presse- infodienst 07.10.2005, ID 09, www.dgb.de/presse/infodienst/iddb/
2) Martin Baethge: Das Berufliche Bildungswesen in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Cortina, Baumert u.a.: Das Bildungswesen in der BRD, Reinbek , 2003, S .543 ff.
3) ebd., S. 456
4) Michael Ehrke: Modularisierung contra Beruflichkeit, Oktober 2003, http://Michael Ehrke
Modularisierung, S. 9
5)  Aufstellung für 1990 nach: Martin Baethge u.a.: Berufsbildung im Umbruch, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2007, S. 29; für 2000 und 2004 nach: Konsortium Bildungsberichterstattung Hrsg: Bildung in Deutschland, Bielefeld 2006, Daten aus den nicht in Buchform veröffentlichten Web-Tabellen
6) auf diese Weise wurde wohl erstmals 1971 der Extraprofit der Berufsausbildung kalkuliert, in: Klassenkampf, Maizeitung der Sozialistischen Arbeitergruppen, Frankfurt am Main, April 1971. Damals  wurden bis zu 35.000 DM Extraprofite über die gesamte Lehrzeit errechnet.
7) Friedhelm Hengsbach: Bildungs- und Beschäftigungschancen in den Zeiten des
Neoliberalismus, in: Vorstand ver.di, Vorstand IGM: Bildung ist keine Ware, Januar 2006, S. 63
8) Bernhard Nagel, Roman Jaich: Umlagefonds als zentrale Finanzierungsinstrumente, in: ebd. S.72
9) Altmann, Kammerer: Wandel der Berufsstruktur, RKW Schriftenreihe Technischer Fortschritt                    
und struktureller Wandel, München 1974, S. 47
10)  Frauke Sanders: Qualifizierung bei Auto 5000, in SOFI, Auto 5000, Beiträge auf der
   Abschlusskonferenz 22.-23. Juni 2006, www.sofi-goettingen.de
11) Brunkhorst, Crusius u.a.: Ernstfall Lehre, Weinheim und Basel 1976; hier wird der berufliche   Sozialisationsprozess aus dem Blickwinkel der Lehrlinge anschaulich beschrieben. Man kann    auch schön den erzieherischen Wert von Schikanen erkennen.
12) Sanders, a.a.O.
13) Erwin Krause: Neustrukturierung der beruflichen Bildung, Arbeitsstelle für betriebliche Berufsausbildung  Berlin, Köln, Frankfurt 1969, S. 58
14) Otto Semmler: Bildungspolitik als gewerkschaftliche Aufgabe, in: Vorstand ver.di, Vorstand IGM,  a.a.O. S.95
15) Baethge a.a.O. 2003, S. 568 f.
16) Günter Kutscha: Pluralisierung der Berufsausbildung, Zwischenbericht Mai 1999, www.uni-due.de , S. 16
17) bmb+f: Förderkonzept überbetriebliche Berufsbildungsstätten, 7.5.2001, S. 10
18) Baethge a.a.O. 2003, S. 557
19) Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, Bielefeld, S. 81
20) Günter Kutscha: Berufsbildungssystem und Berufsbildungspolitik in der Bundesrepublik
  Deutschland, Vorlesungs- und Seminarskript, 2006, www.uni-due.de S. 110
21) ebd. S. 103
22) zitiert nach: Otto Semmler a.a.O. S. 91
23) Ingrid Drexel: www.igmetall-wap.de/publicdownload/Gutachten_Drexel  S. 80
24) ebd. S.113
25) ebd. S. 96
26) ebd. S. 98
27) Ingrid Drexel: Europa als einheitlicher Bildungsraum, in: Vorstand ver.di, Vorstand IGM, a.a.O.
S. 39
28) Kutscha: Berufsbildungssystem a.a.O. S. 104 f.
29) Karl Marx: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats, in: Marx Engels Werke, Bd. 16, Berlin 1973, S. 194 f.
30) Bundsinstitut für berufliche Bildung: Abschlussbericht zum Forschungsprojekt 1.1.006, Erwerb und Verwertung beruflicher Qualifikationen – BBIB/IAB Erhebung 1998/99 S. 5, www2.bibb.de  /
31) Zahlen nach Felix Rauner: Kosten, Nutzen und Qualität der beruflichen Ausbildung, ITB Forschungsbericht 23/2007, Universität Bremen, S. 6
32) Baethge u.a., 2007, S. 25
33) George Ware, 1952, zitiert nach W. Dietrich Winterhager: Lehrlinge – die vergessene Majorität,  Weinheim 1972, S. 12
34) Martin Baethge: Lehrstellenboykott? Einige Bemerkungen zur politischen Ökonomie der gegenwärtigen Berufsbildungspolitik, in: Reinhard Crusius, Wolfgang Lempert, Manfred Wilke, Hrsg.: Berufsbildung – Reform in der Sackgasse, Reinbek 1974
35) Martin Baethge: Bildungsreform und gesellschaftliche Arbeitsplatzstruktur, in: Crusius, Lempert, Wilke,. Hrsg. (1974) S. 140
36) Baethge u.a., 2007, S. 81
37) ebd.
38) W. Dietrich Winterhager: Lehrlinge – die vergessene Majorität, Weinheim 1972, S. 42
39) ebd. S. 44
40) Martin Baethge: Ausbildung und Herrschaft, Frankfurt am Main 1970, S. 18. Baethge bezieht sich hier positiv auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims Wissenssoziologie, von der Th. W. Adorno sagt, dass „mit dem Gestus der harmlosen Skepsis“ ... „alles in Frage stellt und nichts angreift.“ Prismen – Kulturkritik und Gesellschaft, München 1963, S. 27
41) Samuel Mühlemann, Jürg Schweri, Stefan C. Wolter: Warum Betriebe keine Lehrlinge ausbilden – und was man dagegen tun könnte, in: Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik, 9/2004, S. 45
42) Felix Rauner, Kosten, Nutzen .., a.a.o. S. 16 f.
43) ebd. S. 8
44) Felix Rauner: Duale Berufsausbildung in der Wissensgesellschaft – eine Standortbestimmung, Reihe Jugend und Arbeit, Bertelsmannstiftung 2007, S. 16
45) Felix Rauner: Kosten, Nutzen .., a.a.O. S. 8
46) ebd. S. 13
47) zitiert nach: Haug/Maessen: Was wollen die Lehrlinge, Frankfurt am Main 1972, S. 9
48) die Darstellung der Ereignisse folgt weitgehend der Monatszeitschrift „KLASSENKAMPF - Zeitung der Sozialistischen Arbeitergruppen“ Frankfurt am Main, bzw. deren Flugblätter und Aufrufen. Eine  Zusammenhängende Geschichte der Lehrlingsbewegung liegt bis heute nicht vor. Einen guten Überblick Bietet der Artikel von Vadim Riga: ... ich will nicht werden was mein Alter ist, in der onlinezeitung
www.trend.infopartisan.net 10/07. Lesenswert sind auch die Aufsätze von Manfred Crusius und Reinhard Wilke, die das Hamburger Lehrlingszentrum von innen kennen, z.B. Lehrlingszentren – Berichte aus der  Praxis, Gewerkschaftliche Monatshefte, 11/71 S. 661, wo sie detailliert über die Politik von SDAJ und maoistischen Organisationen berichten.
49) Haug/Maessen, a.a.O. S. 161
50) zu SALZ und LAK ausführlich: Riga, a.a.O. S. 15 ff
51) Die Darstellung folgt dem Pamphlet „Rotes Berichtsheft – Streikinformationen der Aktionsgruppe LAW, Frankfurt am Main 1970
52) KLASSENKAMPF - Zeitung der Sozialistischen Arbeitergruppen, Nr. 11/12, Mai-Juni 1972, S. 7
53) Crusius/Wilke: von der Lehrlingsbewegung zur Jugendarbeitslosigkeit, in: Gudrun Küsel (Hrsg): APO und Gewerkschaften, Berlin 1978, S. 89 f
54) Dieter Greese: Die gewerkschaftlichen Lehrlingszentren, in: Gewerkschaftliche Monatshefte,  11/71, S. 665
55) KLASSENKAMPF Nr. 25/26 Juli-August 1973, S. 7

Editorische Anmerkungen

Den Aufsatz erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.