Marxistische Lehrbriefe
Das Problem der Freiheit in marxistischer Sicht Teil 1
04/07

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Warum spielen in den großen Auseinandersetzungen unserer Zeit gerade solche Begriffe wie Freiheit, Wahrheit, Demokratie, Menschlichkeit eine so große Rolle? Weil sie gut klingen. Weil sie in uns positive Gefühle auslösen. Wer möchte nicht für die Freiheit, für die Wahrheit, für die Menschlichkeit eintreten?

Doch diese Begriffe klingen nicht nur gut, sie sind zugleich sehr allgemein und unklar. Jeder kann sich unter ihnen vorstellen, was er möchte. Aber das besagt nicht, daß auch der andere, der diese Begriffe gebraucht, sie im gleichen Sinne versteht. Weiterhin sind diese Begriffe vieldeutig, weil sie im politischen Bereich, aber auch für das gesamte gesellschaftliche Leben verwandt werden. Doch in jedem dieser Bereiche bedeuten sie etwas anderes. Durch bewußtes oder unbewußtes Vermengen dieser verschiedenen Bedeutungen kann heillose Konfusion entstehen.

Diese Begriffe sind also zugleich gutklingend und sinnverwirrend, begeisternd lind vage, besonders gut für demagogische Manöver geeignet.

Wie stellt das Besitzbürgertum heute das Freiheitsproblem?

1. Die Philosophen

Noch vor wenigen Jahrzehnten äußerten sich bürgerliche Philosophen sehr offen und selbstentlarvend über Freiheit. So schrieb z.B. Friedrich Nietzsche (ein Philosoph der großbürgerlichen Herren- und Räubermoral) in seinem "Willen zur Macht": "Freiheit bedeutet.daß die männlichen, die kriegs- und siegesfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andere Instinkte, zum Beispiel über die des Glücks. Der freigewordene Mensch, um wieviel mehr der freigewordene Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von denen Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger ..." (Aus dem Aphorismus "Mein Begriff von Freiheit").

Bei der heutigen Lage in der Welt hat die bürgerliche Philosophie solche offen antihumane Position zugunsten schwammig-unklarer aufgegeben. Selbst ein ehrlich sich um die Zukunft sorgender Karl Jaspers schrieb: "Anfang und Ende der Freiheitserhellung bleibt aber, daß Freiheit nicht erkannt, auf keine Weise objektiv gedacht werden kann. Ich bin ihrer für mich gewiß, nicht im Denken, sondern im Existieren..." (Philosophie, Bd. II, S. 185). , Also: Freiheit ist Streben nach dem Tod, nach dem Nichts

2. Die politische Propagandphrase

Neben dieser philosophischen gibt es die vulgäre Ebene der Behandlung des Freiheitsproblems in den Massenmedien, die für die massenhafte geistige Auseinandersetzung bedeutsamer ist. Da ist Freiheit eben das Freisein von Zwang, besteht sie darin, alles werden, allse sagen, lesen und hören, überallhin verreisen, über die Regierung, Gott und die Welt schimpfen, kurzum: alles mögliche tun und lassen zu können.

Der russische Dichter Dostojewski hat diese vulgäre Freiheitsauffassung zu einem erheblichen Teil durch folgendes Argument entkräftet: "Was ist Liberte? Freiheit - welche Freiheit? ; Die gleiche Freiheit für alle, das zu tun, was ihnen beliebt , im Rahmen des Gesetzes. Wann kann man alles, was einem beliebt, tun? Wenn man eine Million besitzt. Gibt die Freiheit jedem eine Million? Nein! Was ist ein Mensch ohne eine Million? Ein Mensch ohne eine Million ist nicht einer, der alles, was ihm beliebt tut, sondern einer, mit dem alle alles Beliebige tun."

Diese Freiheitsauffassung hat also ökonomische Voraussetzungen, das Vorhandensein von Vermögen, was allerdings verschwiegen wird. Die politischen Freiheiten werden von ihrer ökonomsichen Grundlage abgelöst. Es kommt so heraus, als erschöpfe sich Freiheit in Meinungs- und Pressefreiheit. Dabei wird aber selbst diese einengende Problemstellung verfälscht, wenn sich mancher mit der bloß verfassungsmäßigen Proklamierung solcher Rechte zufrieden gibt, deren Außerkraftsetzung durch solche meinungsbildenden Monopole wie Springer und Bertelsmann nicht beachtet. Oder das Problem wird dahingehend verkürzt, Freiheit erschöpfe sicn in der Möglichkeit, einmal alle vier Jahre zwischen verschiedenen Parteien grunsdätzlich gleicher Politik wählen zu können. In den USA etwa zwischen "Demokraten" und "Republikanern", bei uns zwischen CDU und SPD. Hier wird also das Gesamtproblem Freiheit verfälscht, eingeengt, begrenzt und sein wirkliches Verständnis unmöglich gemacht. Diese Mißachtung des konkret-gesellschaftlichen Inhalts des Freiheitsproblems ist die Grundlage des gedankenlosen Geredes von der unterschiedslosen Freiheit für alle, von der westlichen Freiheit, der freien Welt usw.

Der Freiheitsbegriff der rechtsozialdemokratischen Ideologen
löst, wie alle übrigen bürgerlichen Freiheitsauffassungen, Freiheit von den konkreten gesellschfatlichen Bedingungen ab, von den verschiedenen Klassen und K lassen kräften, von der ökonomischen Struktur, von den Möglichkeiten der Verwirklichung der Freiheit sowohl im Sinne der Entfaltung der Fähigkeiten und Talente der Persönlichkeit des Arbeiters, wie auch im Sinne der politischen Freiheiten in der kapitalistischen Gesellschaft. Das ist also eine sehr abstrakte und insofern täuschende, illusionäre Vorstellung. Die rechten Sozialdemokraten teilen mit den bürgerlichen Liberalen die Beschränkung des Freiheitsproblems auf die im wesentlichen politischen Freiheiten einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie.

Diese Freiheiten sind tatsächlich hoch wichtig. Und dennoch stellen sie nur die erste, untere Stufe im Kampf um Freiheit für die werktätigen Massen dar. Der Weg zur Erkämpf ung größerer Freiheit innerhalb des Kapitalismus und gar die wirkliche Befreiung der Volksmassen von solchen grundlegenden Unfreiheiten wie Ausbeutung, Krieg, Unterdrückung wird in den heutigen sozialdemokratischen Freiheitsauffassungen jedoch nicht behandelt. Im "Godesberger Programm" der SPD finden wir das Wort "Freiheit", "freiheitlich" mehr als drei Dutzend Mal. Aber kein Wort ist zu lesen über Freiheit von Krieg, von Notstandsgesetzen, von kapitalistischer Ausbeutung. Fehlen sie, weil das Programm "Freiheit" einen "unteilbaren Grundwert" nennt?

Grundwerte sollte man doch sorgfältig definieren. Wie also bestimmen die rechtssozialdemokratischen Autoren 'Freiheit'?

Freiheit sei eine "autonome Idee", schreibt Walter Theimer ("Der Marxismus, Lehre und Wirkung, Kritik", München 1957, S. 96).

Ähnlich äußerten sich Dahrendorf (damals noch Sozialdemokrat) und Eichler. Auf dem Stuttgarter SPD-Parteitag (1958) nannte Heinrich Deist die Freiheit einen "absoluten Wert", eine "unabdingbare Voraussetzung aller Menschenwürde". (Parteitagsprotokoll, S. 185). Das hört sich zwar gut an, stellt aber keine inhaltliche Aussage dar. Die finden wir dann bei dem Sozialdemokraten Peter: Er sagt, Freiheit sei etwas, das nur begrenzt ist "durch die Freiheit des anderen" ("Freiheit in der Wirtschaft", Köln 1953, S. 129). Lohmar bezeichnete Freiheit als etwas, das auf dem Ausgleich, der Balance unter den verschiedenen, sie tragenden Gruppen" beruht. ("Gewerkschaftliche Monatshefte", Heft 11/2956, S. 646).

Wie solcher Ausgleich möglich sein soll zwischen der Klasse, die den gesellschaftlichen Reichtum und alle Machtmittel der Nation besitzt, die die Arbeiter aussperrten, massenweise entlassen kann einerseits und den abhängigen, ausgebeuteten Arbeitermassen andererseits, mit dieser Frage beschäftigte sich Lohmar nicht.

3. Die bürgerlich-individualistische Freiheitsauffassung

Sowohl in den philosophischen als auch in den vulgären bürgerlichen und sozialdemokratischen Freiheitsauffassungen wird die Freiheit also immer wieder als etwas bezeichnet, das nur durch die Freiheit des anderen begrenzt ist. Darauf hat schon der junge Marx (z.B. in seiner Arbeit "Zur Judenfrage", Werke, Bd. l, S. 364) geantwortet: Dann wäre also der Mitmensch die Grenze, die Negation meiner Freiheit. Das heißt, daß ich ohne Mitmenschen freier wäre. Also wäre der freieste Mensch Robinson auf seiner Insel. Das ist nicht nur eine falsche, es ist eine zutiefst antihumane Auffassung.

Es ist aber eine Grunderkenntnis des Marxismus, daß der Mensch erst in der Gemeinschaft mit anderen Menschen die Bedingungen seines Lebens gestaltet, essen, wohnen, sich kleiden kann, die Mittel besitzt, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden:

"... erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich", schrieben Marx und Engels in der "Deutschen Ideologie" (Werke, Bd. III, S. 74). Nicht einmal denken und sprechen könnte der Mensch ohne die Gemeinschaft mit anderen Menschen.

In unserer hochentwickelt arbeitsteiligen Gesellschaft ist jede Freiheit des Einzelnen nur durch die vielfältig verknüpfte Arbeit anderer möglich. Der Individualismus ist, verfolgt rj3n ihn bis in seine letzten Konsequenzen, nur eine Phrase, die die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse und die konkrete Stellung des Individuums in der Gesellschaft verhüllt.

Was liegt, soziologisch gesehen, diesem Individualismus zugrunde? Und wozu dient er?

Einerseits drückt sich hierin die Stellung des bürgerlichen Eigentümers aus. Jeder andere Eigentümer ist sein Konkurrent, bedroht als solcher seine Existenzgrundlage, ist also der Feind. Die Nichteigentümer sind, als vom Besitzbürgertum ausgebeutete und unterdrückte Schichten, ebenfalls Feinde. So drückt sich im Individualismus, in seiner Grundansicht, wonach der Mitmensch die Grenze, die Aufhebung, die Negation, der Feind meiner Freiheit ist, der platte Egoismus des Kapitaleigentümers, die Wolfsmoral des Kapitalismus aus. Bestenfalls ist dieser Individualismus die Illusion bestimmter Intelligenzschichten, die durch ihre berufliche Stellung eine besondere starke Ausbildung ihrer Individualität erfahren und dazu neigen, ihre individuelle Arbeitsweise mit den Grundlagen des ganzen gesellschaftlichen Lebens und ihre eingebildete oder erträumte Stellung als "geistige Elite" mit ihrer wirklichen Rolle verwechseln. Objektiv wirken alle diese individualistischen Freiheitsauffassungen dahin, das kapitalistische System, die kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnis zu rechtfertigen und zu beschönigen.

Eine Wirkung dieses Individualismus ist auch die Flucht ins Private, aus der Verantwortung, was Wiederum bedeutet, die bestehende politische Macht des Großkapitals unangetastet zu lassen.

4. Die kapitalistische Grundlage dieses Freiheitsbegriffs

Es ist durchaus nicht falsch, wenn bürgerliche Theoretiker das Freiheitsproblem mit dem Besitz verbinden und sagen: "Ohne Eigentum keine Freiheit!". Nur sind diese Theoretiker nicht wirklich konsequent.

Marx und Engels wiesen schon im " Manifest der Kommunistischen Partei" (Teil II) darauf hin: Wenn es ohne Eigentum keine Freiheit gibt, dann ist im Kapitalismus das Volk, da es gerade vom Eigentum an dem entscheidenden Produktionsmitteln ausgeschlossen ist, unfrei. Die Folgerung lautet: da Freiheit tatsächlich an den Besitz, an die Verfügung über die entscheidenden Lebensquellen - das heißt über den Boden, die Fabriken, die Energiequellen, kurz, über die lebenswichtigen Produktionsmittel - gebunden ist, kann der Weg zur Freiheit des Volkes nur beschritten werden, wenn diese Produktionsmittel Volkseigentum sind.

Aber gerade diese Schlußfolgerung geht gegen die Grundinteressen der Kapitalistenklasse.

Um diese Folgerung zu vermeiden, sagen die propagandistischen Verteidiger des Kapitalismus: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel hat in den sozialistischen Ländern keineswegs zur Freiheit des Volkes geführt. Auch die rechtssozialdemokratischen Theoretiker sagen das, um so ihrem Verzicht auf den Sozialismus einen freiheitlichen Anstrich geben zu können.

Also: für den Kapitalismus soll gelten, was für den Sozialismus bestritten wird, daß Freiheit mit Eigentum zusammenhängt. In Wahrheit zeigt sich hier, daß alle Logik und Konsequenz beurlaubt werden, wenn Klassenpositionen auf dem Spiele stehen. Die genannte Position erweist sich eindeutig als Verteidigung des bestehenden, privaten, kapitalistischen Produktionsmitteleigentums und damit als eine Position zur Verteidigung der Grundlagen des Kapitalismus.

Aus all unseren Darlegungen folgt: Man sollte sich davor hüten, sich den Verstand durch Emotionen verdunkeln zu lassen, die durch das Spiel mit hehren Worten wie Freiheit, Menschlichkeit u sw. ausgelöst werden. Gerade hier ist es notwendig, besonders vorsichtig, kritisch zu sein und noch mehr, als bei anderen Begriffen, auf eine besonders sorgfältige Definition zu drängen, damit man erkennen kann, welche Ziele umrissen oder auch vernebelt werden sollen.

Die Präambel zur Charta der Vereinten Nationen

Wir, die Völker der Vereinten Nationen, entschlossen, Die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat, und

Den Glauben an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau und von" großen und kleinen Nationen erneut zu bekräftigen und

Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und Achtung der Verpflichtungen, die auf Verträgen oder anderen Quellen des Völkerrechtes beruhen, gewährleistet werden kann und

Sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern

und für diese Zwecke

Toleranz zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben und

Unsere Macht zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten und Durch die Annahme von Grundsätzen und die Schaffung entsprechender Methoden sicherzustellen, daß Waffengewalt nicht zur Anwendung komme, es sei denn im Interesse des Gemeinwohles, und

Internationale Organisationen heranzuziehen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern,

Haben beschlossen, unsere Anstrengungen zu vereinen, um diese Absichten zu erreichen.

Dementsprechend haben sich unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Francisco versammelten Vertreter, die ihre in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten vorgewiesen haben, auf die vorliegende Satzung der Vereinten Nationen geeinigt und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen Vereinte Nationen tragen soll.

[26. Juni 1945]

II. Was versteht der Marxismus unter Freiheit?

1. Freiheit ist ein historischer Begriff

Karl Marx und Friedrich Engels, die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, gaben Hegel in dem Sinne recht, daß Freiheit ein Problem der ganzen Menschheitsgeschichte ist. Freiheit ist nicht etwas Ewiges , Überzeitliches, sondern etwas, das sich geschichtlich entwickelt. Hegel drückte dies in seinem berühmten Wort aus: "Die Weltgeschichte ist derFortschritt im Bewußtsein der Freiheit." ("Philosophie der Geschichte", Reclam, Stuttgart, 1961, S. 61).

Allerdings unterscheidet der Marxismus sich darin von Hegel, daß für ihn sich diese Geschichte nicht vorrangig im Geiste, im Bewußtsein vollzieht, sondern wirkliche Eroberung immer größerer Freiheit durch den Menschen bedeutet.

„Die ersten sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst, aber jeder Fortschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit. An der Schwelle der Menschheitsgeschichte steht die Entdeckung der Verwandlung von mechanischer Bewegung in Wärme: die Erzeugung des Reibfeuers; am Abschluß der bisherigen Entwicklung steht die Entdeckung der Verwandlung von Wärme in mechanische Bewegung: der Dampfmaschine ... das Reibfeuer gab dem Menschen zum ersten Mal die Herrschaft über eine Naturkraft und trennte ihn damit endgültig von Tierreich ..." (Friedrich Engels, "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" = "Anti;Dühring", Berlin 1952, S. 139).

Wir können Freiheit also zunächst bestimmen als den Besitz an materiellen und geistigen Mitteln zur Einwirkung auf die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen unseres Lebens. Nur so können wir diese Bedingungen gemäß unseren Bedürfnissen verändern.

Aber diesen Besitz an materiellen und geistigen Mitteln schenkt den Menschen keine übernatürliche Kraft. Er ist uns nicht kraft einer Schöpfung in die Wiege gelegt, sondern wir müssen ihn uns durch unsere Arbeit, durch das ständige Ringen mit der Natur erst erwerben. Die Geschichte stellt die immer größere Erringung solcher materiellen und intellektuellen Mittel zur Meisterung unserer natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen dar.

2. Freiheit beruht auf Einsicht in die objektiven Gesetze

Wir stehen als Menschen, als Teil der Natur, der wir nicht entfliehen können, innerhalb des Zusammenhangs von Natur und Gesellschaft, von natürlichen und gesellschaftlichen Gesetzen. Dem entrinnen wir nicht, dem haben wir uns unterzuordnen. Heißt das, daß es keine Freiheit gäbe, weil alles gesetzmäßig bestimmt ist? Das wäre nur richtig, wenn Freiheit und Notwendigkeit einander widersprächen, eineinader ausschlössen.

Eine einfache Überlegung zeigt uns jedoch, daß Freiheit und Notwendigkeit, Freiheit und Gesetzmäßigkeit einander nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar bedingen: Jeder weiß, daß mit unberechenbaren Menschen schwer auszukommen ist. Im strengen Wortsinn unberechenbar, chaotisch reagierende Menschen sind idiotisch. Aber erst recht könnte man in einer unberechenbaren, regellos-chaotischen Welt, in einer Welt ohne Ordnung und Gesetze nicht leben. Hier wäre nichts zu erkennen, könnte man nichts planen, nichts verwirklichen. Warum können wir denn z.B. ein Haus bauen? Doch nur darum, weil wir uns auf die Allgemeingültigkeit des Gesetzes der Erdanziehung verlassen können. Kraft dieses Gesetzes verhalten sich die Steine und Baustoffe auf eine ganz bestimmte Weise, die wir voraussehen, in unsere Planung einbeziehen können. Ebenso können wir zum Beispiel nur darum Flugzeuge bauen, weil es Gesetze der Luftströmungen gibt und wir diese Gesetze kennen und folglich ausnutzen können.

So ist es auf allen Gebieten. Es ist ein wesentliches Merkmal der Freiheit, sich ein Ziel stellen und dafür eintreten zu können. Aber man kann sich solche Ziele nur dann richtig stellen und sie hinreichend richtig verwirklichen, wenn wir alle notwendigen Bedingungen, die in der Natur oder in der Gesellschaft damit zusammenhängen, ausreichend richtig erkannt haben und entsprechend handeln. "Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen" (wir können hinzufügen: und gesellschaftlichen Gesetzen) "liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmen Zwecken wirken zu Issen", schrieb Friedrich Engels. ("Anti;Dühring", S. 138).

3. Marxismus und Willensfreiheit

Nun wird eingewendet, wenn das so ist, wie steht es dann um unsere Willens- und Entscheidungsfreiheit? Viele verkürzen das Problem dar Freiheit allein auf diesen Akt der persönlichen Entscheidung.

Leugnet der Marxismus die Existenz dieses Problems? Bestreitet er etwa die Tatsache, daß der Mensch, vor verschiedene, sogar entgegengesetzte Möglichkeiten gestellt, sich entscheiden muß und es auch kann?

Friedrich Engels führte das Problem auf seinen wirklichen Kern zurück, indem er sagte: Freiheit des Willens, Entscheidungsfreiheit heißt "nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können." ("Anti-Dühring", S. 138)

Wie ist das zu verstehen? Solche Sachkenntnis ist doch nichts anderes als die Einsicht in die natürlichen oder gesellschaftlichen Bedingungen, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten einer Problemlage? Je größer hier meine Einsicht, meine Sachkenntnis ist, desto leichter fällt mir meine Entscheidung, aber desto richtiger ist sie auch. Engels sagt! Je freier also das Urteil eines Menschen hinsichtlich eines bestimmten Fragepunktes ist, desto gründlichere Erkenntnis der entsprechenden Gesetze und Bedingungen liegt dieser Entscheidung zu Grunde (ebenda, S. 138).

Schwierigkeiten, die hierbei auftreten, hängen in hohem Maße damit zusammen, daß unsere Kenntnisse relativ, unvollständig sind, sich stets weiterentwickeln. Daraus ergibt sich als Folge, daß — selbst bei sachkundig vorgenommener Entscheidung - immer auch das Moment der Ungewißheit enthalten ist. Dies ist ein reales, unabwendbares Problem. Dennoch hat Engels mit seinen Darlegungen im ganzen gesehen recht.

Freiheit und Notwendigkeit, Willensfreiheit und Notwendigkeit schließen also einander nicht aus, sondern gehören zusammen. Die erwähnte Begrenzung von Freiheit auf den reinen Akt der Willensentscheidung verdunkelt das Problem nur, denn für diese Willensentscheidung gibt es Motive, die man in die Beurteilung einbeziehen muß. Die Trennung der Willensentscheidung von ihren Motiven wäre genauso sinnslo wie die Trennung des Geburtsakts vom Zeugungsakt. Zu diesen Motiven gehört aber vor allem unsere Kenntnis der Problemlage. Auf Grund solcher Kenntnis fällen wir unsere Entscheidungen.

Freiheit, Willensentscheidung ist also von vornherein nur möglich, weil es Gesetze in Natur und Gesellschaft gibt und soweit der Mensch diese Gesetze erkennt und dementsprechend handeln kann. Freiheit ist dabei, wie schon angedeutet (11/1), keine ein für allemal konstante Größe, sondern sie entwickelt sich in dem Maße, wie wir diese Gesetze erkennen und ausnutzen können.

4. Die marxistische Freiheitsauffassung ist aktiv und materialistisch

Der Marxismus stimmt also Hegel zu, wenn er sagt, Freiheit sei "Einsicht in die Notwendigkeit". Aber die Einsicht in die objektiven Gesetze, die Erkenntnis, stellt nur eine, allerdings notwendige Bedingung der Freiheit dar.

Der Mensch muß, um leben zu können, arbeiten. In diesem unaufhörlichen Ringen um die Sicherung seines Lebens, um die Beherrschung der Naturkräfte, gewinnt er seine Kenntnisse. Zugleich erweitern sich damit die Möglichkeiten und Erfolge unserer Arbeit, unserer Praxis. Unsere "Einsicht" erlangt, infolge der ständigen weiteren Anhäufung von Wissen, in Gestalt der Wissenschaften, durch die unaufhörliche Verallgemeinerung und Vertiefung unserer Theorien immer größere Bedeutung. Die Wissenschaft wird gerade heute zu einer immer wichtigeren Produktivkraft.

Dennoch muß unser Wissen, letzten Endes immer wieder an der Praxis erprobt werden. Darum führt der Marxismus die Definition Hegels weiter: "Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur ..." (Engels, "Anti-Dühring", S. 138/39).

Die marxistische Auffassung von der Freiheit ist darum aktiv, nicht passiv beschaulich. In diesem Sinne schafft sich der Mensch seine Freiheit selbst, macht er sich im Lauf der Geschichte immer freier , schafft der Mensch sich selbst.

Aber er kann das nur auf der Grundlage bestimmter, vorgefundener materieller Bedingungen, in die er hineingeboren, hineingestellt ist. Welche Bedingungen sind das? Hier wären zu behandeln: Geografische (Lage m der Welt, Bodenschätze, Klima), ethnografisch-biologische (Rasse), demokratische (Bevölkerungsdichte, Bevölkerungsentwicklung) Faktoren sowie schließlich die materielle Produktion.

Ein Blick auf die Geschichte und Gegenwart zeigt folgendes: Es gab oder gibt feudal, kapitalistisch oder sozialistisch organisierte Staaten zu gleicher Zeit und zwar — das ist entscheidend — unabhängig von geographischen, ethnographisch-biologischen und demographischen Bedingungen oder Unterschieden. Daraus folgt, daß die materielle Produktion, die Art und Weise, wie diese sich entfaltet, im wesentlichen von den anderen materiellen Faktoren unabhängig ist. Daraus folgt weiter, daß die Wirkung der materiellen Produktionsweise für die Geschichte der Gesellschaft weit stärker als die Wirkung der anderen Faktoren, ja daß sie letztlich der entscheidende, gesellschaftlich bestimmende Faktor darstellen muß. Das ist bekanntlich der grundlegende Leitsatz der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels.

Für unsere Erörterung des Problems der Freiheit bedeutet das, daß wir vor allem die materiellen Bedingungen der Produktion ins Auge fassen müssen. Entscheidend für die menschliche Freiheit ist ganz offensichtlich der Stand, die Entwicklung ihrer materiellen Produktivkräfte. Letzten Endes hängt das Ausmaß und der Charakter unserer Freiheit von diesem Faktor ab. Die Freiheit reicht nie weiter, als unsere materiellen Produktivkräfte, als unsere Technik, unsere Naturwissenschaft es gestatten, die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen unseres Lebens zu beherrschen. Außerhalb dieses Besitzes an Produktivkräften, Technik, Kenntnissen können wir Hypothesen und Utopien bilden. Doch damit gewinnen wir kein Gran realer zusätzlicher Freiheit.

Hier geht es nicht darum, die große Bedeutung und Kraft gewisser Hypothesen und Utopien zu leugnen. Aber diese Kraft kommt ihnen nur dann zu, wenn solche Hypothesen und Utopien von Elementen der Wirklichkeit, von Entwicklungsgesetzen, von treibenden Kräften dieser Wirklichkeit ausgehend versuchen, den Weg in die Zukunft, zu größerer Freiheit vorzuzeichnen. Die alte Sehnsucht der Menschen, fliegen zu können, erfüllte sich erst, als wir die technischen und theoretischen Bedingungen des Fliegens erkannten und meistern lernten. Und ebenso ist der uralte Traum der Menschheit, in einer Welt, frei von Kriegen, Unterdrückung und Ausbeutung, leben zu können, erst realisierbar geworden, seitdem der Sozialismus die konkreten gesellschaftlichen Voraussetzungen hierzu schafft.

5. Freiheit hat in der Klassengesellschaft notwendig Klassencharakter

Spricht man Über greifbare, bestimmte, konkrete Freiheiten, so geht es immer um solche Probleme: Freiheit wovon? Freiheit wozu? Freiheit für wen?

Freiheit wovon ist eine wichtige Frage, z.B. die Freiheit von Krieg, von Furcht. Die Freiheit von der Furcht, unterdrückt zu werden, wenn man seine Meinung sagt, ist ein Wunsch aller Menschen. Aber selbst wenn es diese Freiheit gäbe, so wäre damit noch lange nicht die gleiche Freiheit aller Menschen erreicht. Freie Meinungsäußerung, freie Wahl bedeuten für den noch nicht wirklich Freiheit, der nicht frei ist von Not, von Elend, von Arbeitslosigkeit. Um also wirklich zu entscheiden, wie frei eine Gesellschaft, wie frei bestimmte Klassen oder Schichten in dieser Gesellschaft sind, müssen alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens untersucht, und vor allem die wichtigsten, die gesellschaftlichen Grundlagen erörtert werden, die ein Höchstmaß an Freiheit ermöglichen. Bei dieser Untersuchung wird klar, daß diese letzte Grundlage der gesellschaftlichen Freiheit die ökonomischen Verhältnisse sind. Sie entscheiden im höchsten Maße darüber, wieviel konkrete Freiheit die Masse der Menschen hat.

Nehmen wir den Kapitalismus als Beispiel. Ist die Freiheit des Arbeiters, der sein Leben nur fristen kann, wenn er seine Arbeitskraft an einen Besitzer von Produktionsmitteln verkauf, die gleiche, wie die Freiheit des Produktionsmittelbesitzers, der nicht nur durch die Aneignung des von den Arbeitern erzeugten Überschusses lebt, der nicht nur gegebenenfalls die Arbeiter aussperren oder entlassen kann, sondern in Krisenzeiten in der Regel noch über genügend Reichtum verfügt und folglich sich mit weit weniger Schwierigkeiten und Sorgen über die Runden retten kann?

Oder schauen wir in die Geschichte zurück:

War die Freiheit des römischen oder griechischen Sklaven dieselbe wie die des Sklavenhalters, die des leibeigenen Bauern dieselbe wie die des Grafen oder Barons?

In jeder auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftsordnung gibt es solche Grundklassen wie Sklaven und Sklavenhalter, Feudalherr und leibeigener Bauer, Kapitalist und Arbeiter oder Angestellter. In jeder solchen Gesellschaft ist die Freiheit des Besitzlosen etwas völlig anderes als die Freiheit des Produktionsmittelbesitzers, hat die Freiheit Klassencharakter. Beim Kampf für oder gegen die Ausbeutung der jeweiligen Klasse unmittelbarer Produzenten (der Sklaven, der leibeigenen Bauern, der Arbeiter) steht die arbeitende Klasse gegen die aneignende, ist die Freiheit der einen Klasse nur auf Kosten der Freiheit der anderen Klasse durchzusetzen.

Dabei ist übrigens nicht nur die Freiheit der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen begrenzt, sondern auch die zum Beispiel der Kapitalisten. Hier meinen wir nicht nur jene Freiheitsbegrenzung, die einer gegebenen gesamten Gesellschaft durch den Rahmen ihrer Technik und Wissenschaft gezogen ist, sondern noch eine andere Form von Grenzen. Nehmen wir ein Beispiel:

Jeder Kapitalist ist gezwungen - wenn er im Konkurrenzkampf nicht unterliegen will - nach höchstmöglichem Profit zu streben. Hierbei sind alle Kapitalisten untereinander Konkurrenten. Sie sind bestrebt, ihr Kapital möglichst in solchen Produktionszweigen anzulegen, in denen besonders hohe Profite zu erwarten sind. Aber dieses Einströmen von Kapital in solche Wirtschaftszweige führt mit der Zeit — vor allem darum, weil der Markt infolge der Ausbeutung der Volksmassen begrenzt ist — zu Überkapazitäten, zu schweren Störungen des Wirtschaftslebens, zu Krisen und Massenentlassungen. Weil hier jeder für eigene Zwecke wirtschaftet, setzen sich die wirtschaftlichen Gesetze blindlings, gewaltsam, zerstörerisch, ganz wie die Naturkräfte durch. Es ist hier nicht möglich, daß die Menschen - nicht einmal die Kapitalisten - die materiellen Bedingungen ihres Lebens voll in die Hand bekommen. Hier gibt es keine Kontrolle oder gar Macht der Menschen über die wesentlichen gesellschaftlichen Bedingungen ihres Lebens.

Natürlich ist der Kapitalist im gewissen Ausmaß Herr dieser Bedingungen, kann er innerhalb seiner Fabrik in gewissem Grade schalten und kommandieren, ist er ungleich freier als der Arbeiter. Aber selbst in seiner Fabrik kann er nicht planen, organisieren, kombinieren usw. wie er will. Das Volkswagenwerk mag noch so viel planen, wenn mit dem allgemeinen Markt auch der Automobilmarkt schrumpft, so wirkt das auch in den Bereicht des Volkswagenwerks, also selbst in den Bereich von Großkonzernen, hinein. Im Kapitalismus sind eben die gesamtgesellschaftlichen Faktoren nicht in der Hand der Menschen. Selbst bei „Globalsteuerung", „Regulierung", „Planifikation" usw. können die Großkonzerne.wegen des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln, die wesentlichen Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft nicht voll in die Hand bekommen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist also echte Freiheit nicht nur für den Arbeiter, nicht nur für den abhängig Arbeitenden, sondern sogar, wenn auch auf andere, weit weniger harte Weite, für den Kapitalisten nicht möglich)

6. Kapitalismus als Basis falschen Denkens - ein Grund der Unfreiheit.

Unter solchen kapitalistischen Bedingungen sind die meisten Menschen nicht fähig, die grundlegenden Prozesse ihres eigenen Lebens zu durchschauen und dementsprechend sinnvoll zu handeln, also Freiheit zu gewinnen. Das Problem wird noch dadurch kompliziert: die arbeitenden Volksmassen legen in die Erzeugnisse ihrer eigenen Arbeit ihre Fähigkeiten, ihr Wissen, ihre Eigenschaften, ihr Wesen hinein. Aber diese Dinge gehen in den Besitz der Kapitaleigentümer über, werden den Arbeitern entfremdet. Das, worin sie ihr Wesen verkörperten, tritt ihnen schließlich als fremde, sie beherrschend- Macht gegenüber.

Diese der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen entspringende Tatsache ist es, die der junge Marx unter dem Begriff der Entfremdung kritisierte. Diese Entfremdung bewirkt auch eine Entfremdung im Bewußtsein, eine Verkehrung der wirklichen Verhältnisse: Wie viele Menschen finden zum Beispiel nichts bei der üblichen Verwendung der Begriffe „Arbeitgeber" und „Arbeitnehmer"? Wer ist aber in Wahrheit der Arbeit-, der Brotgeber? Wer ernährt denn in Wahrheit wen? Die Arbeiter den Kapitalisten oder der Kapitalist die Arbeiter? Oder wieviele Menschen schreiben dem Geld eine mythische Kraft zu, mähr Geld zu hecken, sobald man nur genügend davon hat? Oder wer weiß darum, daß Kriege in der Regel handfesten wirtschaftlichen Beweggründen entspringen und keinem Naturgesetz? Auf dem Boden solcher Unkenntnis über die wichtigsten Bedingungen unseres gesellschaftlichen Lebens erwachsen zwangsläufig Gefühle der Ohnmacht, des Irrationalismus, religiöse Stimmungen der Erlösung im Jenseits. Unter solchen Bedingungen wird der Mensch zum Schöpfer eines jenseitigen, göttlichen Wesens, und meint sogar, ein Geschöpf dieses, seines eigenen Produktes, zu sein.

Befreiung von solchen Verhältnissen ist Bedingung für wirkliche Freiheit des Menschen. Aber solche Freiheit erfordert, daß die Menschen die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wirklich in die Hand nehmen. Die wesentlichen Lebensquellen einer Nation müssen aus privatem Eigentum in gesellschaftliches übergeführt werden. Erst damit wird es möglich, die materielle Produktion, die Grundlage unseres gesellschaftlichen Leben zu planen, durchschaubar zu machen, die vielen scheinbaren Schicksalsschläge und Wechselfälle des Lebens, die dem Kapitalismus entspringen, auszumerzen. Erst in einer solchen Ordnung, die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln beruht, tritt die Menschheit in das Reich der Freiheit ein: „Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur werden, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. Diese Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüber standen, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigene Vergesellschaftung des Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigene freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben." (Engels, „Anti-Dühring", S.351).

7. Die Freiheitskämpfe der Vergangenheit waren nicht vergebens!

Das heißt zwar, daß es Freiheit im Sinne der Beherrschung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen erst im Sozialismus und Kommunismus gibt. Aber das heißt nicht, daß die ganze bisherige Geschichte, daß die Freiheitskämpfe vergangener Zeiten, daß die ungeheuren Opfer, die namens der Freiheit, der vorgeblichen oder auch der wirklichen, gebracht worden sind, vergeblich gewesen wären. Eine solche Auffassung wäre unhistorisch und widerspräche zutiefst dem Wesen des Marxismus, der eine durch und durch historische Theorie ist. Auch in der Klassengesellschaft schreiten die Menschen durch alle Opfer und Kämpfe, durch alle Widersprüche hindurch, im Ergebnis ihrer Kämpfe zu größerer, wenn auch immer sehr begrenzter Freiheit.

Es ist eine Tatsache, daß schon der Leibeigene insofern mehr Rechte hatte als der Sklave, daß er nicht mehr einfach verkauft oder getötet werden konnte. Marx schrieb einmal (in seiner Arbeit „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien" Werke Bd. 9, S. 226): Der bürgerliche Fortschritt trinke seinen Nektar aus den Schädeln Erschlagener. Das ist ein zugleich furchtbares und wahres Bild. Und im „Kapital" sprach Marx davon, daß der Kapitalismus "aus allen Poren blut- und schmutztriefend" zur Welt gekommen sei. Dennoch schafft er die materiellen Grundlagen für die künftige, die sozialistische Gesellschaft.

Dieser ganze Prozeß des Fortschreitens zur Freiheit durch Widersprüche und Katastrophen hindurch, er zeigt sich auch darin, daß der Lohnarbeiter frei ist nicht nur im Sinne der Freiheit von Produktionsmitteln, sondern auch von feudalen Fesseln, daß er frei in dem Sinne ist, sich seinen Ausbeuter selbst wählen zu können, daß er sich politische und gewerkschaftliche Rechte erkämpft hat und der Arbeiter, der sie wahrnimmt, abermals freier ist als jener, der sie nicht wahrnimmt — wobei vor allem im Spätkapitalismus diesen Rechten der Arbeiter ständig Gefahr droht. Man denke an den Faschismus, an Griechenland, an die Notstandsgesetze. Es ist also ein ständiger Kampf zur Aufrechterhaltung bereits errungener Freiheiten nötig. Aber zugleich sind diese erkämpften Freiheiten Ausgangspunkte zur Eroberung neuer Freiheiten.

Die Freiheit ist also auf jeder Entwicklungsstufe der Geschichte konkret. Nicht nur, weil eine bestimmte Gesellschaftsordnung durch ihren Besitz an Produktivkräften und Kenntnissen nur ein konkret begrenztes Maß an Freiheit besitzt, sondern weil innerhalb dieser Gesellschaftsordnung auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln Klassen bestehen, die Freiheit Klassencharakter hat, klassenbeschränkt ist. Die Freiheit von Axel Cäsar Springer ist nicht die des Setzers aus dem Hause Springer, die von Herrn Flick nicht die des Drehers aus dem zum Flick-Imperium gehörenden Mercedes-Werk. Freiheit ist hier also abhängig von der Stellung zu den Produktionsmitteln, von der Stellung im Produktionsprozeß und vom Einkommen, das einer erhält. Und dennoch: es findet ein Fortschritt im Bereich der Freiheit statt. Jede frühere Stufe der Freiheit war bei all ihrer Beschränktheit nötig, damit die Menschen sich eine höhere Stufe der Freiheit erringen konnten.

8. Arbeiterbewegung und bürgerliche Demokratie

Eben darum können klassenbewußte, den Sozialismus anstrebende Arbeiter auch kein gleichgültiges oder ein negierendes Verhältnis zur bürgerlichen Freiheit an den Tag legen. Im Gegenteil! Wenn wir die jüngste deutsche Geschichte vor Augen haben: Waren es nicht gerade die deutschen Arbeiter, die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in allen Kämpfen um mehr Freiheit an der Spitze standen, die Hauptlast der Kämpfe trugen? Es bedurfte bekanntlich einer Revolution der Arbeiter (1918/19), um solche Freiheiten wie das allgemeine Wahlrecht, die Einrichtung der Betriebsräte oder den Achtstundentag zu verwirklichen. Der Widerstand der Arbeiterbewegung gegen den Faschismus war der einzige, der vom ersten Tag an auf prinzipielle Weise und organisiert geführt wurde. Wo standen damals einige der heutigen Apostel der Freiheit? Einige, die heute „Ja" sagen zu den Notstandsgesetzen, sagten sie nicht einst „Ja" zu Hitlers Ermächtigungsgesetz? Und wo wären unsere demokratischen Grundrechte, wenn es nicht eine demokratische Opposition gewerkschaftlicher und intellektueller Kreise gäbe?

Die klassenbewußten Arbeiter sind für die Erringung und, wo es sie gibt, für die Verteidigung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten. Sie sind zunächst darum dafür, weil sie ohne solche Freiheiten sich gar nicht organisieren, sich gar nicht wirkungsvoll für die einfachsten politischen und sozialen Forderungen einsetzen können. Sie sind weiterhin für diese Freiheiten, weil der Kampf um die höhere Stufe der Freiheit, den Sozialismus, erst von dieser Grundlage bürgerlicher Freiheiten aus entfaltet werden kann.

Vor allem aber sind sie dafür, zunächst einmal diese bürgerlichen Freiheiten durch gesellschaftspolitische Maßnahmen zu festigen. Denn alles, was sie an konkreter Freiheit heute besitzen, ist begrenzt, bedroht, so lange einige Grundprobleme der Freiheit unserer Zeit nicht gelöst sind.

9. Grundprobleme der Freiheit in der Bundesrepublik

Nach der Verfassung besitzt die Bevölkerung der Bundesrepublik zahlreiche politische Grundfreiheiten: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Wahl, Streikrecht usw. usf. Nach den schrecklichen Erfahrungen, die unser Volk 1933 machen mußte, muß man jedoch fragen, ob und wie diese Grundrechte gesichert sind.

Verfassungsfragen sind nun einmal Machtfragen, und ökonomische Macht ist politische Macht. Es war das Großkapital, das einst die Hitlerpartei finanzierte, als politisches Instrument nutzte, an die Macht schob. Und die damaligen, die alten Besitz- und Machtverhältnisse, sind bei uns längst wiederhergestellt. Darum droht erneut der Demokratie Gefahr, und die Gefahr geht von jenen Kräften aus, die schon einmal eine deutsche Demokratie ihren Macht- und Raubinteressen geopfert haben. Darum heißt konkreter Kampf um die Freiheit heute bei uns in der Bundesrepublik Verteidigung der bestehenden Grundrechte gegen jeden Anschlag, Kampf gegen die Allmacht der Monopole.

Wir dürfen nicht den Blick für die grundlegenden Begrenzungen der Freiheit durch die Macht des Großkapitals verlieren. Die Klasse der Arbeiter und Angestellten bildet mit ihren Familienangehörigen etwa 80 Prozent unserer Bevölkerung. In der entscheidenden Sphäre des Lebens, in der Produktion, sind diese Arbeiter fast völlig unfrei. Die meiste Zeit seines bewußten, seines produktiv-schöpferischen Lebens verbringt der Arbeiter unter solchen Bedingungen der Unfreiheit. Wenn aber die Arbeiter wenigstens mitbestimmen wollen, so entgegnet ihnen der „Industriekurier" mit dem aufschlußreichen Vergleich: Das wäre dasselbe, wie wenn man Zuchthäuser demokratisieren wollte.

Die Entfaltung der Persönlichkeit, ihre Freiheit, hängt primär von der Entfaltung ihrer physischen und geistigen Talente ab. Ihre Fähigkeit, auf das gesellschaftliche Leben einzuwirken, ist davon bestimmt. Aber unter den Bedingungen des Kapitalismus kann der Arbeiter nicht wirklich alle seine Talente und Fähigkeiten frei entfalten. Wie kann man von Freiheit für die arbeitenden Volksschichten sprechen, wenn es hier nach wie vor — nicht juristischfixierte, aber durch wirtschaftliche und ideologische Faktoren bewirkte — Privilegien für die Reichen gibt? Warum besuchen in der Bundesrepublik nur etwa 10 Prozent der Kinder von Industriearbeitern höhere Schulen und nur etwa 5 Prozent die Universitäten und Hochschulen, obwohl die Arbeiterkinder weitaus in der Mehrzahl sind?

In der DDR ist das bekanntlich anders. Aber niemand wird im Ernst den Standpunkt vertreten wollen, daß die Arbeiterkinder bei uns von Natur aus dümmer als dort seien.

Übrigens werden selbst die erwähnten 10 bzw. 5 Prozent von Arbeiterkindern dann noch durch die Bildungsinhalte, die ihnen auf den Schulen vermittelt werden, zu Erfüllungsgehilfen des Kapitalismus herangebildet.

Bildung ist also für die unteren Millionen unseres Landes beschränkt oder eindeutig in bürgerlich-kapitalistische Bahnen kanalisiert. Folglich ist auch ihre gesellschaftliche Einwirkung, ihre Freiheit beschränkt oder nur bürgerlich-kapitalistische Freiheit. Noch so viele schöne Worte über Freiheit können diesen grundlegenden Mangel an Freiheit für die unteren Volksschichten nicht ersetzen.

Hier zeigt sich übrigens, wie „offen" in sozialer Hinsicht unsere Gesellschaftsordnung ist: die wirtschaftlichen, politischen, juristischen, militärischen und anderen Führungskräfte entstammen in ihrer übergroßen Mehrheit den oberen Volksschichten. Man ist und bleibt „unter sich". Das war so, das ist so. Übrigens haben Dahrendorf, Zapf und andere Soziologen mit ihren exakten Analysen der deutschen Oberschicht „hüben" und „drüben" dies sehr wohl für die Bundesrepublik belegt und zugleich gezeigt, daß das in der DDR anders ist.

Für viele Menschen, die noch nicht zum gründlicheren Nachdenken über das Problem der Freiheit vorgedrungen sind, erschöpft sich die ganze Frage in dem Wunsch, eine freie Meinung haben und frei wählen zukönnen. Wie kann man sich jedoch wirklich eine Freie Meinung bilden und frei wählen, wenn man nicht die Möglichkeit hat, über die geschichtlich erhärteten wesentlichen Tatsachen und Wahrheiten sich hinreichend zu unterrichten? Von Kindesbeinen an ist die Masse unserer Bevölkerung durch eine Vielzahl von Kanälen — bis ins Volkssprichwort („Klein, aber mein!"), bis zur täglichen Reklame — dem ständigen Trommelfeuer der Ideologie des Besitzes, des Eigentums ausgesetzt, wird das Bewußtsein der Massen manipuliert. Selbst sogenannte Non-konformisten sind meist nichts anderes als Produkte solcher Manipulation. Vordergründig wählen die Menschen selbst, tatsächlich aber wählen sie, was ihnen die Springer-Presse über Jahr und Tag systematisch in das Bewußtsein träufelt.

Auf den ersten Blick ist in der Bundesrepublik eine Fülle von Literatur der verschiedensten Art zu kaufen. Man kann Marx, Engels, man kann Lenin lesen. Aber die wichtigste Frage lautet: wer beherrscht die entscheidende Meinungsmaschinerie. Werden nicht die Millionen Menschen von vornherein im Sinne der Ideen der herrschenden Klasse so beeinflußt, daß sie gar nicht auf den Gedanken kommen, gar nicht das Verlangen verspüren, Marx, Engels oder Lenin zu lesen? Solches Manipulieren gelingt um so leichter, als die Menschen seit Jahrtausenden unter der Macht des Besitzes leben, sich massenhaft entsprechende Ideen herausgebildet haben, die in das Volksbewußtsein eingedrungen sind — so sehr, daß mancher meint, das sei ein Trieb, ein Instinkt, eine biologische, eine unaufhebbare Natureigenschaft, eine Art zweiter Natur des Menschen. Die Kirchen formulierten das Eigentum als Naturrecht, so daß der Mensch nur durch Besitz oder Streben danach Mensch ist! Wie schwer es angesichts dessen ist, sozialistischen Ideen Anklang zu verschaffen leuchtet sicher ein.

Es gibt eine große Auswahl von Ideen, aber es sind fast alles Ideen des Besitzes. Die Ideen der Massen sind von Kindheit auf so vorgeprägt, daß sie eben von vornherein zwar formal, aber gar nicht real frei sind, andere, etwa sozialistische Ideen zu wählen.

Und trotzdem führt das gesellschaftliche Leben mit seinen Widersprüchen dazu, daß vor allem Arbeiter den phrasenhaften, unwahren Charakter der offiziellen Ideen durchschauen. Auf dieser Grundlage bilden sich Gegentendenzen heraus. Aber wie groß ist der Druck, der einen Arbeiter daran hindert, sich von der Meinung der Herrschenden freizumachen, sich zu sozialistischen Ideen durchzuringen! Hier müssen riesige ideologische und auch nicht wenige materielle Schwierigkeiten überwunden werden. Das fängt schon damit an, daß oft einfache Voraussetzungen zum Verständnis der Fragestellung fehlen. Ist es dann dennoch so weit, so besteht immer noch die Möglichkeit, ökonomisch, politisch oder auf andere Weise dafür gemaßregelt, dem System des Rufmords, der Verleumdung, der Hetze ausgeliefert zu werden.

Bei der Freiheit der Meinungsbildung oder bei der Freiheit der Wahl kommt es also entscheidend darauf an, in weiten Händen die dominierenden Meinungsquellen sind. Wenn Axel Cäsar Springer ein Minister nicht gefällt, so weiß das am nächsten Tag die ganze Welt. Aber wenn der Setzer Franz Schmidt, aus dem Hause Springer, einen anderen Außenminister möchte, so bleibt das seine private, im wesentlichen angehörte Meinung. Wie leicht hat es Springer, seine Meinung zur Meinung anderer werden zu lassen. Wie schwer hat es der Arbeiter, sich durch echte Information wirklich erst eine eigene Meinung zu bilden, geschweige sie zu äußern!

So ist es auch mit der Wahl. Gewiß, die Wahlfreiheit des Herrn Flick und die seines Arbeiters ist gleich. Beide haben nur eine Stimme. Aber Flick wählt auch mit seinen Milliarden. Er wählt mit ihnen schon bevor er zur Wahlurne geht. Ja sogar, wenn er nicht zur Wahl geht. Er wählt über Parteien und Politiker, die er sich „kauft" und durch Massenblätter, die dafür sorgen, daß seine Interessen als Volksinteressen ausgegeben werden, das Bewußtsein breitester Volksschichten trüben!

Daraus ergeben sich einige konkrete Inhalte des Strebens nach Freiheit, die unseren heutigen Bedingungen entsprechen:

  • Verteidigung der bestehenden Grundrechte. Kampf um solche elementaren Freiheiten wie Freiheit von Krieg, Kriegspolitik und Kriegskräften.
  • Verwirklichung größerer demokratischer Freiheiten für das Volk durch
    • a) Beschränkung der freiheitsfeindlichen Konzernallmacht (Notwendigkeit einer „Lex Springer" etc. wegen des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht) und
    • b) Ausweitung des Mitbestimmungsrechts.
  • Schließlich Verwirklichung des Sozialismus als Grundlage wirklicher gesellschaftlicher Freiheit.

Editorische Anmerkung

Marxistische Lehrbriefe, Serie E. Das moderne Weltbild, Nr. 4, Frankfurt a. M.  1968; Herausgeber: August-Bebel-Gesellschaft e. V.

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